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Musiker Billy Bragg
Mehr Freiheit! Gleichheit! Verantwortlichkeit!

"Seit dem Ende des Kalten Krieges leben wir in einer post-ideologischen Welt", sagte der Brite Billy Bragg im Dlf. In seinem neuen Buch kritisiert er den Neoliberalismus der Gegenwart und wirbt für einen neuen Freiheitsbegriff.

Billy Bragg im Corsogespräch mit Christoph Reimann |
Billy Bragg bei einem Konzert in Manchester.
Billy Bragg gehört zu den politischen Stimmen Englands - nicht nur auf der Bühne (imago/ZUMA Press)
Christoph Reimann: Billy Bragg, Ihr Buch ist ein wütendes Pamphlet gegen den Neoliberalismus. Ihre Beobachtungen beschränken sich nicht nur auf England, sondern umfassen auch andere Länder. Was Sie hervorheben: Der freie Markt führt zu einer Einschränkung der Freiheiten des Individuums. Wo macht sich das Ihrer Ansicht nach besonders stark bemerkbar?
Billy Bragg: Nun, das Beispiel wäre: Der freie Markt gibt uns die Möglichkeit, als Konsumenten frei aus verschiedenen Produkten zu wählen. Aber er gibt uns keine Wahlfreiheit hinsichtlich des politischen und, noch wichtiger, des ökonomischen Systems. Eine der zentralen Eigenheiten des Neoliberalismus ist die Annahme, dass es keine Alternative zu ihm gebe. In England haben wir sogar ein Akronym dafür: TINA - there is no alternative.
Diese Annahme hat zu vielen Problemen geführt. Denn natürlich ließe sich Politik komplett anders gestalten, das Gleiche gilt für die Wirtschaft. Es ist der Widerstand der Neoliberalen, überhaupt über Alternativen nachzudenken, der zu einem großen Druck auf der gesamten Welt geführt hat. Seit der Wirtschaftskrise im Jahr 2008 hat sich niemand Gedanken darüber gemacht, ob es eine Alternative zur gegenwärtigen nationalen beziehungsweise globalen Wirtschaft geben könnte. Ein alternatives System, von dem die Mehrheit der Menschen profitiert und nicht nur ein paar wenige Leute am oberen Ende der ökonomischen Skala, die sogenannten ein Prozent.
"Das Prinzip der Gleichheit sicherstellen"
Reimann: Aber leben wir nicht in einer Zeit, in der wir sehr viele Freiheiten genießen, zumindest im Westen? Wir haben das Recht zu sagen, was wir wollen, wir können sprechen, mit wem wir wollen.
Bragg: Das stimmt. Aber Freiheit definiert sich nicht allein über freie, ungehinderte Meinungsäußerung. Das ist nicht die Definition von Freiheit. Das ist die Definition von Donald Trumps Twitter-Feed. Wenn wir in einer ganz und gar freien Gesellschaft leben wollen, reicht Liberalität, das Recht, die eigene Meinung auszudrücken, nicht aus. Wir müssen auch das Prinzip der Gleichheit sicherstellen. Das ist das Recht anderer, ebenfalls ihre Meinung kundtun zu dürfen. Dazu gehört auch die Tatsache, dass wir andere Meinungen respektieren und nicht sofort angreifen. Vernachlässigen wir die Dimension der Gleichheit, dann ist Liberalität, also das Recht, die eigene Meinung auszudrücken, nicht mehr als ein Privileg.
Aber wichtiger noch als das: Wenn wir Liberalität ohne Verantwortlichkeit denken, dann kann sie sich in die gefährlichste Freiheit von allen verwandeln - und das ist Straflosigkeit. In den Vereinigten Staaten von Amerika sehen wir am Beispiel von Donald Trump, was passiert, wenn man die Macht an jemanden übergibt, der überhaupt kein Verständnis von Verantwortlichkeit hat.
Ich glaube, ein wenig haben wir dieses Problem auch im Vereinigten Königreich. Auch Boris Johnson ist jemand, der nie in seinem Leben Verantwortung übernommen hat. Ganz egal, ob es seine politischen Handlungen waren, seine Handlungen als Journalist oder in seinem Privatleben. Und ich glaube, dies ist eine gefährliche Wendung in unserer Geschichte. Demokratie und Verantwortlichkeit sind keine Synonyme, sie können auseinanderdriften, und das erleben wir in Großbritannien und den USA.
Das Corsogespräch mit Billy Bragg – hören Sie hier in englischer Originalversion
Reimann: Jetzt haben Sie schon Ihre drei Dimensionen der Freiheit genannt: Liberalität, Gleichheit und Verantwortlichkeit. Aber wie, glauben Sie, kommen wir dahin, den Status quo unseres Systems zu überdenken?
Bragg: Zuerst einmal, denke ich, müssen wir etwas feststellen: Im 20. Jahrhundert war die Politik streng ideologisch. Ob man das jetzt gut oder schlecht findet. Aber jeder hatte seine Ideologie. Diese Ideologien haben die Grundlage unserer Diskussionen geschaffen. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Ideologien haben wir Sachverhalte besprochen und abgeglichen. Das hatte ein paar Nachteile, aber eben auch Vorteile. Mein Punkt jedenfalls ist dieser: Es gab eine Grundlage. Seit dem Ende des Kalten Krieges leben wir in einer post-ideologischen Welt. Wir haben keine Grundlagen, anhand derer wir erkennen können, wo unsere politischen Sympathien liegen. Mein Vorschlag ist: Wenn wir uns auf Liberalität, Gleichheit und Verantwortlichkeit berufen, dann können wir wieder eine Basis für unsere Diskussionen schaffen.
"Es geht darum, eine Gemeinschaft zu schaffen"
Reimann: Aber auf wen vertrauen Sie da? Wer wird uns aus der Misere führen, die Sie in Ihrem Buch beschreiben? Ist es die Arbeiterklasse, die ins Visier von Populisten geraten ist? Ist es die satte Boomer-Generation? Sind es die Fridays-For-Future-Kinder?
Bragg: It's alle zusammen. Wir alle. Unter Berücksichtigung der Parameter Liberalität, Gleichheit und Verantwortlichkeit gilt es, eine kohäsive Gesellschaft zu schaffen, basierend auf Vernunft, Respekt und Verantwortung. Es geht darum, eine Gemeinschaft zu schaffen, nicht darum, dass ein paar Leute als Gewinner dastehen und andere als Verlierer. Das ist eine große Herausforderung.
Reimann: Was ich interessant fand: Nicht ein einziges Mal geht es in Ihrem Buch um Musik. Hat Musik nicht das Zeug dazu, Dinge zu ändern?
Bragg: Bertolt Brecht hat gesagt: "Kunst ist kein Spiegel, der der Gesellschaft standhält, sondern ein Hammer, mit dem sie geformt werden kann." Ich glaube fest daran. Und jeder, der mal einen Hammer in der Hand hatte, um etwas formen, wird die Erfahrung gemacht haben, dass es auf einen robusten Amboss ankommt. Meine Meinung ist, dass der Amboss, den wir in der Musik brauchen, der Amboss, mit dem wir die Gesellschaft verändern wollen, die Verantwortlichkeit ist. Ich kann keinen Wandel heraufbeschwören, indem ich bloß einen Song schreibe. Denn Musik an sich hat keine Wirkungskraft. Aber sie eignet sich dafür, die Mächtigen dieser Welt, die Unrecht tun, zu benennen. Auch Scheinheiligkeit zu benennen. Dahinter steht die Forderung nach mehr Verantwortlichkeit. Sie ist für mich absolut zentral für mein Schaffen. Und das war schon immer so. Das Buch ist in dieser Hinsicht eher als Mittel zu verstehen, um ein höheres Niveau zu erreichen.
"Die größte Herausforderung ist der Klimawandel"
Reimann: Als Sänger?
Bragg: Als Kommunikator. Als Künstler. Ich habe Songs über Verantwortlichkeit geschrieben, ich habe auf der Bühne darüber gesprochen, ich habe in meiner Heimat für eine Reform der Verfassung geworben, die den Menschen weit mehr Wirkungskraft gegeben hätte. Aber die Herausforderungen, vor die uns der Brexit, Donald Trump und das Erstarken des Populismus‘ in Europa stellen - da muss ich mich irgendwie steigern. Denn wenn ich das nicht schaffe, wird mich irgendein Hochstapler überwältigen, darauf lauert er doch nur.
Wir leben in sehr zynischen Zeiten. Wir alle müssen gegen unseren Zynismus ankämpfen. Nach meiner Erfahrung ist das beste Mittel gegen Zynismus der Aktivismus.
Billy Bragg music concert in Milan The english singer and song-writer Billy Bragg performs live at Carroponte Milan Italy. PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY RobertoxFinizio Billy Bragg Music Concert in Milan The English Singer and Song Writer Billy Bragg performs Live AT Carroponte Milan Italy PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY RobertoxFinizio
Billy Bragg: "Wir alle müssen gegen unseren Zynismus ankämpfen" (imago stock&people)
Reimann: Am 31. Januar wird Großbritannien die Europäische Union verlassen. Das zumindest ist der aktuelle Plan. Sie waren immer ein großer Befürworter der EU. Aber nach den vielen Jahren des Hin und Hers: Werden Sie am Brexit-Tag feiern oder trauern?
Bragg: Ich denke, ich werde den Brexit betrauern. Denn der Brexit scheint mein Land geradewegs ins Gegenteil dessen zu führen, was benötigt wird, um die großen Probleme der Gegenwart anzugehen. Diese Probleme sind zu groß, um von einem Land alleine gelöst werden zu können.
"Ich werde den Brexit betrauern"
Die größte Herausforderung ist natürlich der Klimawandel. Ihn können wir nur in Zusammenarbeit mit anderen Nationen bekämpfen. Der Brexit vergrößert auch die Gefahr, ökonomisch ausgebeutet zu werden, eben weil wir uns dann nicht mehr in einer Wirtschaftsgemeinschaft befinden.
Und dann wäre da noch die Zukunft Europas. Auch dort zeichnen sich schwierige Zeiten ab. Ich wünschte, wir Briten würden mit Europa gemeinschaftlich daran arbeiten, sicherzustellen, dass Menschen wichtiger sind als Profite. Ja, die EU macht das nicht immer, aber sie hätte das Zeug dazu. Und das ist der Grund, weshalb ich immer ein Befürworter der Europäischen Union war.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Billy Bragg: "Die drei Dimensionen der Freiheit. Ein politischer Weckruf"
Heyne Verlag München, 2020. 144 Seiten, 12 Euro.