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Musikerin Anohni macht Kunst
Landkarte psychischer Landschaften

Die Kunsthalle Bielefeld stellt erstmals in Europa Kunst von Anohni, vormals Antony Hegarty, aus. Es ist eine Reise in abstrakt-expressionistische, spirituelle, schamanische Welten - und ins Reich des Privaten.

Von Peter Backof |
    In rotes Licht getauchte Nahaufnahme der Künstlerin Anohni
    Die vielseitige Künstlerin Anohni (Beggars Group)
    Diese Videos werden aktuell massiv im Netz geteilt, oder auch "geleakt", weil mit Handys aufgezeichnet, bei den Konzerten von Anohni in Europa derzeit: Sie steht da in Mönchskutte gehüllt, Gesicht und Person sind gar nicht zu erkennen. Die Texte des aktuellen Albums "Hopelessness" kommen unverhüllt zur Sache: anklagend gegen soziale Kälte, gegen Umweltzerstörung und Politiker wie Barack Obama, von denen Anohni sich mehr erwartet hätte. Das alles legt sie in Konzerten anderen Menschen in den Mund, in riesigen Bühnenprojektionen. Zehn Mal so groß wie Anohni.
    Als wolle sie als Person gar nicht in Erscheinung treten. So ist das auch in Bielefeld, wo jetzt ihr bislang kaum bekanntes künstlerisches Werk ausgestellt ist. Anohni, vor sechs Jahren noch Antony Hegarty, hat kurzfristig entschieden, keine Interviews zu geben. Auch Kunsthallenleiter Friedrich Meschede findet das schade. Die Schau ist seine Idee.
    Mehrere hundert Werke
    "Ich bin darauf aufmerksam geworden durch eine Ausstellung, die es zuvor gegeben hat, im Hammer Museum, Los Angeles. Ich habe dann den Kontakt mit ihr aufgenommen. Im September 2013 fand ein erster Besuch statt, wo wir dann eben die Arbeiten, die wir heute hier sehen - in Mappen sortiert und unter ihrem Piano hervorgeholt - in dem Apartment gesichtet haben."
    Über Jahre waren Hunderte von Materialcollagen entstanden: besonders genähte Textilien, Wachsarbeiten, Zellhaufen aus Massen von Farben, die abstrakt und organisch wuchern, Totems, die spirituell wirken, wie Abwandlungen der Kunst indigener Völker Amerikas. Entstanden war das alles gar nicht mit der Absicht, es irgendwann auszustellen, sondern im privaten Rahmen.
    Nun sind hundert Werke von ihr in Bielefeld zu sehen. Wegen der Raumverhältnisse in der Kunsthalle konnte sie die Totem-Ornamente auch wirklich aufeinander drapieren zum indianischen "Marterpfahl". Oder Märtyrerpfahl? Da prangt auch das riesige Konterfei von "Divine", eine Drag Queen, die seit den 1980ern weltbekannt geblieben ist. Irgendwie ist das jetzt plötzlich alles auch ein Statement zu aktuellen Gewalttaten wie in Orlando, USA geworden. Friedrich Meschede:
    "Mir war von Anfang an klar, wenn ich dieses Risiko eingehe, eine im Bereich der Bildenden Kunst vollkommen unbekannte Künstlerpersönlichkeit vorzustellen, dass das nicht zu leisten ist ohne einen Referenzrahmen."
    Die Werke der Künstlerin erinnern an Beuys
    Eines wollte Friedrich Meschede unbedingt vermeiden: Einen Weltstar auszustellen, der eben auch "ein bisschen Kunst" macht. Daher die Suche nach einem Referenzrahmen:
    "Aus meiner Sicht hätte es was Europäisches sein können: Vom ganzen Kosmos her schwebte mir ein Dialog vor 'Anohni-Joseph Beuys', weil ich etwas ähnlich Schamanistisches, Charismatisches, wie Beuys es vorgetragen hat, in Anohni wiedersehe."
    In Bielefeld sind nicht nur Werke der Sängerin zu sehen, sondern auch mehr. Anohni ist Ko-Kuratorin und wählte Objekte von befreundeten Künstlern wie James Elaine und Peter Hujar, sowie den japanischen Butoh-Tänzer Kazuo Ohno aus. An Ohno, der 107 Jahre alt wurde, fasziniert Anohni schlichtweg das Aussehen: Ein vom Leben gegerbtes Gesicht, Wiedergänger von Sitting Bull und Geronimo. So wie diese Indianerhäuptlinge auf den berühmten historischen Fotos inszeniert sich Anohni auch schon mal gerne selber: lange, glatte, schwarze Haare, überzeitlich Märtyrer-haft.
    "My Truth", meine Wahrheit, so heißt die Schau und das hat nichts mit Exhibitionismus zu tun: Es ist symptomatisch, meint Friedrich Meschede, dass die Ausstellung - ganz kompliziert für Museumsleute während des Aufbaus - ihre Gestalt wieder und wieder verwandeln musste. Er wurde plötzlich damit konfrontiert,
    "dass Anohni mich - gerade eben - gebeten hat, auf jede Beschriftung zu verzichten: Sie möchte, dass ihre Werke ohne Angaben von Jahreszahlen, Entstehungsdaten, Titel der Werke gesehen werden."
    Überzeitlich also. Diagnose über den Zustand der Welt 2016? Fürchterlich! Ein Raum wirkt wie ein altes, Leinen-tüchernes Lazarett. Die Ausstellung funktioniert, sie ist gut! Und selbsterklärend.
    Da sind die seltsamen Materialsammlungen von James Elaine, Dutzende von mechanischen Weckern zum Beispiel, die vor sich hin ticken; ein Vanitas-Motiv. Dazu die Ansichten gespenstischer Häuser und sogar Fotos von Mumien aus Italien, von Peter Hujar. Zusammen mit den größeren Skulpturen von Anohni - Kokons, die "Seelen" heißen und für verstorbene Freunde stehen, ergibt das ein Gesamtgefühl, von Trauer, emotionalem Tiefgang, Wärme und Empathie. Die Fortsetzung des Gefühls, das Anohnis Musik hinterlässt, mit anderen Mitteln. Eigenständig. Und sehenswert.