Musik - Lucien Durosoir: "Poème pour violon, alto et piano" (1920)
"Ombres et lumières" (Schatten und Licht) heißt die aktuelle Folge mit Werken unter anderem von Rudi Stephan und Lucien Durosoir – heute nahezu vergessenen Komponisten. Stephan starb als Soldat in Galizien. Durosoir, einer der besten Geiger seiner Generation, überlebte, weil man für ihn als Musiker Verwendung hatte.
Die Geige habe ihn vor dem Einsatz in vorderster Linie gerettet, sagte er später in einer Mischung aus Dankbarkeit und Schmerz, der Kameraden gedenkend, die weniger Glück hatten als er. So wie der erst 17-jährige Kriegsfreiwillige Jacques Vierne im November 1917. Nach offizieller Lesart "für Frankreich im Kampf gefallen" ist er nicht. Es war wohl auch kein Selbstmord, wie es später hieß. Wahrscheinlich ist, dass man ihn wegen Beteiligung an einer Meuterei erschoss. Die schlimmsten Vorwürfe machte sich der Vater, dass er seinen Sohn diesem Wahnsinn geopfert hatte. 1918 goss Louis Vierne seinen Schmerz in das Klavierquintett "en ex-voto à la mémoire de mon cher fils". Mit donnerndem Getöse wolle er den Sohn begraben, nicht mit traurigem Geblöke wie ein seliges Schaf, gelobte der Komponist und Hauptorganist von Notre-Dame.
Musik - Louis Vierne: "Quintette pour piano et cordes, op. 42" (1918)
Auch wer den Entstehungshintergrund nicht kennt, spürt die Erschütterungen im Klavierquintett von Louis Vierne als dumpfen Nachhall grauenvoller Geschehnisse. Aber es ist ein inneres Beben, kein tonmalerisches Kriegsszenarium. Das Genre der Battaglia, wie man sie früher nannte, in ihrer kaum verhüllten Lust am Schlachtenlärm kapitulierte vor dem realen Schrecken des Trommelfeuers und der Gasangriffe im industrialisierten Krieg. Die technische Eskalation beschleunigte das Gemetzel, aber nicht dessen Ende. Zu denen, die im August 1914 noch gehofft hatten, das Ganze wäre Weihnachten vorbei, gehörte Rudi Stephan. Die Einberufung, glaubte er, bedeute nur eine kurze Unterbrechung bei der Verwirklichung seiner künstlerischen Pläne. Doch die für 1915 in Frankfurt vorgesehene Uraufführung seiner Oper "Die ersten Menschen" erlebte er nicht mehr. An der Ostfront bei Tarnopol, Schauplatz einiger der verlustreichsten Schlachten des 20. Jahrhunderts, starb Stephan im Schützengraben schon wenige Tage nach seinem ersten Einsatz. "Ich halt’s nicht mehr aus", soll er gerufen haben und dann aufgesprungen sein. Ein gezielter Schuss traf ihn in den Kopf.
Zu Stephans musikalischem Vermächtnis gehört eine Musik für sieben Saiteninstrumente (einschließlich Klavier) aus dem Jahr 1911, ein Vorkriegswerk also, das sich durch seine unorthodoxe Form und das eigenwillige klangliche Gepräge erkennbar aus der Welt des sogenannten "langen" 19. Jahrhunderts löst. Der Begriff Spätromantik fasst es schon nicht mehr. Darum hat man Rudi Stephan einen deutschen Impressionisten genannt, was sich in der Zusammenschau mit Louis Vierne auch als durchaus zutreffend erweist.
Musik - Rudi Stephan: "Musik für sieben Saiteninstrumente" (1911)
Für das Konzept dieser CD zeichnet Karine Lethiec verantwortlich, die Bratscherin und zugleich künstlerische Leiterin des 1999 gegründeten Ensembles Calliopée. Das Programm fügt sich ein ins Gedenkpanorama einer kaum überschaubaren Zahl von Veranstaltungen unter der Überschrift "Mission Centenaire" an vielen Orten Frankreichs. Am Museum des Ersten Weltkriegs in Meaux realisierten Lethiec und ihr Ensemble als "artists in residence" nicht nur Konzerte in unterschiedlicher Besetzung, sondern auch museumspädagogische Projekte. Vom zuweilen etwas säuerlichen Geist überangestrengter Musikvermittlung ist hier freilich nichts zu bemerken. Die Künstler agieren, als spielten sie für sich selbst, vertieft in nichts als die Musik. Auch dass sie nicht erst seit gestern zusammen sind, hört man dem Ensemble an, sei es in der Septett-Formation oder als Trio wie im "Poème" von Lucien Durosoir mit Maud Lovett (Violine), Karine Lethiec (Bratsche) und Frédéric Lagarde (Klavier).
Musik - Lucien Durosoir. "Poème pour violon, alto et piano" (1920)
Als der Geiger Lucien Durosoir, äußerlich unversehrt, aus dem Krieg zurückkehrte, warf er sich mit aller Kraft aufs Komponieren. Selbstbetäubung durch Arbeit mag eine Rolle gespielt haben, noch mehr aber war es ein Akt der Trauma-Bewältigung, vermutet Georgie Durosoir, die Schwiegertochter des 1955 verstorbenen Komponisten. Als Wissenschaftlerin hat sie sich eingehend mit dem Repertoire der Kriegszeit und damit auch der Rolle der Musik in der Erinnerungskultur rund um "La Grande Guerre", wie man den Ersten Weltkrieg in Frankreich nennt, befasst. Durosoirs "Poème", obwohl es nicht als Auftragswerk zu diesem Zweck entstand, erklang erstmals in Zusammenhang mit der Einweihung einer Festhalle und der Errichtung eines Kriegerdenkmals in Vincennes. Der Musik freilich haftet nicht Offiziöses oder gar Pompöses an. Lyrismen vertreiben das Grollen der ersten Takte, so als atme die Seele auf in Abwesenheit der Gefahr.
Mit berührender Intensität widmet sich das französische Ensemble Calliopée kaum je gespielter Musik aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Aus der CD "Ombres et Lumières" erklang zuletzt ein Ausschnitt aus dem "Poème" für Violine, Bratsche und Klavier von Lucien Durosoir. Die Aufnahme ist Teil der groß angelegten, mit wissenschaftlicher Akribie aufbereiteten Veröffentlichung "Les Musiciens et la Grande Guerre", die fortlaufend in der Reihe World-War-One-Music beim französischen Label Éditions Hortus erscheint und am Ende 30 CDs umfassen soll. Wie die hier vorgestellte Folge 18 und die vorhergehenden wird auch die nächste mit Klaviermusik unter anderem von Erwin Schulhoff, Paul Hindemith und Alfredo Casella im Direktvertrieb erhältlich sein.
Ensemble Calliopée, Ltg. Karine Lethiec: "Ombres et Lumières" (Les Musiciens et la Grande Guerre, Vol. XVIII), Werke von Rudi Stephan, Louis Vierne und Lucien Durosoir, Éditions Hortus, Hortus 718, EAN 3487720007187