Musik: "Self"
"Ich habe mich nie als Prog-Rock-Künstler gesehen. Und ich wehre mich gegen die Einstufung als ganz gewöhnlicher Musiker."
Er passt in keine Schublade und will auch in keine passen.
"Ich habe zehn, fünfzehn Alben mit experimentellen und elektronischen Klängen gemacht. Außerdem Pop, extremen Metal und akustische Platten."
Auch mit seinem neuen Album überrascht er wieder:
"Ich versuche zu vertonen, was ich in meinem Kopf höre. Da tauchen schon länger keine Gitarren mehr auf."
Der Anspruch seiner Musik, setzt sich in den Texten fort:
"Ich kritisiere nicht, ich halte den Leuten einen Spiegel vor. Nach dem Motto: „Das ist die Welt, die ich sehe. Erkennt ihr euch darin?"
Steven Wilson macht es seinen Hörern definitiv nicht leicht.
"Fans können die größten Feinde der Kreativität sein. Sie wollen deine Kunst immer wieder durch dieselbe Tür betreten."
Musik: "12 Things I Forgot"
Hemel Hempstead ist wohl der letzte Ort, an dem man einen international erfolgreichen Musiker vermutet: Eine triste Kleinstadt, 30 Zugminuten nordwestlich von London. Ihre Hauptattraktionen: Der größte Aldi-Markt Großbritanniens und ein Kreisverkehr, der „magic roundabout". Aber Glamour? Nightlife? Kultur oder kulinarische Vielfalt? Fehlanzeige. Trotzdem - oder vermutlich gerade deshalb - fühlt sich Steven Wilson hier wohl: In Hemel Hempstead hat er seine Jugend verbracht, dann 20 Jahre in London gelebt und ist in den 2010ern zurückgekehrt, um sich um seine inzwischen verstorbenen Eltern zu kümmern. Seitdem wohnt er in einem Landhaus aus dem 16. Jahrhundert: Ein Refugium im Fachwerkstil, mit Wintergarten, viel Grün, Zugang zum Fluss und 40.000 CDs und LPs, die sich über das ganze Haus verteilen. Im ersten Stock findet sich sein Arbeitszimmer mit Heimstudio, das nüchtern und spartanisch wirkt.
"Alle glauben, ich hätte ein gigantisches Studio mit 48 Spuren, SSL, neuer Konsole und was-auch-immer. Dabei kommt man heute mit einem Computer aus, und ich bin da keine Ausnahme. Ich habe ein paar Macs und Instrumente wie Synthesizer und Gitarren. Sprich: Das Ganze ist sehr übersichtlich und kompakt. In einem kleinen, aber gemütlichen und sehr inspirierenden Raum. Schaue ich nach draußen, sehe ich die Bäume, den Garten, den Fluss und wie mein Hund durch die Gegend tollt. Das ist alles, was ich brauche."
In dieser Atmosphäre, so Wilson, schreibe er seine besten Songs. Und er finde hier auch die Ruhe, um abzuschalten. Die braucht er: Wilson ist der Prototyp des Workaholics. Vielleicht sogar der König der Arbeitswütigen, seit über 40 Jahren.
Musik: Karma - "The Joke´s On You"
Musik: Altamont - "Prayer For The Soul"
Im Zeichen der Vielfalt
Das Frühwerk des Steven Wilson: Krautrockiges mit Altamont, Progressives mit Karma. Im Sommer 1983, als diese Aufnahmen entstehen, ist er 15 Jahre alt. Ein musikbegeisterter Schüler, der auf die Plattensammlung seines Vaters steht. Diese Demos sind heute bei Sammlern begehrt. Sie stammen von kurzlebigen Projekten, die meist nur ein bis zwei Alben hervorbringen - oder ein paar Singles. Weit beständiger und produktiver sind Blackfield, die Kooperation mit dem Israeli Aviv Geffen, oder das Art-Pop-Duo No-Man mit Tim Bowness. Und natürlich Porcupine Tree, mit denen sich Wilson zur Galionsfigur des modernen Prog-Rock aufschwingt, zum „King Of Prog". Ein Titel, den er so gar nicht mag. Er fühlt sich dadurch auf etwas reduziert, das lediglich ein Teil von ihm ist. Logische Folge: 2008 wagt Wilson den Schritt zum Solisten, und ist so erfolgreich und vielseitig, dass er die meisten Nebenprojekte als überflüssig erachtet. Ab sofort bündelt er seine Interessen unter einem Namen: seinem eigenen.
Musik: "The Raven That Refused To Sing"
Das Titelstück aus "The Raven That Refused To Sing (And Other Stories)" von 2013, produziert von Alan Parsons. Wilsons Anspruch, den er als Solo-Künstler verfolgt: Musik zu machen, die seine Hörerschaft und nicht zuletzt ihn wachsen lässt.
"Wenn ich ein Album aufnehme, will ich meine Fans damit bewusst herausfordern. Nach dem Motto: ´Ihr wolltet mehr von dem alten Kram? Keine Chance. Den gebe ich euch nicht. Stattdessen konfrontiere ich euch mit etwas Neuem.´ Wobei mir klar ist, dass ich damit das Risiko eingehe, dass sie sich irgendwann von mir abwenden. Aber mir ist wichtiger, verschiedene Dinge zu probieren, als nur auf Nummer Sicher zu gehen. Dabei wäre das leicht: Ich müsste einfach die Musik machen, mit der ich schon früher erfolgreich war. Nur: Das reizt mich nicht."
Einen Ansatz, den er nun auf die Spitze treibt: mit seinem sechsten Alleingang "The Future Bites".
Musik: Steven Wilson – "King Ghost"
Gitarren-Frust
„King Ghost": Atmosphärischer, mystischer Synthie-Pop mit hintergründigem Gesang, spartanischen Beats, elegischen Keyboard-Melodien und einem monoton-hypnotischen Vibe. Ein typisches Stück aus "The Future Bites". Das bislang Synthetischste, Mutigste und Polarisierenste von Steven Wilson. Der eigenwillige Brite setzt sich intensiv mit elektronischer Musik auseinander; mit Samples, Sequenzern, Loops und Sprachverfremdungseffekten. Stilistisch: Eine Mischung aus 80er-Jahre-Pop, Neo-Disco und Industrial, die eine unterkühlte, futuristische Atmosphäre sowie Elemente aus Funk und Soul aufweist, aber kaum noch Rock. Und vor allem: noch weniger Gitarren.
"Natürlich beruht meine Reputation auf Gitarren-Musik. Aber ich habe schon länger das Gefühl, dass ich da nicht mehr viel zu sagen habe. Jedes Mal, wenn ich zur Gitarre greife, und das ging schon mit "To The Bone" los, denke ich: ´Was könnte ich damit anstellen, dass ich noch nicht probiert habe – oder dass nicht schon eine Millionen Mal gemacht wurde?´ Ich fühle mich nicht mehr inspiriert von diesem sechssaitigen Ding auf meinem Schoß." Musik: „Eminent Sleaze" Als Produzent für "The Future Bites" verpflichtet Wilson seinen alten Schulfreund David Kosten, in der Musikindustrie auch bekannt unter dem Künstlernamen Faultline. Ein Studio-Nerd, der sich einen Namen als Komponist für Werbetrailer und TV-Serien gemacht hat, aber auch als technischer Beistand von angesagten Electronica-Künstlern wie Marina & The Diamonds, Bat For Lashes und Everything Everything. Laut Wilson hat Kosten maßgeblichen Anteil an Ausrichtung und Klang des neuen Albums, wegen seiner unkonventionellen Philosophie im Umgang mit musikalischen Einflüssen oder in seinem Anspruch auf Originalität:
"David ist toll. Aus dem einfachen Grund, weil er ganz anders denkt als die meisten Musiker, die ich kenne. Wenn sie bei der Arbeit im Studio über etwas stolpern, das sie an ihre persönlichen Helden erinnert, denken sie: „Oh, das klingt ja wie Kraftwerk. Wie toll ist das denn?" Oder: „Das hat was von Prince oder Pink Floyd. Das muss ich unbedingt verwenden." David ist das exakte Gegenteil davon. Er sagt eher: „Das können wir nicht machen. Das klingt wie Kraftwerk. Lass uns was anderes probieren." Oder: „Das ist doch Pink Floyd. Lassen wir die Finger davon." Ich fand es so erfrischend, jemanden neben mir zu haben, der meint: „Tu das nicht, weil es wie etwas klingt, das du liebst. Das ist genau der Grund, warum du es nicht tun solltest. Probier was anderes." Insofern findet sich auf diesem Album zwar viel von meiner musikalischen DNA, aber die Referenzpunkte sind eher ungewöhnlich und deshalb klingt das Ganze mehr nach mir."
Musik: "Man Of The People"
Das Fan-Problem
"Man Of The People": Auf dieses Stück ist Wilson mächtig stolz. Doch seine Zufriedenheit teilen längst nicht alle: Gerade für seine Progrock-Fans aus den 90ern und 2000ern sind allein die Vorab-Singles aus „The Future Bites" ein echter Affront und ein Grund, sich in den sozialen Medien lautstark zu beschweren. Einige wünschen sich „den alten Steven" zurück, andere fordern vor allem neues Material im Stil der immer noch kultisch verehrten Porcupine Tree und wollen Wilsons aktuelle Ausrichtung nicht mitgehen. Der Künstler nimmt es mit Humor und triefendem Zynismus:
"Auf gewisse Weise sind solche Reaktionen auch eine Auszeichnung. Sie stehen dafür, dass ich das Richtige tue. Und sie gehören einfach dazu. Ich will jetzt niemanden verletzen, aber es ist wirklich so, dass die Fans Feinde der Kreativität sein können. Einfach, weil sie immer denselben Zugang zu deinem Universum erwarten. Nämlich den, durch den sie es irgendwann einmal betreten haben. Jetzt wollen sie ständig dieselbe Tür nehmen und dabei auch das exakt selbe fühlen. Nur: Für mich ist das nicht das, worum es bei einem Künstler gehen sollte."
Wilson, der diese Probleme erwartet hat, reagiert unbeirrt. Auf "The Future Bites" geht er keine kommerziellen Kompromisse ein. Das klingt dann auch mal so:
Musik: „Personal Shopper"
"Personal Shopper", mit einem humorvollen Gast-Auftritt von Sir Elton John. Der bekannteste Shopaholic der Welt trägt eine Liste seiner Lieblings-Luxus-Artikel vor. Eine gelungene Kooperation zweier völlig gegensätzlicher Musiker.
"Ich hatte eine Liste an Luxus-Artikeln, die ich ihm zusammen mit den Demo des Songs habe zukommen lassen. Wir sind sie gemeinsam durchgegangen und er meinte: 'Das sage ich nicht!". Er hat zum Beispiel noch nie im Leben ein Mobiltelefon besessen. Deswegen kam von ihn: „Handy-Schutzhüllen bringe ich nicht über die Lippen. Ich hasse Telefone." Und ich hatte auch Kokain auf der Liste. Da meinte er: „Das Wort nehme ich nicht in den Mund." Aus verständlichen Gründen. Also haben wir ein paar Produkte ersetzt und ein paar hinzugefügt. Von daher basiert das Ganze zwar auf meinen ursprünglichen Ideen, aber er hat seinen Beitrag dazu geleistet."
Obwohl sein Sound vollends zum modernen Pop britischer Herkunft mutiert ist, bleibt sich Wilson doch auch treu: Er macht keine Zugeständnisse, liefert ein hochwertiges Produkt und verfolgt auch weiter den Ansatz, Musik zu komponieren, die sich um ein bestimmtes Thema dreht. In diesem Falle ist es Online-Shopping: die Macht der Algorithmen und der bunten, farbenfrohen Präsentation auf unser Konsumverhalten beim Kauf im Internet. Wobei wir – findet der 53-Jährige - zu vermeintlich exklusiven Produkten tendieren, die wir eigentlich gar nicht brauchen: Frischluft in Dosen, Multivitamin-Tabletten, Designer-Toilettenpapier. Dieses Phänomen karikiert Wilson, hält uns allen den Spiegel vors Gesicht und warnt eindringlich vor einer Technik, die wir noch gar nicht richtig verstehen und von der viele Gefahren ausgehen könnten. Seine konsumkritische Message setzt Wilson mit unberechenbarer stilistischer Vielfalt um und befindet sich weiter auf einer spannenden musikalischen Reise, die inzwischen über 60 Alben umfasst und deren Verlauf auch nach 30 Jahren völlig offen ist. Nur eins ist sicher: Langeweile oder Routine wird es bei Wilson nicht geben. Dafür spricht das missionarische Ziel, das er ausgibt: Die Rettung der Rockmusik. Nicht mehr und nicht weniger.
„Wenn man sich die heutige Rockmusik vor Augen führt, wirkt sie sehr uninspiriert; zumindest in den letzten 20 Jahren. Sie hat es verpasst, sich selbst zu erneuern. Dabei war sie darin über Jahrzehnte hinweg ziemlich gut; mit Psychedelia, Punk, Grunge, was auch immer. Bis zum 21. Jahrhundert, als sie es nicht mehr geschafft hat, ein jüngeres Publikum zu erreichen. Seitdem scheint sie denselben Weg einzuschlagen wie Jazz und ebenfalls zu einer Art Nischen-Kult zu werden. Etwas, das eher für etwas Nostalgisches als Zeitgemäßes steht. Und wenn man sich anhört, was in der aktuellen Musik passiert, insbesondere im Mainstream, ist alles elektronisch. Es reflektiert die Welt, in der wir leben."
Musik: "The Follower"
"The Follower" von seinem sechsten Solo-Album, das Wilson erneut als Ausnahmemusiker zeigt. Ein Künstler, der noch lange nicht satt und stets bereit für Innovationen ist, ohne sich dabei irgendwelchen Erwartungen zu unterwerfen. Dabei bezieht er sich auf überraschende Vorbilder, die bei genauer Betrachtung sehr wohl naheliegend erscheinen.
"Regisseure wie Scorsese oder Christopher Nolan sind gute Beispiele für Kreative, die ständig das Genre wechseln: Von Kriegsfilmen über Science-Fiction bis zu Psycho-Thrillern. Unter Filmemachern ist das akzeptiert, ganz anders als im Musikgeschäft. Ich finde es merkwürdig, dass man dir als Musiker nicht zugesteht, mit den Erwartungen deiner Hörer zu spielen und sie herauszufordern. So, wie es die Beatles getan haben. Jedes ihrer Alben hat sie neu definiert: Von "Sgt. Pepper's" über den Lo-Fi des "White Album", den Proto-Progressive Rock von "Abbey Road" bis zur Rückkehr zu ihren Rock´n´Roll-Wurzeln auf "Let It Be". Sie haben alles probiert, und dass binnen weniger Jahre. So etwas gibt es in der modernen Musikindustrie nicht mehr. Und das vermisse ich. Ich wäre gerne die Art von Künstler."
Dieser Anspruch an sich selbst ist es, der Steven Wilson so wichtig macht: Er ist die Sorte Musiker, von der es 2021 noch viel mehr geben müsste. Dann wäre die moderne Rockmusik nicht so bieder, brav und blutarm. Die Welt braucht mehr Steven Wilsons und ebenso mutige Fans.