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Musikabend "molto agitato" in Hamburg
Von Händel zu Weill - erregt durch die Musikgeschichte

Ein Mix aus Konzert, Lied und Musiktheater: Für die Staatsoper Hamburg entwickelte Frank Castorf einen Abend mit Musik von Händel, Ligeti, Brahms und Kurt Weill. Die musikalische Umsetzung unter Kent Nagano war auf höchstem Niveau – bei der Inszenierungen zeigten sich jedoch Schwächen.

Von Elisabeth Richter |
    Ein Mann in weißem Unterhemd steht vor einer Leinwand, auf der ein Mann in Nahaufnahme zu sehen ist, der mit Pistole mit einer auf den Mann in Unterhemd zu zielen scheint.
    Eingespielte Videos oder Live Close ups auf die Sänger - Frank Castorf führte Regie beim Musikabend "molto agitato". (Staatsoper Hamburg / Monika Rittershaus)
    Ein Mann streitet mit zwei Frauen, besser ein Bariton mit einem Sopran und einem Mezzosopran. Was sie sagen, versteht man nicht, es sind nur Phantasielaute, aber den Affekt des Streites versteht man in György Ligetis Lautkomposition "Nouvelles Aventures" (Neue Abenteuer) sofort. Die drei Sänger stehen in der Inszenierung von Frank Castorf vorne mit Abstand, dahinter links auf einem Podium das kleine Orchester. In den leeren Bühnenraum ist eine Video-Leinwand heruntergelassen. Hautnah zoomt eine Live-Kamera das Gesicht der Sopranistin, manchmal sind nur Mund oder Nase zu sehen. Helle Haut, blendend weiße Zähne, knallrote gestylte Haare. Farbverfremdungen mit grünen Schimmern sorgen für einen surrealen Effekt.
    Sehr erregt durch die Musikgeschichte
    "Für uns war das eine schöne Opportunität Repertoire auf die Bühne zu bringen in einer Konstellation, die gleichzeitig sehr familiär und sehr abstrakt ist.
    Dirigent Kent Nagano hat den Abend "molto agitato" - also "sehr bewegt" oder "sehr erregt" - mit Regisseur Frank Castorf entwickelt. Es wurde eine Mischung von kürzeren mehr oder weniger theatralischen Stücken mit wenigen Sängern und Musikern quer durch die Musikgeschichte – von Händel zu Ligeti, Brahms und Kurt Weill.
    "Das Publikum soll Familiarität fühlen, zum Beispiel Händel. Sie müssen Repertoire haben, das man wirklich angreifen kann. Wenn es nur zeitgenössisch ist, reicht das für mich nicht."
    Assoziationen zu aktuellen Ereignissen gewünscht
    Zünftig und sehr bekannt der Auftakt zu "molto agitato": Händels "Ankunft der Königin von Saba" aus dem Oratorium "Solomon". Dort treffen bei einer Feier internationale Gäste ein. Die festliche Musik stand für die Freude über den Wiedereinstieg nach den langen Einschränkungen. Dazu schwenkte Schauspielerin und Sängerin Valery Tscheplanowa wild eine USA-Flagge. Warum? Assoziationen zu den aktuellen Unruhen in Wisconsin waren sicher gewünscht, inhaltlich wurde damit aber auch gleich ein Bogen zum letzten Stück des Abends gezogen, zu Kurt Weills und Bertolt Brechts satirischem Ballett "Die sieben Todsünden". Die spielen nämlich in den USA.
    Bühnenszene aus dem musikalischen Abend "molto agitato" an der Staatsoper Hamburg.
    Anspielung mit Showeffekt: die US-Flagge auf der Bühne (Staatsoper Hamburg / Monika Rittershaus)
    Auch hier wird wild eine Fahne geschwenkt, sie wird sogar angezündet, aber es ist nur eine weiße und keine USA-Fahne, Provokation sollte wohl vermieden werden. Valery Tscheplanowa - in hautengem, reichlich Dekolleté offenen roten Lackanzug - sang und spielte unglaublich packend und vermittelte authentisch die Doppelrolle der beiden "Annas", eine etwas schizophrene Frau, die in den USA durch verschiedene Orte zieht, um ihr Glück zu finden, aber scheitert und ins langweilige Louisiana zu ihrer Familie zurückkehrt. Vom musikalischen Charakter her waren die Cabaret-artigen, auch stark von der Sprache lebenden "Sieben Todsünden" ein spannender Kontrast etwa zu den lautmalerischen "Nouvelle Aventures" von György Ligeti. Kent Nagano:
    "Man kann das sehen als eine Kollage von Stilen. Aber von meiner Seite sehe ich es eher als ein Mosaik, also kleine Scheiben, Teile, die zusammen ein Bild ergeben."
    Harte Gewaltszenen im Kontrast zur Musik
    Vier Lieder von Johannes Brahms gehörten musikalisch wie Händel zu den "Klassikern" des Abends. Mit Tenor Matthias Klink und Bariton Georg Nigl hatte man sich in Hamburg zwei gefragte und exzellente Sänger geholt. Radikal aber der szenische Kontrast zu Brahms. In den sonst ziemlich leeren Bühnenraum von Aleksandar Denic waren eine, manchmal zwei Leinwände heruntergelassen, auf denen brutale Folterszenen zu sehen waren, vorproduzierte Videos, in denen die Sänger zum Teil mitspielten.
    Harte Gewaltszenen als Kontrast zu ins Ohr gehender Musik – mit dieser Konfrontation gelangen Regisseur Frank Castorf aufrüttelnde und berührende Momente. Allerdings nicht durchgehend bei diesem knapp zweistündigen Abend. Eine Spur zu viel überließ er der Wirkung der eingespielten Videos oder den Live-Close ups auf die herangezoomten Sänger. Trotz Corona-Abstand wären mehr echte szenische Aktionen erfrischend gewesen, auch bei Ausschnitten aus Händels früher Kantate "Aci, Galatea e Polifemo".
    Eine Bühnenszene des musikalischen Abends "molto agitato" an der Staatsoper Hamburg.
    Wenig szenische Aktionen - die Sänger agierten oft allein, auch aufgrund von Corona-Regeln (Staatsoper Hamburg / Monika Rittershaus)
    Der einäugige Zyklop Polyphem liebt die Nymphe Galatea und erschlägt ihren Liebhaber Acis. Dessen Blut verwandelt sich in eine immer währende Quelle. Frank Castorf ließ die Sänger statisch herumstehen. Auf einem Video lief dazu die Geschichte als hausbacken, antiquierter Zeichentrickfilm ab.
    Gab es bei den szenischen Möglichkeiten für diesen kontrastreichen und belebenden Abend noch Luft nach oben, so war die musikalische Umsetzung auf höchstem Niveau. Die beiden Sängerinnen Jana Kurucová und Katharina Konradi sangen und wechselten virtuos die verschiednen Rollen. Und auch Dirigent Kent Nagano und das auf wenige Musiker reduzierte Philharmonische Staatsorchester Hamburg handhabten dieses Kaleidoskop der Genres stilistisch sehr kompetent.