Ein großes Werk hatte er schreiben wollen, und groß ist es geworden: "The Dream of Gerontius". Der erhoffte Durchbruch aber war es nicht, zumindest nicht auf Anhieb, und darum für den Komponisten nur ein weiterer schmerzlicher Beweis für die Geringachtung seiner Person und seines Schaffens. Als Jugendlicher hatte er sich zum Ziel gesetzt, dass dereinst auch eine nur mit der Aufschrift "Edward Elgar, England" versehene Postkarte ihn zuverlässig erreichen müsse. Im Jahr 1900 war es noch nicht so weit. Nur seiner Frau zuliebe, heißt es, habe er später den Ehrentitel eines "Sir" nicht abgelehnt. Die Verbitterung blieb. Ein schwieriger Komponist, aber eben auch: ein großer und sein vielleicht größtes Werk - um sie geht es in dieser Sendung im Rahmen unserer Reihe "Die musikalische Quadriga" mit Aufnahmen der vier in der Rundfunk-Orchester und -Chöre GmbH Berlin zusammengeschlossenen Ensembles. Dazu begrüßt Sie am Mikrofon Johannes Jansen.
Als Elgar vor 80 Jahren starb, war sein Name um die Welt gegangen. Bis heute gilt er als Retter der Musiknation, war er es doch, der England von dem schäbigen Etikett befreite, "Das Land ohne Musik" zu sein. Deutsche Autoren hatten es geprägt - besonders einer namens Oscar Adolf Hermann Schmitz -, und der Stachel der Beleidigung saß tief. So tief, dass noch im Jahr 2006 der Publizist und heutige Londoner Bürgermeister Boris Johnson schrieb, England habe sich von dieser teutonischen Spott-Attacke nie wirklich erholt. "Nimm dies - Schmitz!" lautete, sinngemäß, die Überschrift seines Gegenangriffs, und als sei der Name Elgar nicht genug, führt Johnson Englands Pop-Heroen ins Feld und stellt Schmitz vor die fiktive Wahl: Beatles und Stones oder die 99 Luftballons von Nina Hagen? - Was aus deutscher Sicht nun wiederum unverzeihlich ist, denn wer wird denn Nina mit Nena verwechseln?
Ein theologischer Affront
Fragen des Nationalprestiges waren auch im Jahr 1900 bei der Uraufführung von "The Dream of Gerontius" berührt, und sie waren um so ernster, als es dabei auch um religiöse Überzeugungen und eine Auseinandersetzung mit der Staatskirche ging. War es für Elgar schwierig genug, als praktizierender Katholik einer der Church of England immer schon suspekten Minderheit anzugehören, lief er mit seinem "Traum des Gerontius" Gefahr, sich vollends ins Abseits zu manövrieren.
Man kann den Text dieses Oratoriums in seiner Sicht auf die letzten Dinge nicht anders als erzkatholisch nennen, im Mittelpunkt ein Greis (griechisch: gérontos) an der Schwelle des Todes, vor seiner Aufnahme ins Himmelreich; auch das Fegefeuer und der Moment der Läuterung sind Teil des Traums. Schon die gemeinsame Anrufung von Jesus und Maria in der ersten Zeile musste aus protestantisch-anglikanischer Sicht problematisch, wenn nicht als theologischer Affront erscheinen. Auch der wenige Jahre zuvor verstorbene Verfasser des Gedichts war eine Reizfigur: John Henry Newman. Als anglikanischer Priester in jungen Jahren zum Katholizismus übergetreten, sah er sich vielen Anfeindungen ausgesetzt, auch wenn am Ende der Respekt vor dem Seelsorger, Theologen und Schriftsteller überwog und es schon bald nach seinem Tod erste Bestrebungen zur Seligsprechung gab, die dann tatsächlich - 120 Jahre später - durch Papst Benedikt XVI. erfolgte.
Mit Newmans Dichtung war Elgar erstmals bei seiner Hochzeit in Berührung gekommen, als er und seine Frau ein Exemplar von "The Dream of Gerontius" geschenkt bekamen. Als er neun Jahre später einen Kompositionsauftrag für das Festival von Birmingham erhielt und man dort seinen Vorschlag, dass das Werk mit dem Heiligen Augustinus zu tun haben sollte, als "zu kontrovers" abgelehnt hatte, kam "Gerontius" ins Spiel. Es war auch ein Versteckspiel, denn die ersten Skizzen, die er mit seinem Verleger austauschte, behandelten ein "Judas"-Thema, offenbar als Teil eines späteren Werkes über die Zwölf Apostel; im "Gerontius", von dem er vorderhand nur als "das Ding für Birmingham" sprach, tauchen sie dann allerdings in Zusammenhang mit der Figur des Todesengels auf. Erst als er den Vorsitzenden des Festival-Komitees sicher auf seiner Seite wusste und auch eine Zusage seines Verlegers hatte, sprach Elgar offen darüber, Newmans Gedicht - für seine Zwecke allerdings stark eingekürzt - vertonen zu wollen.
Amateurhafte Uraufführung
Im Sommer 1900 waren Komposition und Instrumentation abgeschlossen, aber die Bereitstellung des Aufführungsmaterials zog sich länger hin, sodass trotz des Engagements des berühmten Dirigenten Hans Richter am 3. Oktober in Birmingham eine bestenfalls amateurhafte Aufführung zustande kam, die Elgar aufs Neue verbitterte.
Soviel mag als Einführung in dieses Oratorium, das heute zu den größten des 20. Jahrhunderts gerechnet wird, genügen. Es folgt der etwa vierzigminütige erste Teil. Sie hören eine Aufnahme, die 1998, vier Jahre nach Gründung der Rundfunk-Orchester und -Chöre GmbH entstand, und drei der vier unter ihrem organisatorischen Dach vereinten Ensembles wirken dabei mit: das Deutsche Symphonie-Orchester, der Rundfunkchor Berlin und der RIAS Kammerchor; die Gesangssolisten sind Petra Lang (Mezzosopran), Robert Gambill (Tenor) und Alastair Miles (Bass); es dirigiert Vladimir Ashkenazy, der künstlerische Leiter des DSO von 1989 bis 1998 und seitdem ein immer gern gesehener Gast am Pult des Chefs.
1. Musik: E. Elgar, "The Dream of Gerontius"
Das war der erste Teil des Oratoriums "The Dream of Gerontius" von Edward Elgar in einer Aufnahme aus dem Jahr 1998 mit dem Deutschen Symphonie-Orchester unter der Leitung seines damaligen Chefdirigenten Vladimir Ashkenazy; die Choreinstudierung besorgte Robin Gritton, der Vorgänger von Simon Halsey beim Rundfunkchor Berlin. Vom zweiten Teil hören Sie noch in dieser ersten Stunde unserer Sendung die beiden Abschnitte bis zur ersten Begegnung des Gerontius' (oder vielmehr: dessen Seele) mit dem Engel. Die Solisten sind Petra Lang (Mezzosopran), Robert Gambill (Tenor) und Alastair Miles (Bass).
2. Musik: E. Elgar, "The Dream of Gerontius"
Willkommen zum zweiten Teil unserer Sendung mit Edward Elgars Oratorium "The Dream of Gerontius". Am Mikrofon: Johannes Jansen. Für Vladimir Ashkenazy, den Dirigenten dieser Rundfunkproduktion aus dem Jahr 1998 mit dem Deutschen Symphonie-Orchester, dem Rundfunkchor Berlin und dem RIAS Kammerchor war es eines der letzten großen Werke im Amt des DSO-Chefs. Berlin war die wahrscheinlich wichtigste Station auf dem Weg des Pianisten in eine zweite Weltkarriere als Dirigent. Elgar hat ihn dabei begleitet.
Auslöser einer kleinen Renaissance
Mit "The Dream of Gerontius" hat Ashkenazy in Berlin - darum haben wir diese Aufnahme ausgewählt - eine kleine Renaissance ausgelöst. Seit 1998 jedenfalls steht Elgars Oratorium auch bei anderen Berliner Orchestern und Chören mit einer gewissen Regelmäßigkeit auf dem Programm. Damit knüpft Berlin an eine deutsche Aufführungstradition an, die schon 1901 mit einem umjubelten "Gerontius" in Düsseldorf begonnen und den Komponisten nahezu vollkommen zufriedengestellt hatte, nachdem die Uraufführung in Birmingham aufgrund dilettantischer Vorbereitung in einem Desaster geendet war.
In Düsseldorf wurde "Gerontius" bereits im Mai 1902 wiederholt, mit fast noch größerem Erfolg als beim ersten Mal. In England hingegen waren die Vorbehalte gegen das "katholische" Werk noch immer groß, und Elgar sah sich genötigt, in - vor allem die Namen Maria und Joseph betreffende - Textänderungen einzuwilligen, um weitere Aufführungen überhaupt zu ermöglichen. Vom zweiten Teil des Oratoriums hier nun der große Abschnitt von der Himmelsankunft der Seele des Gerontius' nach seiner ersten Begegnung mit dem Engel bis zum Schluss. Die Solisten sind Petra Lang (Mezzosopran), Robert Gambill (Tenor) und Alastair Miles (Bass).
3. Musik: E. Elgar, "The Dream of Gerontius"
Das war in einer Aufnahme mit dem Deutschen Symphonie-Orchester, dem Rundfunkchor Berlin und dem RIAS Kammerchor unter der Leitung von Vladimir Ashkenazy "The Dream of Gerontius" von Edward Elgar. An der Orgel hörten Sie Arvid Gast; die Gesangssolisten waren Petra Lang (Mezzosopran), Robert Gambill (Tenor) und Alastair Miles (Bass). Im Mittelpunkt der morgigen Ausgabe unserer Reihe "Die musikalische Quadriga" mit Produktionen der vier Klangkörper der Rundfunk-Orchester und -Chöre GmbH Berlin stehen zwei Klavierkonzerte und die Dritte Sinfonie von Alfred Schnittke mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin. Bis dahin verabschiedet sich am Mikrofon und dankt fürs Zuhören Johannes Jansen.