"Der Komponist ist gut, der fortschrittlich ist. Der möglichst nichts von jemand anderem übernimmt, sondern ein 'creator ex nihilo' ist, eines 'opus perfectum et absolutum'. Das ist nach christlichem Verständnis durch einen Menschen niemals zu schaffen."
Ein Schöpfer, der aus dem Nichts etwas Vollkommenes kreiert. So stellen sich viele Menschen Gott vor. So stellte sich das Bürgertum im 19. Jahrhundert aber auch Komponisten vor, erklärt der Musikhistoriker Helmut Loos. Seine These: Beethoven – und andere Komponisten – aber vor allem Beethoven wurde verehrt - und zwar "als Gott dieser Moderne."
Im Arbeitszimmer von Helmut Loos in Leipzig stehen ein Schreibtisch, ein Flügel und rund 50 Büsten von Komponisten. Bestimmt die Hälfte zeigt den Wuschelkopf von Beethoven. Diese Sammlung – größtenteils im Internet ersteigert – sie wirkt wie ein ironischer Kommentar zum Beethoven-Kult. Auf dem Flügel liegt Loos' neues Buch über "Beethoven und andere Götter."
Musik des Bürgertums
Wie also wurde der Komponist zu einem Ersatzgott? Vor 200 Jahren hatte die Aufklärung liberale Ideen im Bürgertum wachsen lassen. Die Französische Revolution und die Herrschaft Napoleons über halb Europa hatten der Bevölkerung mehr Rechte gebracht. Doch Napoleon wurde geschlagen und die alten Herrscher stellen die alte Ordnung wieder her.
"Nun muss man sich vorstellen, dass nach 1815, nach dem Wiener Kongress, diese Repressionsphase begann, in der sich das Bürgertum nicht frei artikulieren konnte. In der aber das Bedürfnis des Bürgertums, sich demonstrativ zu versammeln, da war. Und das konnte man natürlich wunderbar zur Instrumentalmusik, zur Konzertmusik."
"Denn da stand die Zensur relativ hilflos davor. Sie konnte nicht eingreifen und sagen: 'Das dürft ihr nicht spielen.' Da hat man gesagt: 'Wieso, ist doch nur Musik.'"
Aber diese Musik symbolisiert für das Bürgertum liberale Gedanken, sagt Helmut Loos. Die Ideale der Moderne.
"Das ist dann also die Rationalität. Natürlich musste das Ganze säkular sein. Es durfte sich nicht irgendwie mehr auf kirchliche Funktionen beziehen, sondern es musste eben dann ganz selbstständig sein und dann eben auch die besondere Qualität und die besonderen Ideale des Bürgertums wie den Fortschritt repräsentieren."
Inszeniert wie ein Gottesdienst
Jahrhundertelang standen Musik und andere Künste im Dienst der Kirche. Jetzt emanzipieren sie sich und machen den Kirchen Konkurrenz.
"Die Aufklärung war ganz deutlich ein Gegenentwurf, ein Gegenmodel zum alten und damals verachteten Christentum. Diese rationale Aufklärung hatte natürlich das Bedürfnis, diese emotionale Seite, der ja eine solche Weltanschauung bedarf, in der Bevölkerung zu befriedigen. Und dazu hat sie sich die Künste ausgesucht."
Neben Dichtung und bildender Kunst kommt der Musik eine Sonderstellung zu, erklärt Helmut Loos. Denn ein Konzert kann inszeniert werden wie ein Gottesdienst. Konzerthäuser, die damals neu errichtet werden, orientieren sich architektonisch an Tempeln und Kathedralen.
"Die Musiker hatten entsprechend gekleidet zu kommen. Das Publikum kam entsprechend gekleidet. Man verhielt sich so wie in der Kirche, in einer frommen Andacht, stillen Andacht. Man kann das ganz handfest greifen: Das erste Gewandhaus hier in Leipzig hatte ein Gestühl wie eine protestantische Kirche."
Kirche und Gottesdienst also als Vorbild für Musik und Konzert. Zugleich schwinden Macht und Einfluss der Kirchen. Im 19. Jahrhundert wendet sich so mancher Intellektuelle ab vom Christentum, entdeckt stattdessen Atheismus, Kommunismus, Buddhismus – oder eben auch die Kunstmusik.
"Die Vorstellung, dass die Musik das Christentum abgelöst hat, dass die traditionellen Religionen dem Menschen nichts mehr zu sagen hätten und nun diese Funktion von der Musik übernommen wird, finden wir schon bei E. T. A. Hoffmann. Wir finden sie bei Robert Schumann und wir finden Sie bei Richard Wagner. Und sonst natürlich noch viel häufiger."
Musik als Ausdruck der menschlichen Entwicklung
Richard Wagner inszeniert seine Musik ganz offensiv als Religion. Sein letztes Musikdrama "Parsifal" nennt er ein "Bühnenweihfestspiel". In dem Text "Religion und Kunst" schreibt Wagner:
"Als alles sagende, tönende Seele der christlichen Religion, hinterließ uns die christliche Kirche als edelstes Erbe die Musik, die der erlösungsbedürftigen Menschheit eine neue Sprache lehrte, in der das Schrankenloseste sich nun mit unmissverständlichster Bestimmtheit aussprechen konnte."
Das Christentum ist für Wagner also vergangen, hat aber etwas hinterlassen: die Musik. Sie soll den neuen, den besseren Menschen formen.
"Man kann auch beobachten, dass dann bestimmte Musikstücke mit Mitteln der Kirchenmusik gestaltet werden. Robert Schumann hat ein Faust-Oratorium geschrieben."
Loos: "Da hat Franz Brendel gesagt, dass das die Kirchenmusik der Zukunft sei. Und genau mit der Argumentation: Die alten Religionen haben uns nichts mehr zu geben. Diese Funktion übernimmt jetzt die Musik, und zwar in erster Linie die Instrumentalmusik."
Eng damit verbunden ist der Evolutionsgedanke. Charles Darwin hat gerade seine Evolutionstheorie veröffentlicht – und das Bürgertum ist begeistert. Die Kunstmusik gilt ihm als Ausdruck der höchsten Entwicklungsstufe der Menschheit. Doch das hat Schattenseiten.
"Mit der Rezeption dieser Musik weise ich mich auch als ein besonderer Mensch aus, der eben eine höhere Bildung besitzt, dadurch auch eine höhere Stellung in der Gesellschaft beanspruchen darf, und der alle, die das nicht tun, verachten darf."
Geistiger Wegbereiter der Shoah?
Es ist dann nur noch ein kleiner Schritt zu Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus. Gedankengut, das sich im 19. Jahrhundert im Bürgertum immer stärker verbreitet. Auch Richard Wagner argumentiert antisemitisch. Er schreibt, Juden seien unfähig zu eigenen kreativen Leistungen. Sie könnten nur "nachkünsteln" und "nachpapeln wie Papageien". Musikhistoriker Helmut Loos erkennt drin einen geistigen Wegbereiter der Shoah.
"Man kann eigentlich diese ganze Barbarei des Dritten Reichs unbegreiflich finden, aber ich fürchte halt, man sieht hier in diesem grundlegenden Denken, was sich da offenbart, doch schon sehr stark Keime dazu angelegt."
Bleibt die Frage, ob diese Kunstreligion bis heute existiert. Ob Beethoven, Wagner und Co. immer noch vergöttert werden. Richard Wagner hat mit sich mit dem Festspielhaus in Bayreuth selbst ein Pilgerziel geschaffen. Zu den Wagner-Festspielen strömen jedes Jahr seine Jünger herbei, findet so mancher Feuilletonist. Im Kult um Ludwig van Beethoven hingegen habe es einen Bruch gegeben, sagt Helmut Loos. Und zwar 1970, zum 200. Geburtstag des Komponisten.
"Da hat Mauricio Kagel einen schönen Film 'Ludwig van' gedreht. Da hat Stockhausen Beethoven-Musik mit Kurzwellen verfremdet. Da gab es also eine Riesendiskussion und einen großen Aufstand in der Gesellschaft, ob man so mit Beethoven umgehen konnte."
Götterdämmerung in der Kunstmusik. Doch es gibt Menschen, unter denen gelten Beethoven und andere Komponisten bis heute als Schöpfer höherer Werke, sagt Helmut Loos. Er hat dabei seine Kollegen im Blick, aus der Musikwissenschaft.
"Ich habe mich immer gefragt, wieso die Wissenschaft eigentlich immer sich die Frage stellt, was gute und was schlechte Musik ist, und dann den Anspruch hat, das wissenschaftlich beweisen zu können. Ich habe keinen wissenschaftlichen Beweis gefunden. Und dann ist es letztlich eine Frage des Glaubens, ob ich diese Argumente mir aneigne. Aber es sind eben keine Beweise."
Dieser Beitrag wurde erstmals am 03.11.2017 in der Sendung "Tag für Tag" gesendet.