Der vor 20 Jahren eingeleitete Prozess, zwei Rundfunk-Chöre und -Orchester aus Ost und West organisatorisch zusammenzuführen, ohne ihnen ihre künstlerische Eigenständigkeit zu nehmen, hat erstaunliche Ergebnisse gezeitigt. Mit mehr als 200 Konzerten jährlich ist die 'roc' der größte Veranstalter klassischer Musik im Raum Berlin, und der Ruf der Ensembles strahlt weiter als zuvor über die Stadt hinaus. Im Weihnachtsprogramm des DLF präsentiert sich die 'roc'-Familie mit Höhepunkten der zurückliegenden Konzertsaison. Einige ältere Produktionen - darunter auch das Bach'sche Weihnachtsoratorium - vertiefen die historische Perspektive. Werke von Edward Elgar, Alfred Schnittke und Richard Strauss sowie historische Aufnahmen mit dem Dirigenten Ferenc Fricsay rücken einige der markantesten musikalischen Jubiläen und Gedenktage des Jahres 2014 in den Blick.
Weihnachtliche Chormusik u.a. von
Johannes Brahms
Anton Bruckner
Max Bruch
Felix Mendelssohn Bartholdy
Francis Poulenc
RIAS Kammerchor
Leitung: Hans-Christoph Rademann / Uwe Gronostay
Mit Johannes Jansen
(Teil 2 am 25.12.14)
Manuskript zur Sendung
Ein stolzes Viergespann wie die Quadriga auf dem Brandenburger Tor, aber kein stummes Denkmal, sondern ein Monument lebendiger Musikkultur - das sind die Klangkörper der Rundfunk-Orchester und -Chöre GmbH Berlin, kurz ROC. Manche nennen sie auch ROC(k), ausgesprochen wie "Rock", obwohl "Rock" nicht gerade das ist, wofür sie stehen: das Rundfunk-Sinfonieorchester und der Rundfunkchor Berlin, das Deutsche Symphonie-Orchester und der RIAS Kammerchor. Heute und an den kommenden Tagen um die gleiche Zeit hat "Die musikalische Quadriga" einen Extraplatz im Deutschlandfunk. Die beiden nächsten Stunden gehören dem RIAS-Kammerchor. Auf dem Programm: weihnachtliche A-cappella-Sätze.
1. MUSIK: F. Mendelssohn Bartholdy, "Frohlocket, ihr Völker auf Erden", Track 1
Das war mit dem RIAS Kammerchor unter der Leitung von Hans-Christoph Rademann "Frohlocket, ihr Völker auf Erden" von Felix Mendelssohn Bartholdy, eines der strahlendsten Werke aus jener Zeit, in der das Weihnachtsfest, wie wir es heute kennen, gewissermaßen neu erfunden wurde. Nur der Adventskranz fehlte noch; er leuchtete erstmals 1839 in einem Hamburger Waisenhaus. Seit 1929 ist Weihnachten auch ein Rundfunkereignis ersten Ranges, denn damals - am 25. Dezember, um genau zu sein - übernahmen die Amerikaner das deutsche Weihnachtsprogramm auf ihren Sender NBC.
Schon Mitte der 20er-Jahre hatte sich ein Berliner Funk-Chor und -Orchester formiert, 1946 folgte im Westteil der Stadt der "Rundfunk im amerikanischen Sektor" (kurz und griffig: RIAS) mit der Gründung eines Sinfonieorchesters und zwei Jahre später auch eines Chores. Die direkten Nachfolger dieser vier (zum Teil mehrfach umbenannten) Ensembles sind nun seit 1994 in der Rundfunk-Orchester und -Chöre GmbH (ROC) vereint, getragen von wiederum vier Gesellschaftern; die beiden größten sind das Deutschlandradio und die Bundesrepublik Deutschland, danach das Land Berlin und der Rundfunk Berlin-Brandenburg. Ihrer Eigenverantwortung, künstlerisch wie wirtschaftlich, sind die Ensembles damit nicht enthoben, auch nicht dem Wettbewerb miteinander.
Zwei Chöre und Orchester mit ganz eigener Tradition - zwei aus dem Osten, zwei aus dem Westen -, da haben sich viele Unterschiede ausgeprägt. Und das ist gut so, weiß man inzwischen nicht nur in Berlin. Dort ist die ROC mit über 200 Konzerten und (einschließlich der Gastspiele im In- und Ausland) mehr als 300.000 Besuchern der größte Veranstalter klassischer Musik. Nimmt man noch das Radiopublikum hinzu, vervielfacht sich diese Zahl, auch ohne diejenigen Hörer, die man mit CD-Produktionen erreicht. Zur Strahlkraft der Ensembles tragen illustre Namen am Chefpult bei: Marek Janowski an der Spitze des Rundfunk-Sinfonieorchesters, Tugan Sokhiev beim Deutschen Symphonie-Orchester, Simon Halsey beim Rundfunkchor und nicht zuletzt Hans-Christoph Rademann, der seit 2007 die Geschicke des RIAS Kammerchores lenkt.
Letztere haben Anfang vergangenen Jahres eine CD herausgebracht, die man nicht nur als Geschenk für Freunde weihnachtlicher Chormusik, sondern auch als Geschenk an den Kammerchor selbst betrachten kann. Denn wen wandelte nicht mit einer gewissen Regelmäßigkeit diese Lust auf Weihnachtliches an, auf Melodien wie "In dulci jubilo", "Übers Gebirg Maria geht" und "Es ist ein Ros entsprungen"? Und für wie viele Musiker - Sängerinnen und Sänger wohl ganz besonders - hat nicht der Weg in den Beruf mit Liedern unterm Tannenbaum begonnen? Die Melodien der Kindheit freilich sind das eine, das andere die großen Chorsätze der Romantik, in denen sich der Weihnachtszauber als Kunstereignis im Konzertmaßstab entfaltet.
Dem RIAS Kammerchor gelingt beides: die alten Chorsätze als zeitlos großartige Kunst erlebbar zu machen und die romantischen auch als Ausdruck einer vom Wunder der Weihnacht ehrlich berührten Innigkeit. Das gilt für Bruckner, Brahms und Grieg genauso wie für Komponisten des 20. Jahrhunderts, Francis Poulenc etwa oder Arvo Pärt. Damit genug der langen Rede. Lassen wir es endlich wieder "weihnachten". Nach dem festlichen Mendelssohn-Auftakt nun allerdings mit einem dunkel grundierten Werk: "Die Nacht ist vorgedrungen" auf einen in bedrängter Zeit, 1937, entstandenen Text des von den Nationalsozialisten verfolgten Theologen und Hörfunk-Journalisten Jochen Klepper in der Vertonung von Uwe Gronostay, einem der Vorgänger Hans-Christoph Rademanns als Leiter des RIAS Kammerchors. Danach dann Johann Eccards alter Chorsatz "Ich lag in tiefster Todesnacht" und "In der Christnacht" von Max Bruch.
2. MUSIK: U. Gronostay, "Die Nacht ist vorgedrungen"; Joh. Eccard, "Ich lag in tiefster Todesnacht"; M. Bruch, "In der Christnacht", Tr. 2-4
Durch die Nacht zum Licht - so soll es weitergehen nach diesen Chorsätzen von Uwe Gronostay, Johann Eccard und Max Bruch in unserem Weihnachtsprogramm mit dem RIAS Kammerchor unter der Leitung von Hans-Christoph Rademann. "Christmas! Weihnachten! Noël!" (jeweils mit einem Ausrufezeichen dahinter) heißt eine ihrer jüngsten CDs, die in Zusammenarbeit mit Deutschlandradio Kultur und der Rundfunk-Orchester und -Chöre GmbH Berlin entstand. Unter dem organisatorischen Dach der ROC hat neben den drei anderen Berliner Rundfunk-Ensembles auch der RIAS Kammerchor seit nun zwanzig Jahren sein Zuhause. Und Weihnachten zuhause - was könnte schöner sein? Folgen wir also weiter den "Tracks" dieser CD und ihrer wohldurchdachten Dramaturgie. Zunächst "O Heiland reiß die Himmel auf", eine große Choralmotette von Johannes Brahms, sodann zwei Liedsätze von Johann Eccard und das "Magnificat" von Arvo Pärt.
3. MUSIK: Joh. Brahms, "O Heiland, reiß die Himmel auf"; Joh. Eccard, "Nun liebe Seel, nun ist es Zeit", "Über's Gebirg Maria geht"; A. Pärt, Magnificat,Tr. 5-8 (Tr. 6 nur 1. u. 2. Strophe)
"O Heiland reiß die Himmel auf" von Johannes Brahms, von Johann Eccard "Nun liebe Seel, nun ist es Zeit" und "Übers Gebirg Maria geht" sowie das "Magnificat" von Arvo Pärt, ein Schlüsselwerk zum Verständnis des nur um wenige Töne kreisenden "Tintinnabuli" -Stils dieses estnischen Komponisten und wohl einflussreichsten Neuerers im Bereich der zeitgenössischen Chormusik. Das waren die zuletzt gehörten Werke. Es folgen vier Kompositionen zu Ehren Mariens: "Ave Maria" und "Virga Jesse" von Anton Bruckner, "Salve Regina" von Francis Poulenc und "Ave maris stella" von Edvard Grieg.
4. MUSIK: A. Bruckner, Ave Maria, Virga Jesse; Fr. Poulenc, Salve Regina; E. Grieg, Ave maris stella, Tr. 9-12
"Ave Maria" und "Virga Jesse" von Anton Bruckner, "Salve Regina" von Francis Poulenc und "Ave maris stella" von Edvard Grieg: vier Marien-Kompositionen, in vollendeter Reinheit dargeboten vom RIAS Kammerchor unter der Leitung von Hans-Christoph Rademann. Zu Ende gehen soll die erste Stunde dieses weihnachtlichen Programms im Rahmen unserer achtteiligen Sendereihe mit Aufnahmen der vier Ensembles der ROC Berlin mit "Hodie Christus natus est", einer berühmten, vierhundert Jahre alten fünfstimmigen Motette von Jan Pieterszoon Sweelinck.
5. MUSIK: J. P. Sweelinck, "Hodie Christus natus est", Tr. 13
Vier Ensembles aus Berlin, die jedes für sich ein Stück Rundfunkgeschichte geschrieben haben. Seit zwanzig Jahren tun sie es gemeinsam unter dem Dach der Rundfunk-Orchester und -Chöre GmbH (ROC): das Rundfunk-Sinfonieorchester und der Rundfunkchor Berlin, das Deutsche Symphonie-Orchester und der RIAS Kammerchor. Er ist es, um den es heute geht.
Wenn es zwei weihnachtliche Chorsätze gibt, die zusammengehören wie Ochs und Esel an der Krippe, dann sind es die beiden folgenden vom Anfang des 17. Jahrhunderts. Der Komponist heißt Michael Praetorius, und da ist leicht zu raten, wie die Stücke heißen: "In dulci jubilo" und "Es ist ein Ros' entsprungen", deren immergrüner Zustand sich auch der vielseitigen Bearbeitungspraxis über Jahrhunderte hinweg verdankt, sei es motettisch oder im schlichteren Kantionalsatz. Praetorius lieferte Vorbilder für beides.
6. MUSIK: M. Praetorius,"In dulci jubilo", "Es ist ein Ros' entsprungen", Tr. 14-15
Fast dreieinhalb Jahrhunderte liegen zwischen den beiden eben gehörten Chorsätzen von Michael Praetorius und einem kleinen Motetten-Zyklus von Francis Poulenc aus dem Jahr 1952. Es sind Werke des späten Poulenc, der sich zwar vom Komödianten zum Mystiker gewandelt hatte, als Komponist aber treu geblieben war und dem es fast spielerisch gelang, die formelhaften Texte des kirchlichen Weihnachtsrituals in unverbrauchte Klänge umzusetzen. Leichtigkeit ist auch ein Merkmal der Interpretation des RIAS Kammerchors mit angemessen französischer Aussprache des Lateinischen.
7. MUSIK: Fr. Poulenc, Quatre motets pour le temps de Noël, Tr. 16-19
Das waren Aufnahmen mit dem RIAS Kammerchor unter der Leitung von Hans-Christoph Rademann, zuletzt die "Quatre motets pour le temps de Noël" von Francis Poulenc. Die im vergangenen Jahr bei Harmonia Mundi France erschienene Weihnachts-CD ist eine Co-Produktion des Deutschlandradios mit der Rundfunk-Orchester und -Chöre GmbH Berlin, und sie korrespondiert auf schöne Weise mit älteren Aufnahmen des RIAS Kammerchores, die in diesen Tagen wiederveröffentlicht wurden: als Hommage an Uwe Gronostay, den vor sechs Jahren verstorbenen Ehrendirigenten des Ensembles, an dessen 75. Geburtstag vor wenigen Wochen auch die Internationalen Chormusiktage in Berlin mit einem Festkonzert erinnerten. Die anderthalb Jahrzehnte seiner Berliner Tätigkeit beim RIAS standen im Zeichen der Repertoire-Erweiterung sowohl in moderner als auch in historischer Richtung, einhergehend mit einer stärkeren Betonung auf der ersten Silbe des Wortes Kammerchor, um sich als Alternative gegenüber großen philharmonischen und Oratorienchören klar zu positionieren. Einen Eindruck davon vermittelt die nächste Viertelstunde mit weihnachtlicher A-cappella-Musik aus Renaissance und Frühbarock beziehungsweise aus vor- und nachreformatorischer Zeit: Zunächst von Adrian Willaert, Thomas Stoltzer, Ludwig Senfl und Michael Praetorius Vertonungen lateinischer Verse aus der Bibel und Weihnachtsliturgie, gefolgt vom zweisprachigen "Psallite - Singt und klingt" eines Anonymus und weiteren Liedsätzen von Sethus Calvisius mit einem abschließenden Gloria.
8. MUSIK: A. Willaert, "Mirabile mysterium declaratur hodie"; Th. Stoltzer, "Dies sanctificatus illuxit nobis", "Grates nunc omnes"; L. Senfl, "Et filius datus est nobis"; M. Praetorius, "Enatus est Emanuel"; Anon., "Psallite unigenito"; S. Calvisius, "Freut euch und jubiliert, "Gloria in excelsis Deo", Tr. 1-6 u. 9-10
Man muss es dazu sagen, denn anzuhören ist es ihnen nicht: Diese Aufnahmen sind vierzig Jahre alt. Frische und Agilität wurden zum Markenzeichen des RIAS Kammerchores und führten unter Marcus Creed und Daniel Reuss - den beiden Nachfolgern von Uwe Gronostay - zu einer engen Zusammenarbeit mit Exponenten der historischen Aufführungspraxis, das heißt Ensembles wie Concerto Köln und der Akademie für Alte Musik Berlin, Dirigenten wie Reinhard Goebel, Philippe Herreweghe und, allen voran, René Jacobs. Davon wird in acht Tagen wieder auf diesem Sendeplatz in Zusammenhang mit dem Weihnachtsoratorium zu reden sein. Im heutigen Programm geht es noch einmal um Aufnahmen aus den siebziger und frühen 80er-Jahren, wiederveröffentlicht auf einer jüngst unter dem Titel "Stille Nacht" beim Label Audite erschienenen CD. Daraus nun die folgenden alten Weihnachtssätze "Joseph, lieber Joseph mein" und "Wie soll ich dich empfangen".
9. MUSIK: S. Calvisius, "Joseph, lieber Joseph mein"; Joh. Crüger, "Wie soll ich dich empfangen", Tr. 11-12
Das waren das alte Weihnachtslied "Joseph, lieber Joseph mein" im Satz von Sethus Calvisius und von Johann Crüger der Choral "Wie soll ich dich empfangen" auf Verse von Paul Gerhardt, die sich (allerdings zu einer anderen Melodie) auch im Bach'schen Weihnachtsoratorium wiederfinden, das morgen auf diesem Sendeplatz zu hören ist. Das heutige Programm beschließt eine äußerst anspruchsvolle Chor-Komposition von Johann Nepomuk David, die 1960 im Auftrag des RIAS entstand. 1986 hat Uwe Gronostay sie noch einmal hervorgeholt, gewiss nicht nur zur Auffrischung im Sinne der Bestandspflege, sondern auch als Beweis der Leistungsfähigkeit seines Chores, den dann im gleichen Jahr Marcus Creed als künstlerischer Leiter übernahm. Ihren Namen entlehnt Davids große Adventsmotette, die auch Luthers "Nun komm der Heiden Heiland" zitiert, der Antiphon "Oh Morgenstern, Glanz des ewigen Lichts".
10. MUSIK: J. N. David, "O oriens, splendor lucis aeternae", Tr. 28
"O oriens, splendor lucis aeternae", eine Adventsmotette von Johann Nepomuk David - sie war das letzte Stück dieser ersten Sendung im Rahmen der "musikalischen Quadriga", unserer achtteiligen Reihe mit aktuellen und älteren Produktionen der vier Klangkörper der Rundfunk-Orchester und -Chöre GmbH Berlin. Heute waren es Aufnahmen mit dem RIAS Kammerchor unter der Leitung von Hans-Christoph Rademann und Uwe Gronostay.