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Musik und Gelassenheit

Musik ist das Leben der Klänge - ohne ein Ziel. Dies ist das Credo des Komponisten der modernen Moderne, John Cage, dessen Geburtstag sich in diesen Tagen zum 100. Mal jährt. Jenes freie Spiel der Klänge beschreibt Michael Schmidt in seinem Essay auch als "Musik der Gelassenheit", in der alles, was sich ergibt, das gleiche Gewicht hat und in der die Unterscheidung zwischen Geräusch und Klang entfällt. Dabei stellt die Stille die wichtigste Quelle dar.

Von Michael Schmidt |
    Der Autor Michael Schmidt ist Musikredakteur beim Klassikportal des Bayerischen Rundfunk.

    Musik und Gelassenheit
    John Cage 100
    Von Michael Schmidt

    "In der Musik sollte es uns genügen, unsere Ohren zu öffnen. Musikalisch gesehen kann alles in unser Ohr eindringen, das für alle Töne offen ist. Nicht nur die Musik, die wir schön finden, sondern auch die Musik, die das Leben selbst ist. Durch die Musik bekommt das Leben eine größere Bedeutung. Man kann aber gut verstehen, dass in einem bestimmten Sinne die Musik aufgegeben werden muss, damit es so ist. Oder zumindest, was wir Musik nennen. Mit der Politik ist es ebenso. Und deshalb spreche ich in der Tat von 'Nicht-Politik', so wie man bei mir von 'Nicht-Musik' spricht. Es ist das gleiche Problem! Wenn wir akzeptieren, all das außer Acht zu lassen, was sich 'Musik' nennt, würde das ganze Leben zu Musik!"

    Für John Cage war das ganze Leben Musik, war jeder Klang oder jedes Geräusch - das Plätschern eines Regengusses, das Rattern einer Maschine oder der Klang einer Violine - gleich interessant. Schon früh begann er, mit verschiedensten Klängen und Geräuschen zu experimentieren. Er präparierte Klaviere mit Schrauben, Radiergummis oder Plastikstücken auf den Saiten und musizierte mit technischen Medien wie Plattenspielern, die er miteinander in verschiedenen Geschwindigkeiten korrespondieren ließ.

    Zugleich interessierte er sich für fernöstliche Musik und Philosophie und beschäftigte sich intensiv mit dem Zen-Buddhismus. Der gerade in der abendländischen Kunstmusik herrschenden Ordnung der Töne und ihrer Fixierung in Kompositionen setzte er eine Ästhetik der Offenheit, Unbestimmtheit und permanenten Veränderung entgegen. Er war auf der Suche nach einer Musik ohne festgelegte oder absichtsvolle Abläufe, Steigerungen oder Höhepunkte, einer Musik jenseits von subjektivem Ausdruck oder objektiven Normen.

    John Cage stellte die abendländische Musiktradition mit ihrer Ziel- und Fortschrittsorientierung konsequent infrage und rief zur hörenden Öffnung für die Vielfalt der Klänge auf. Es ging ihm um ein Freiwerden von jeglicher Willenssetzung, von jeglichem Eingriff, um ein sich Einlassen auf das Klangereignis. Hörend Gehören in das, was sich klingend ereignet, bedeutete für ihn eine sowohl ästhetische als auch ethische Haltung, die weniger politischer als mystischer Natur war. Das Hören von Musik hatte für den Philosophen Vilém Flusser ebenfalls eine mystische Dimension, die er als "Geste des Musikhörens" umschrieb:

    "Musikhören ist eine Geste, in der sich der Körper auf die 'mathesis universalis' einstellt. Er kann dies, weil die akustischen Schwingungen die Körperhaut nicht nur durchdringen, sondern sie dabei zum Mitschwingen bringen. Die Haut, jenes Niemandsland zwischen Mensch und Welt, wird dadurch aus Grenze zu Verbindung. Beim Musikhören fällt die Trennung zwischen Mensch und Welt, der Mensch überwindet seine Haut, oder, umgekehrt, die Haut überwindet ihren Menschen. Die mathematische Schwingung der Haut beim Musikhören, die sich dann auf die Eingeweide, aufs 'Innerste' überträgt, ist 'Ekstase', ist das 'mystische Erlebnis [...] Beim Musikhören findet der Mensch sich selbst, ohne die Welt zu verlieren, und er findet die Welt, ohne sich selbst zu verlieren, indem er sich selbst als Welt und die Welt als sich selbst findet."

    Für John Cage geht es beim Hören in ähnlicher Weise um ein Mitschwingen, um das Hinnehmen von etwas, das sich gibt. Damit ist allerdings keine bloße Unterwerfung, Hörigkeit oder gar Gehorsam gemeint, sondern ähnlich wie in der Philosophie Martin Heideggers ein "Gehören" in etwas, das als Unverfügbares entgegenkommt. Etwas, das über den Hörsinn, der anders als das fixierende Auge ein Umgebungssinn ist, empfangen wird und das an Zeitlichkeit und Ereignishaftigkeit gebunden ist. Von zentraler Bedeutung ist dabei eine Haltung der Gelassenheit, ein Wollen des Nicht-Wollens, ein Begrüßen des Ungewollten. In der Gelassenheit zeigen sich Korrespondenzen zwischen der Ereigniskunst John Cages und dem Ereignisdenken Heideggers, auf die auch der Philosoph Dieter Mersch hinweist:

    "Zwar fehlt der Kunst Cages jedes düstere Pathos - sie entbehrt der existenziellen Tiefgründigkeit, der Emphase einer Kritik der Metaphysik; vielmehr spielt sie in der heiteren Gewährung dessen, was der Zu-Fall bringt oder ankommen lässt: Gewährung als Lust einer Hingabe, die nichts begehrt oder zurück weist, die 'sein-lässt'. Und doch wohnen beide, die Ästhetik Cages und die Philosophie Heideggers, in enger Nachbarschaft, insofern dort die Indifferenz von Ton und Stille den Klang als das Andere des Nichts ereignen lässt, wie es hier gleichfalls um die Entgegennahme eines Anderen, Begegnenden geht, dem es 'sinnend' zu 'ent-sprechen' gilt. Die Verwandtschaft ist struktureller Art, nicht inhaltlicher: Sowenig wie es Cage um das Ereignis der Wahrheit (aletheia) als Sprache geht, sowenig beschränkt sich Heidegger aufs sinnliche Erlebnis, aufs Aisthetische. Doch exponieren beide die 'Stille', das 'Nichts' als die maßgebende Quelle des Ereignens, als den unverwechselbaren Augen-Blick einer Singularität, einer Nichtwiederholbarkeit."

    Cages legendäres Stück "4'33''" ist ein Konzeptstück, das aus Stille besteht und das nicht mehr und nicht weniger will, als einen Zeithorizont zu öffnen. In "4'33''" wird kein Klang absichtlich erzeugt, sondern der oder die Musiker sollen die Bühne betreten und diese exakt nach 4 Minuten und 33 Sekunden wieder verlassen, ohne auf ihren Instrumenten gespielt zu haben. Das Stück besteht aus den absichtslosen Klängen oder Geräuschen in diesem Zeitraum: dem Quietschen einer Tür, dem Hüsteln eines Zuhörers oder dem Geräusch einer vorbeifahrenden Straßenbahn.

    Resultat ist eine gelassene Musik im buchstäblichen Sinn, die alles, was sich ereignet, sein lässt. Eine Musik, in der alles was sich ergibt, das gleiche Gewicht hat. In der die Unterscheidung zwischen Geräusch und Klang, Klang und Ton, Musik und Stille, Sein und Nichts ihre Bedeutung verliert. Die Stille war eine zentrale Inspiration für John Cage. Der Musiker und Philosoph Daniel Charles sieht in der Stille gar die wichtigste Quelle von Musik überhaupt:

    "Überall, wo der Mensch Musik macht, begegnet er der Vorbedingung der Stille im Cage'schen und Heidegger'schen Verständnis des Bestandes, nämlich der Erscheinung, der Enthüllung hervorquellender Töne, und nicht nur der Töne, sondern auch - gewollter oder ungewollter - Geräusche. Und dabei wird so etwas wie ein musikalisches Werk erst möglich, wenn es von einer solchen Enthüllung ausgeht, nicht von der Beschlagnahme der 'klingenden Objekte' durch das Subjekt. Die Lehre der Stille besagt, dass die Handlung, durch die der Mensch das Werk schafft, über den Menschen hinausragt, ihn überragt. Diese Lage verbietet keineswegs, dass etwas ins Werk gesetzt wird, im Gegenteil, sie verleiht der Musik ihren Schwung. Sie bedeutet nicht das Ende des Werkes, ebenso wenig wie den 'Tod der Kunst' im Hegel'schen Sinne, sondern das Erschließen unserer Quellen an genau der Stelle, an der das Werk erneut hervorsprudeln kann."

    In der Tradition der abendländischen Kunstmusik hat die Stille bestimmte ästhetische Funktionen, sie begegnet der polnischen Musikologin Zofia Lissa zufolge "vor, nach und zwischen den Teilen des Werks sowie als Pause im Gewebe des musikalischen Werks selbst." Vor dem Erklingen eines herkömmlichen Musikwerks ist die Stille geprägt von der Erwartung bestimmter musikalischer Vorstellungen, nach dem Verklingen von der Gestaltung eines Bildes seiner Ganzheit. Zwischen den Teilen des Werks verbindet sie die mit dem vergangenen Teil verbundenen Vorstellungen und Gefühle mit den Erwartungen auf das Kommende.

    Für John Cage reicht die Bedeutung der Stille für die Musik dagegen weit über ihre ästhetischen Funktionen in Musikwerken hinaus: alles Erklingende, auch das gänzlich unerwartete, kommt für ihn ereignishaft aus dieser Quelle und kehrt wieder in sie zurück. Für Martin Heidegger ist die Stille ebenfalls eine Quelle, aus der sich ein "Läuten" ereignet. Und die Sprache spricht als das "Geläut der Stille":

    "Die Sprache spricht als das Geläut der Stille [...] Das hörend-entnehmende Sprechen ist ein Ent-sprechen [...] Jedes echte Hören hält mit dem eigenen Sagen an sich. Denn das Hören hält sich in das Gehören zurück, durch das es dem Geläut der Stille vereignet bleibt [...] Das Zurückhalten aber muß darauf achten, dem Geläut der Stille nicht nur erst nach-, sondern ihm sogar vor-zu-hören und darin seinem Geheiß gleichsam zuvorzukommen [...] Die Sprache spricht. Der Mensch spricht, insofern er der Sprache entspricht. Das Entsprechen ist Hören. Es hört, insofern es dem Geheiß der Stille gehört."

    Können wir dieses "Geläut der Stille", von dem Martin Heidegger spricht, in unserer Zeit überhaupt noch hören? Verstopft der Lärm von Maschinen oder auch die allgegenwärtige Musikberieselung in Kaufhäusern, Bahnhöfen und Restaurants nicht unsere Ohren? Für John Cage kann jedes Geräusch interessant sein, je nachdem wie wir es hören. Aber sind wir noch zur gelassenen Wahrnehmung der Welt als Klang in der Lage? Haben wir die Rose im unendlichen Schneefeld der Stille, der die Musik zu Zeiten Bachs nach einem Satz des Schriftstellers Milan Kundera glich, nicht durch unseren Lärm zertrampelt ?

    Das Wort "Lärm" ist vom italienischen "all'arme" - "zu den Waffen" - abgeleitet und tatsächlich befinden wir uns heutzutage in einer permanenten Mobilmachung des Lärms gegen die Stille wie gegen das Hören. Diesem Lärm sollten wir nach Ansicht des Philosophen Peter Sloterdijk eine verstärkte Kultivierung der Wahrnehmung, also auch des Hörens entgegensetzen. Ganz im Sinne der gelassenen Musik von John Cage plädiert er für eine ästhetische Theorie des Seinlassens:

    "Ihr Hauptbegriff kann nicht mehr Kreativität, sondern muss Wahrnehmung lauten. Dabei zerfällt der Mythos der Kreativität in die sensiblen Schalen und den brutalen Kern - den Wutkern des nihilistischen Angriffs, der in allen Mobilisierungsgewalten gärt. Erst nachdem der Kreativismus gestürzt ist, kann die ästhetische Theorie werden, was sie in der werkwütigen Moderne nicht sein durfte: Schule der Wahrnehmung, Lehre von Abrüstung, Anleitung zum Allgemeinen Komponieren, Kunst des Umgangs mit Kunst, Technik der Entbrutalisierung der Technik, ästhetische Ökonomie, Logik der Schonung, Wissenschaft vom Unterlassen."

    John Cage antwortete dem Kreieren und Fixieren von Musik mit einer Haltung der Gelassenheit für das ereignishafte Auf- und Untergehen der Klänge. Mit dieser Haltung stand er allerdings in einem Spannungsverhältnis zur musikalischen Moderne des 20. Jahrhunderts, die der Philosoph Theodor W. Adorno dogmatisch eingeschworen hatte:

    "Die Unmenschlichkeit der Kunst muss die der Welt überbieten um des Menschlichen willen [...] Die Schocks des Unverständlichen, welche die künstlerische Technik im Zeitalter ihrer Sinnlosigkeit austeilt, schlagen um. Sie erhellen die sinnlose Welt. Dem opfert sich die neue Musik. Alle Dunkelheit und Schuld der Welt hat sie auf sich genommen. All ihr Glück hat sie daran, das Unglück zu erkennen; all ihre Schönheit, dem Schein des Schönen sich zu versagen".

    In seiner 1949 publizierten Philosophie der Neuen Musik spricht Adorno nur solcher Musik ästhetische und geschichtliche Wahrheit zu, welche die gesellschaftlichen Antagonismen nicht verschleiert, welche nicht falsche Harmonie vortäuscht, sondern die Negativität des Zustands zum Ausdruck bringt. Wahre Musik lässt sich nicht in den Dienst der Betäubung der Massen nehmen, so wie die Produkte der Unterhaltungsindustrie. Mit ihrem Unzugänglichen, Zerstückelten oder gar Schockierenden enthält sie sich aller Beschönigungen und wird so zum letzten Refugium einer unverstellten Wahrheit.

    Adornos Philosophie der Neuen Musik trägt zudem auch deutlich bildungsbürgerlich-konservative Züge. Sie hält am subjektzentrierten Begriff des "integralen Kunstwerks" ebenso fest, wie an der strikten Unterscheidung zwischen "großer Kunst" und "Kulturindustrie". Gegenüber dieser ästhetischen und ethischen Festlegung von Musik gibt der Musikwissenschaftler Hans Heinrich Eggebrecht in seiner Studie "Die Musik und das Schöne" eine offenere Definition von Musik als Spiel, die sich besser auf die künstlerischen Intentionen von John Cage übertragen lässt:

    "Jede Musik [...] ist in ihrer Wesenheit ein Spiel, ein Spiel mit Tönen, das zugleich ein Spiel mit der Zeit ist. Auch wo Musik sich auf das Unschöne einlässt, das Hässliche, Mord und Totschlag, ist sie ein Spiel. Und Spielen ist schön. Musik [...] ist schön, weil sie spielt, und alle ihre Inhaltlichkeit, auch das Unschöne und Hässliche als Spiel erscheinen lässt und im Akt der ästhetischen Identifikation und mit all unserem Leben, auch mit unserem Bewusstsein und Empfinden des Unschönen und Hässlichen zu Mitspielern ihres Spiels macht [...] Zwar kann das musikalische Ton- und Zeitspiel als Form betrachtet und, zwar nicht in seiner konkreten Totalität, aber doch in seinen Grundzügen von Fall zu Fall beschrieben werden. Das Spiel ist jedoch kein Form-, sondern ein Aktionsbegriff: Es ist nur da, wenn das Spiel geschieht, das heißt, wenn es als Spiel gespielt wird."

    Die gelassene Musik von John Cage geht noch weiter als das Spiel komponierter Musik. Sie ist ein freies Spiel der Klänge mit wie ziehende Wolken sich wandelnden Aggregatzuständen. Eine Musik, in der es mehr um Öffnung als um Fokussierung geht, mehr um den Prozess als um das Resultat. In seinem 1979 produzierten Hörstück "Roaratorio" über den Roman "Finnegans Wake" von James Joyce verband Cage seine Erfahrungen mit Musik und Poesie, Lautdichtung und Tonbandmontage sowie seine Eingebundenheit in den Zen-Buddhismus zu einem Klangspiel aus Naturlaut, Umweltklang, Geräusch, Gesang und Musik.

    Von John Cage selber vorgetragene Zitate aus "Finnegans Wake" sowie der ständig wiederkehrende Name des Dichters James Joyce bilden die hauptsächlichen verbalen Elemente der Komposition. Hinzu kommen durch Zufallsoperationen kombinierte Geräuschaufnahmen der in "Finnegans Wake" erwähnten Örtlichkeiten in Irland. Ergänzt wird die Collage noch durch ebenfalls in Irland aufgenommene Gesänge und Instrumentalmusiken.

    Mit solchen medial-collagierenden und zugleich aleatorischen Verfahren wie in John Cages Hörspiel "Roaratorio", löst sich die Bedeutung von Identität und Authentizität auf. Der Ich-Zentrierung, Intentionalität und Hierarchisierung des abendländischen Musikschaffens, dem Ordnen, Planen, Kontrollieren und Unterwerfen setzte Cage ein totales Seinlassen des Klingenden entgegen. Er vermied jeden Eingriff und komponierte nach Zufallsoperationen, die zum Beispiel dem chinesischen Orakelbuch "I Ging" entnommen waren oder den bloßen Unebenheiten eines Papiers folgten. Immer wieder öffnete er sich hörend für die Vielfalt der Klänge und Erscheinungen:

    "Ich versuchte die Töne dahin gehen zu lassen, wohin sie wollten, und sie das sein zu lassen, was sie sind. Das führte mich zu einer Kontinuität, aber einer Kontinuität, die nicht mehr versucht einen Höhepunkt zu erreichen [...] Mir scheint, dass die Musik - so wie ich es zumindest betrachte - nichts aufdrängt. Sie kann unsere Betrachtungsweise wirkungsvoll ändern, indem sie bewirkt, alles um uns herum als Kunst zu sehen. Aber das ist nicht das Ziel. Klänge haben kein Ziel! Sie sind, und mehr nicht. Sie leben. Musik ist das Leben der Klänge, diese Partizipation der Klänge am Leben, was sich, unfreiwilligerweise, zu einer Partizipation des Lebens an den Klängen entwickeln kann. Die Musik allein verpflichtet uns zu nichts [...] Ich nehme einfach nur wahr, was passiert. Ich habe gewöhnlich von einer 'Kontinuität der Diskontinuität' gesprochen. Ich wollte den melodischen Aspekt vermeiden, denn sobald es eine Melodie gibt, gibt es einen Willen und Wunsch, die Klänge dem Willen gefügig zu machen. Ich lehne jedoch die Melodie nicht ab. Ich lehne sie sogar weniger ab, wenn sie sich selbst produziert. Sie darf aber nicht mit einer Zwanghaftigkeit eingeleitet werden. Ich möchte nicht die Klänge zwingen, mir zu folgen."

    John Cages "Music of Changes" aus dem Jahr 1951, die schon mit ihrem Titel auf das chinesische Orakelbuch "I Ging", das "Buch der Wandlungen" verweist, kann als das erste Werk in der abendländischen Musikgeschichte gelten, dessen Gestalt ausschließlich Resultat von Zufallsoperationen ist. Ihre Präsentation bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik, die zu dieser Zeit vom Serialismus besonders der Schönberg-Tradition dominiert waren, löste zunächst Unverständnis und Ablehnung aus.

    Verweigerte Cage mit diesem Werk doch gerade jede Konstruktion, Methode, Ordnung oder Intention. Seine durch Zufälle generierte Musik des ständigen Wandels stand im Widerspruch zu subjektivem Ausdruck oder objektiver Bedeutung. Cage bestimmte beispielsweise Tonhöhen oder Zeitmaße durch Würfeln oder das Werfen von Stäbchen. Durch eine immer freier werdende Notation, die auch auf Takte verzichtete und allenfalls Gesamtdauern festlegte, band er den Interpreten stärker als jemals zuvor als Mit-Schöpfer ein, in ein gelassenes Spiel nicht nur der Klänge, sondern auch der Zeit, was der Philosoph Gilles Deleuze als "nicht-pulsierte Zeit" beschrieb:

    "Nicht pulsierte Zeit, das ist durch und durch musikalisch, aber es ist auch etwas anderes. Die Frage wäre, worin diese nicht pulsierte Zeit genau besteht. Diese Art von flottierender Zeit, die ein wenig dem entspricht, was Proust 'ein wenig Zeit im Reinzustand' nannte. Das Offenkundigste, Unmittelbarste ist, dass eine solche sogenannte nicht pulsierte Zeit eine Dauer ist, sie ist eine vom Takt befreite Zeit, sei der Takt nun regelmäßig oder unregelmäßig, einfach oder komplex. Eine nicht pulsierte Zeit stellt uns zunächst und vor allem vor eine Mannigfaltigkeit heterochroner, qualitativer, nicht koinzidierender, nicht kommunikativer Dauern [...] Das Material ist dazu da, eine Kraft hörbar zu machen, die durch sich selbst nicht hörbar wäre, nämlich die Zeit, Dauer und sogar Intensität."

    Mit Blick auf John Cage stellen die Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari der traditionellen abendländischen Konzeption von Musik als einem organischen System ihre Idee von Musik als einem organlosen Körper gegenüber, der nicht durch eine hierarchische Struktur von Funktionen und Verbindungen geprägt ist, sondern durch eine Kontraktion von Kräften und Flüssen:

    "Manche modernen Musiker stellen dem transzendenten Organisationsplan, der die ganze klassische Musik des Abendlandes beherrscht haben soll, eine immanente klangliche Ebene gegenüber, die immer mit dem gegeben ist, was sie ergibt [...] John Cage hat als Erster diese feste klangliche Ebene am vollkommensten entwickelt, die einen Prozess gegenüber jeder Struktur und Genese hervorhebt, eine schwimmende, fließende Zeit gegenüber der pulsierenden Zeit oder dem Tempo, das Experimentieren gegenüber jedem Interpretieren, und bei der die Stille als Klangpause auch den absoluten Bewegungszustand kennzeichnet."

    Der fließende Zeithorizont von Cages gelassener Musik zieht auch die Auflösung der Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eine ständige Simultaneität nach sich. Für Martin Heidegger ist die Präsenz des Zugleich das Wesen von Zeit überhaupt:

    "Die Zeit zeitigt. Zeitigen heißt: reifen, aufgehen lassen [...] Was zeitigt die Zeit? Antwort: das Gleich-Zeitige, d. h. das auf dieselbe einige Weise in ihr Aufgehende [...] Das Gleichzeitige der Zeit sind: Die Gewesenheit, die Anwesenheit und die Gegen-Wart, die uns entgegenwartet und sonst die Zukunft heißt. Zeitigend entrückt uns die Zeit zumal in ihr dreifältig Gleich-Zeitiges, entrückt dahin, indem sie uns das dabei Sichöffnende des Gleich-Zeitigen, die Einigkeit von Gewesen, Anwesen, Gegen-Wart zubringt. Entrückend-zubringend be-wegt sie das, was das Gleich-Zeitige ihr einräumt: den Zeit-Raum. Die Zeit selbst im Ganzen ihres Wesens bewegt sich nicht, ruht still."

    Auf dieses Verständnis von Gleichzeitigkeit des Philosophen Martin Heidegger beruft sich Daniel Charles, wenn er die besondere Bedeutung eines nicht-linearen, gelassenen Zeitbegriffs für die Musik von John Cage betont:

    "Wenn man diese Passage aber nach Cages Art lesen und auf der Beziehung zwischen Zeit und Stille beharren würde, müsste man nicht nur über die 'Ruhe' oder die Stille reflektieren, welche das Wesen der Zeit charakterisiert - die Dreiheit der 'Ekstasen' der Zeit nach Heidegger -, sondern auch über die distentio animi nach Augustinus, die bekanntlich dem Heidegger'schen Zeitbegriff zugrunde liegt, und von dort aus über die 'Gleichmut', die Heidegger'sche Ausgeglichenheit der Seele, die nur ein anderes Wort für die Heiterkeit oder Gelassenheit ist [...] Cage verwirft, wie er selbst eingesteht, jede Mutmaßung eines 'Irrtums', was die Existenz der Klangfülle angeht, sofern der Musiker sie 'das sein lässt, was sie ist' - entsprechend dem Seinlassen , welches der Gelassenheit eigen ist."

    Für die Musik von John Cage ist eine Haltung charakteristisch, die mit Martin Heideggers Verständnis von Gelassenheit korrespondiert. Ihre gemeinsame Quelle ist die Stille. Cages Musik kommt aus der Stille und versagt sich weder der Konsonanz noch der Dissonanz. Etwas ergibt sich, ereignet sich, ohne dass es gewollt, kontrolliert oder konserviert wurde: Geräusche von Maschinen, das Zwitschern von Vögeln ein Durcheinander von Stimmen oder Musikfetzen aus Radios - das ganze Leben ist für Cage Musik.

    Für das Hören bedeutet dies einen Wechsel vom Hin- oder Weghören, zu einer frei schwebenden, nicht-intentionalen, nicht-interpretierenden Wahrnehmung des Klingenden. Der abendländischen Tradition einer Opusmusik, in der es ein Werk, einen Autor, einen Interpreten, ein Publikum - in der es klare Rollenverteilungen und Identitäten gibt, setzte Cage eine Art "Nicht-Musik" entgegen. Es ging ihm um ein Sich-ereignen-lassen von etwas Klingendem, das nichts darstellt oder bedeutet, sondern immer mit dem übereinstimmt, was es ist. Um eine Ethik und Ästhetik der Musik, die Türen öffnet in das Klangereignis des Lebens.
    John Cage, amerikanischer Komponist, Schrifsteller und Philosoph, 1979
    John Cage (AP)
    Die Cage-Orgel in St. Burchardi zu Halberstadt. Kleine Gewichte hängen an den Tasten, um die Töne zu halten.
    Die Cage-Orgel in St. Burchardi zu Halberstadt. Kleine Gewichte hängen an den Tasten, um die Noten zu halten. (AP-Archiv)