Raus aus der Nische des interessanten Außenseiters, rein in die deutschen Konzertsäle – das Ansinnen des Musikfestes Berlin ist edel. Weltberühmt in Dänemark war Carl Nielsen schon zu Lebzeiten, nur die kurze Grenze zum einzigen Nachbarland scheint für seine Musik bis heute nicht besonders durchlässig zu sein. Der deutsche Konzertbesucher murmelt anerkennend "Interessant", aber wendet sich dann doch lieber alten Bekannten wie Brahms, Mahler, Stravinsky, Debussy oder Strauss zu. An berühmten Zeitgenossen hat es Nielsen nicht gemangelt, auch nicht an kollegialem Austausch oder Inspiration – hier ein Stückchen später Brahms, da impressionistisch angehauchte Klangfarben oder folkloristische Elemente – und doch hat Nielsen eine ganz eigene, schwer zu greifende Klangsprache entwickelt, deren Individualität im Spiegel zeitgleich entstandener Werke umso stärker hervortritt.
Eine kleine aber liebevoll kuratierte Ausstellung im Foyer der Philharmonie eröffnet den Nielsen-Schwerpunkt des Musikfestes. Anhand zahlreicher Fotos, Dokumente, Zitate zeichnet sie das Leben Nielsens nach – die Kindheit auf der Insel Fünen, die großen Bildungsreisen, erste Erfolge und auch Skandale, seine große Affinität zum deutschen Musikleben und der immerwährende Wunsch, hier zu reüssieren. Seine Singularität aber wird erst im Konzertsaal deutlich, in Gegenüberstellungen mit der Musik Alban Bergs, Gustav Mahlers oder Arnold Schönbergs. Das Mahler Chamber Orchestra lässt zwei Werke gleichen Entstehungsjahres aufeinander treffen, Bergs Kammerkonzert und die 6. Sinfonie Nielsens, mit dem Beinamen Sinfonia semplice. Einfach ist hier allerdings nur der Titel, das Werk strotzt vor melodischen, harmonischen und formalen Unwägbarkeiten, überspannt, exzentrisch und in der kammermusikalischen Fassung von Hans Abrahamsen zusätzlich unter Spannung.
Es muss genügend Herzblut dabei sein - wie bei Simon Rattle
Die nur noch fünf Streicher kämpfen gegen die klangliche Übermacht aus Bläsern und Schlagzeug, das klingt oft scharf, spitz, wie unter Strom, lässt aber auch unerhört reizvolle Tonfarben zu, wie es im Klangteppich der Originalbesetzung nicht möglich wäre. Und trotzdem bleibt es, bei aller Raffinesse und Originalität, seltsam unpersönliche Musik, im Vergleich mit dem verrätselt-ausdruckswütigen Alban Berg und erst recht mit Gustav Mahler und dem Fragment seiner 10. Sinfonie. Ich, Ich, Ich, schreit es da aus jeder Note der Partitur – aufgewühlt, distanzlos und eben darum so ergreifend. Selbst wenn Marek Janowski und das RSB dem Sphärischen misstrauen und lieber mit professioneller Distanz auf Mahler blicken. Was Nielsen und dessen 3. Sinfonie betrifft, ist Janowski ebenfalls kein Überzeugungstäter - die in dieser vielleicht zugänglichsten Sinfonie dennoch vorhandenen Brüche, Schroffheiten und kauzig humoristischen Stellen wurden ebenso elegant wie desinteressiert umspielt.
Am eindrucksvollsten zeigte sich im Abschlusskonzert der Berliner Philharmoniker, welche fast schon archaische Wucht Nielsens Musik entfalten kann und welche Geschlossenheit aus scheinbar unzusammenhängenden Episoden möglich ist. Es muss eben nur genügend Herzblut wie bei Simon Rattle dabei sein – dann entwickelt Nielsens eklektische und sich selbst dem aufmerksamsten Zuhörer immer wieder entziehende Musik einen unerhörten Sog; mit welchem Einsatz, und sei es der falsche, sich die Musiker ins Getümmel der 4. Sinfonie stürzen, ist schlichtweg umwerfend. Halbherzig darf man Carl Nielsen eben nicht kommen – andernfalls wandert er schneller wieder ins Abseits, als ihn wohlmeinende Musikfeste herausholen können.