Archiv

Musik und Heimat
"Das Schicksal der alten Heimat bewegt immer weiter"

Der Pianist und Dirigent Lars Vogt hat das Thema Heimat zum Schwerpunkt seines Festivals "Spannungen" gemacht. In der Flüchtlingskrise sei es die Aufgabe von Musik und Kunst, die menschliche Perspektive zu wahren, sagte Vogt im DLF. Auch für Komponisten wie Bartók oder Korngold sei es nicht leicht gewesen, sich in ihrer neuen Heimat zurechtzufinden.

Lars Vogt im Gespräch mit Maja Ellmenreich |
    Flüchtlinge laufen am 03.10.2015 nach ihrer Ankunft über den Bahnsteig am Bahnhof in Schönefeld (Brandenburg).
    Flüchtlinge bei ihrer Ankunft am Bahnhof in Schönefeld (Brandenburg) (picture alliance / dpa / Patrick Pleul)
    Maja Ellmenreich: Landauf, landab wird an diesem Wochenende Musik gemacht – und zwar mehr als sonst an einem gewöhnlichen Sommerwochenende in Deutschland. Denn es ist "Tag der Musik" – zum achten Mal veranstaltet der Deutsche Musikrat solch ein Wochenende, um – wie es offiziell heißt – gemeinsam ein Zeichen zu setzen für den Schutz und die Förderung der Kulturellen Vielfalt in Deutschland.
    Das Motto in diesem Jahr – aus aktuellem Anlass: "Willkommen in Deutschland – Musik macht Heimat".
    Ob sie das wirklich macht? Und wie sie das macht? Über die Kraft, um es mal pathetisch zu formulieren, über die Kraft der Musik möchte ich jetzt mit dem Pianisten und Dirigenten, mit dem Festivalleiter und Klavierprofessor Lars Vogt sprechen. Herr Vogt, können Sie für sich diesen Satz unterschreiben: "Musik macht Heimat"?
    Lars Vogt: Ja, absolut - das würde ich auf jeden Fall so sehen -, oder kann es machen! Sie ist immer, glaube ich, eine Einladung zum Verstehen auch gerade anderer Kulturen und auch zum willkommen heißen in dem Sinne. Indem ich mich auch für die Musik anderer Kulturen interessiere, interessiere ich mich gleichzeitig für die Menschen, und so wie Sprache einen Raum in andere Kulturen und in andere Denkweisen, Fühlweisen öffnet, so kann das Musik auch.
    Ellmenreich: Es gibt ja diese Sprüche "Musik ist die Sprache der Welt" oder auch "Musik ist die Sprache jenseits der Sprachen". Kommt man beim Musizieren manchmal auch ganz ohne Sprache aus, oder gelingt das nur in den seltenen Sternstunden, in denen man sich wirklich ohne Worte versteht?
    "In der Musik passieren die entscheidenden Dinge nonverbal"
    Vogt: Nein, bei Musik sind die entscheidenden Dinge nonverbal, weil sie verbal gar nicht zu fassen sind. Natürlich tauscht man sich in Proben und so dann auch aus und dann kommt es auch immer zwischen Musikern auf Offenheit an, auf Verstehen, wo kommt der andere her, warum empfindet er wie er empfindet. Aber die entscheidenden Dinge passieren sowohl in Proben wie natürlich sowieso im Konzert dann nonverbal. Das sind die ganz magischen Dinge, wo es dann plötzlich mal knistert, schwingt, auch mal ein Konflikt entsteht und sich etwas aufheizt oder man gemeinsam Innigkeit empfindet. Das sind natürlich ganz, ganz, ganz tolle Dinge zwischen Menschen, die wirklich aus allen Kulturen kommen können.
    Ellmenreich: Wenn Sie Musik machen, dann sitzen Sie an einem Flügel, egal ob der jetzt in Tokio steht oder in New York, ob der in Berlin oder in London steht. Gibt dieses Sitzen am Flügel, gibt Ihnen das ein Gefühl von Heimat, egal wo Sie jetzt gerade sitzen?
    Vogt: Absolut. Wenn ich dann meinen Bach, meinen Beethoven, meinen Brahms mithabe und mich an das Instrument setze, wieder neu beginne zu suchen - wie jeden Morgen beginnt das Suchen wieder neu, das ist das dauernde Leben des Künstlers. Das geschieht aber mit diesem Instrument, was ich so sehr liebe, oder mit einem Orchester, das mir gegenübertritt, mit einer gewissen Hoffnung, mit einer gewissen Erwartungshaltung. Schon allein das gibt mir eine gewisse Heimat - absolut!
    Ellmenreich: Sind es die Menschen, oder ist es die Musik, die das Gefühl von Heimat vermitteln?
    Vogt: Natürlich ist es so, wenn man dann Musiker über viele Jahre kennt und man trifft sich weiß Gott wo. Beispielsweise mit dem Geiger Christian Tetzlaff habe ich so ein enges Duo seit vielen Jahren und mit seiner Schwester Tanja spielen wir zusammen im Trio. Eigentlich jedes Jahr machen wir mindestens eine Tour, auch in den USA oder Japan oder sonst wo. Und dann ist man einfach zuhause, wenn man sich sieht, und dann ist das auch Familie. Das ist ja wieder auch so ein anderer Begriff, den man unterschiedlich definieren kann. Man kann ihn wirklich nur über die enge Familienzusammengehörigkeit definieren, aber eigentlich finde ich mehr und mehr, man macht sich seine Familie doch auch selbst, die Menschen, die einem ganz, ganz besonders nahe sind.
    Ellmenreich: Ihre Familie, die trifft jetzt in diesen Tagen in dem kleinen Eifelörtchen Heimbach zusammen, denn pünktlich zum "Tag der Musik" beginnt in der Eifel das Kammermusikfest "Spannungen", das Sie ins Leben gerufen haben. Eine gute Woche lang treffen da unter Ihrer Leitung Musiker aus aller Welt zusammen, auch die, die Sie gerade schon genannt haben, die Geschwister Tetzlaff, um gemeinsam zu musizieren und zu konzertieren. Und die aktuelle Flüchtlingssituation, die hat auch Sie dazu veranlasst, den Festival-Schwerpunkt in diesem Jahr Musikern zu widmen, die gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen. Sie spielen Kompositionen, die unter dem Einfluss von Vertreibung, von Flucht, von Emigration entstanden sind. An welche Musiker-Schicksale wollen Sie erinnern?
    "Das Thema Flucht und Vertreibung beschäftigt uns sehr"
    Vogt: In den Gesprächen mit den Musikern kommt das Thema natürlich immer wieder vor und es beschäftigt uns so sehr. Ich habe auch den Einführungstext in Heimbach begonnen mit den Worten: "Wir sind betroffen von diesem Schicksal der Flüchtlinge. Das bewegt uns." Insofern hat uns das jetzt auch in Heimbach speziell mal interessiert zu schauen, was entstehen da für Kompositionen von Komponisten, die fliehen müssen, die in völlig neuen Umständen sich zurechtfinden müssen, die irgendwo auch den Aufbruch wagen, und das ist der zweite Teil unseres Themas, dass Aufbruch auch dazu gehört, auch mit all seinen Chancen, wie Komponisten in völlig neue Etappen ihres Schaffens zum Beispiel starten.
    Ellmenreich: Die Art der Verarbeitung ist ganz unterschiedlich, wahrscheinlich so unterschiedlich wie die Fluchtschicksale an sich? Der eine geht ganz offensiv damit um. Hans Eisler hat zum Beispiel die Exilkantaten geschrieben. Andere begründen vielleicht auch musikalisch einen Neuanfang?
    Vogt: Ja. Ich glaube, eine gewisse Identität bleibt auf jeden Fall immer. Aber es ist natürlich für einen Arnold Schönberg, den sich in Kalifornien ausgerechnet vorzustellen, schon ein ziemlicher Schritt. Korngold hat das sicherlich dann auch offensiver gemacht, ist ja dann auch ein ganz fantastischer Filmkomponist gewesen, und hat sich dann vielleicht mehr färben lassen dann von dem neuen Heimatland. Für Bartók sicherlich auch nicht so ganz einfach, in den USA sich zurechtzufinden. Das Schicksal der alten Heimat bewegt immer weiter. Man verfolgt, was in der alten Heimat los ist. Gerade wenn doch große Teile des Werdungsprozesses des Komponisten schon gewesen sind, wird das natürlich nicht von heute auf morgen abgestreift, und das kann auch in der neuen Heimat dann erst mal schwer sein.
    Ellmenreich: Dass Sie jetzt dieses Thema zum Schwerpunktthema in dem Festival "Spannungen" auserkoren haben, ist das Ihre Art und Weise, wie soll ich sagen, Solidarität mit denen zum Ausdruck zu bringen, die in unserer Zeit ihre Heimat verlassen mussten? Ist das das Mittel, das der Musiker hat, um sich politisch zu Wort zu melden?
    "Unsere Aufgabe als Künstler ist, dass wir immer aus der menschlichen Perspektive kommen"
    Vogt: Es ist natürlich immer begrenzt, was wir auslösen können. Aber ich glaube, gerade in unserer Zeit brauchen wir jeden, der irgendwie die Stimme erhebt und sagt, es geht ja jetzt gar nicht um die politische Diskussion, wie viele Flüchtlinge können wir aufnehmen, oder ob das irgendwie Grenzen hat, oder wie auch immer. Es geht zunächst mal um die menschliche Perspektive. Menschen verlieren ihre Heimat, sind heimatlos aufgrund von wirklichen Schicksalsschlägen. Niemand macht sich freiwillig auf eine solch beschwerliche, gefährliche Reise, bei der so viele Menschen sogar ums Leben kommen. Es sind extreme Notlagen und dass wir zunächst einmal die menschliche Perspektive wahren, und dass ist unsere Aufgabe natürlich als Künstler, dass wir immer aus der menschlichen Perspektive kommen.
    Ellmenreich: Eine ganz andere Art der Heimatlosigkeit, überhaupt nicht zu vergleichen natürlich mit der, die ein Flüchtling erlebt, der aus Syrien zum Beispiel nach Deutschland kommt, eine ganz andere Art der Heimatlosigkeit erleben Sie als Musiker ja heute auch. Sie zum Beispiel, Lars Vogt, Sie haben eine Klavierprofessur in Hannover, Sie sind Music Director, Dirigent der Royal Northern Sinfonia im englischen Newcastle, Sie konzertieren auf der ganzen Welt. So etwas wie ein bürgerliches Zuhause gibt es für Sie eigentlich nicht, oder?
    Vogt: Den Rückzugsort muss es natürlich schon auch geben, aber das findet tatsächlich bis zu drei Viertel des Jahres bei mir in Hotelzimmern statt, von der Übernachtung her betrachtet. Aber natürlich muss man auch damit leben lernen. Auch da muss man sich immer wieder versuchen, Heimat zu bilden, und das kann auf verschiedene Weise erfolgen.
    Ellmenreich: Zum Beispiel?
    Vogt: Letztlich über Musik und Menschen, Freundschaften und Kontakte, die man hält, eine Beziehung, die auch zum Beispiel hält über längere Distanz, bei der man auch eine Innigkeit sich bewahrt im Austausch, auch wenn man nicht zusammen ist - überhaupt nicht einfach. Und natürlich die Freude, wenn man dann vor dem langsamen Mozart-Satz sitzt und einem das Herz wieder aufgeht, egal ob das in Los Angeles ist oder in Melbourne oder in Tokio oder weiß Gott wo.
    Ellmenreich: Wenn Sie auf Musikerkollegen treffen wie jetzt zum Beispiel bei dem Kammermusikfest "Spannungen", also auf Musikerkollegen, die auf dem gleichen, extrem hohen Niveau spielen wie Sie, aber aus einem ganz anderen Teil der Erde kommen, spielt das überhaupt noch eine Rolle, wo jemand herkommt? Ist die Nationalität überhaupt noch von Bedeutung in diesem internationalen Musikgeschäft?
    "Tollste Musiker, die nicht aus den Kulturkreisen stammen der Musik, die sie spielen"
    Vogt: Nicht wirklich. Es ist kulturelle Einfühlung erforderlich. Wir müssen uns einfach in die Welt von Johannes Brahms oder von Ligeti oder von wem auch immer einfühlen können, in diese Stilistik. Es hat natürlich keinen Sinn, wenn ich einen Bach so spiele wie einen Bartók oder wie eine Filmmusik oder so was, sondern das gebührt schon der Respekt, dass wir versuchen, die Welt und die Tonsprache des Komponisten zu finden, egal wo wir herkommen. Aber dass das völlig kulturübergreifend möglich ist, sich da reinzufühlen, das wissen wir nun wirklich, dass es einfach tollste Musiker gibt, die nicht aus den Kulturkreisen stammen der Musik, die sie spielen, und das trotzdem vielleicht viel besser empfinden und tiefer empfinden als so mancher, der aus dem Kulturkreis kommt.
    Ellmenreich: Bei Ihrem Festival ist in diesem Jahr eine schottische Komponistin namens Helen Grain "Composer-in-Residence". Werke von ihr werden dort aufgeführt, sie wird sicherlich auch persönlich anwesend sein, es wird auch eine Uraufführung stattfinden. Suchen Sie dann, wenn Sie Musik zum Beispiel jetzt von dieser Helen Grain hören, suchen Sie dann nach schottischen Spuren in der Musik? Gibt es dann doch immer noch so einen Rückbezug auf die Nationalität?
    Vogt: Das kann passieren. Ich glaube, bei ihr gibt es speziell Naturbezüge, und ich glaube, in einem der Werke kommt auch das Wort "northern" vor. Das Nördliche spielt dann bei ihr schon eine gewisse Rolle und dann sind das schon bestimmte Naturbilder, die dann da mit reinspielen. Ob das dann so national ist, oder einfach mehr mit der Liebe zur Natur in ihrer Heimat zu tun hat, das ist ja ganz unbenommen.
    Heimat ist ja ein Begriff, der nicht nur lokal gebunden ist. Ich finde, oft sucht Musik auch in ihrer Sprache nach Heimat. Wir haben zum Beispiel in der meisten Musik der Vergangenheit eine heimatliche Tonart, die wir verlassen, und wir gehen auf die Suche, wir gehen auf die Wanderschaft, und die ist auch zum Teil sehr, sehr gefährlich. Bei Komponisten wie Schubert geht das in so abstruse Gebiete, wo man überhaupt nicht dachte bei der Ausgangstonart, dass wir da jemals hinkommen würden, und man sich wirklich die Frage stellen kann, verlieren wir den Boden unter den Füßen, werden wir das wiederfinden. Und wir finden es auf eine bestimmte Art wieder, aber wir sind dann vielleicht auch doch ein anderer Mensch, wenn wir es wiederfinden.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.