Die Frage, was nach dem Tod kommen möge, ist ästhetisch hoch reizvoll und hat daher Künstler verschiedenster Couleur zu allen Zeiten herausgefordert. Besonders die Romantiker waren geradezu hauptberuflich spezialisierte Abgrundgucker. Kaum ein Anderer jedoch ist je so unverhohlen auf das Sujet des Sterbens losgestürmt, wie Edward Elgar im Jahr 1900 mit seinem Oratorium "Gerontius".
Der titelgebende Gerontius ist nicht etwa, wie man vielleicht erst meinen könnte, ein katholischer Heiliger. Sein Name leitet sich vielmehr vom griechischen "geron" ab und bedeutet schlicht "Greis". Zu einem Text von John Henry Kardinal Newman begleitet Elgars Musik diesen alten Mann nicht allein in den Tod, sondern wagt sich im zweiten Teil des etwa 90 Minuten dauernden, riesenhaft besetzten Werks, auch ins Jenseits vor: zu Engelschören, Todesengeln, Dämonen und dem göttlichen Gericht.
Ängste, Zweifel und Hoffnungen der Gläubigen
Das könnte man naiv, blasphemisch oder nekrophil nennen, hätte Elgar nicht alles daran gesetzt, sich in Tönen aufrichtig auszumalen, von welchem Gemisch aus Ängsten, Zweifeln und Hoffnungen die Seele des Gläubigen auf ihrem Weg ins Fegefeuer durchzogen ist. Es geht in seiner Musik weder um die dröhnende Verkündung von Glaubensgewissheiten, noch um das abschreckende Schüren von Ängsten. Der Blick in die Hölle bleibt in diesem Werk auf wenige Momente beschränkt, deren Ausdruck freilich umso effektvoller gerät -- etwa im durchdringend intonierten Dämonenchor des zweiten Teils.
Daniel Barenboim gelang mit der Staatskapelle eine ungemein nuancierte, fein abgestufte Interpretation dieser eigentümlich zwischen einem Nachhall zu Wagners "Parsifal" und einer deutlich vernehmbaren Bach-Verehrung schillernden Partitur. Die Baritonpartie des Todesengels ist unüberhörbar dem chromatischen Wundenwühlen des Schmerzensmannes Amfortas nachempfunden, und Thomas Hampson ließ sich hier zu einem leidenschaftlichen, doch allzu opernhaften Vibrato hinreißen.
Ersatztenor wird zum Glücksfall
Der krankheitsbedingte mehrfache Besetzungswechsel der Tenorpartie trug hingegen unverhofft zum musikalischen Glück des Abends bei. Andrew Staples hat in jungen Jahren als Chorist in der Londoner St. Paul’s Cathedral begonnen. Das hier erworbene Gespür für eine geradezu instrumentale vokale Klarheit hat er sich höchst wohltuend auch als Solist erhalten. Entsprechend beseelte Töne fand er für das stetige Zögern, Fragen und Zweifeln des Gerontius. Vor allem der ausgedehnte Dialog zwischen dessen Seele und seinem Schutzengel geriet zu einem anrührend intimen Moment der Aufführung. Catherine Wyn-Rogers ließ als Engel ihr warmes Mezzosoprantimbre fluten.
Vor der völlig ungebrochenen Bilderseligkeit von Elgars Komposition, die von keinerlei Berührungsängsten mit dem an sich Unaussprechlichen zeugt, mag man instinktiv auch zurückweichen. Nicht einmal vor einem Klangbild des göttlichen Abglanzes selbst schreckt diese Musik zurück. Doch so einfühlsam, aufrichtig und suchend klingt das Werk in seinem diskreten, nie aufdringlichen, sich nach Wahrheit sehnenden DebAusdruck, dass man sich ihm nicht entziehen kann. Das Publikum dankte es mit Ovationen für eine grandiose Aufführung.