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Musikstreaming zu Corona-Zeiten
Lebensretter Livestream?

Die Verwertungslogik der Musikindustrie lässt Musikschaffenden auch in der Corona-Krise keine Ruhe. Dank Live-Streams können Musikerinnen und Musiker jetzt ausgefallene Konzerte und geschlossene Clubs umgehen und direkt zu ihren Fans senden. Ein ambivalentes Vorgehen, das nicht immer aufgeht.

Von Helene Nikita Schreiner |
ein Gamer schaut auf Bildschirme der Streamingplatform twitch
Auch Musikerinnen und Musiker benutzen den Streaming-Dienst Twitch, um ihre Heimkonzerte live ins Internet zu übertragen (EPA/ Michael Nelson)
"User XY hat gerade einen Livestream gestartet" – seit der Corona-Quarantäne blitzt diese Push-Nachricht häufiger auf dem Handydisplay auf. Livestreams werden jetzt von Musikschaffenden genutzt, um ihren Fans in Produktionssessions zu zeigen, wie man Beats baut, sie mit DJ-Sets von der Einsamkeit der Isolation abzulenken und um, verbunden über den Bildschirm, zusammen zu feiern oder Privatkonzerte zu spielen.
Intime Einblicke
Am anderen Ende der Bildschirme gibt es jetzt eine einzige Front-Row, in der Fans nicht nur eine Performance sehen, sondern auch intime Einblicke in die Wohnräume der Musiker erhaschen.
Auch Gizem, die als DJ unter dem Namen meg10 auflegt, und in Berlin das Party-Kollektiv hoe_mies mitgegründet hat, geht seit einer Woche regelmäßig live. Zusammen mit Freundinnen, die ebenfalls in der Musikszene arbeiten, hat sie die Livestream-Veranstaltungsreihe "Home Not Alone" ins Leben gerufen, ein Mix aus Talk zu Musikindustrie-Themen und DJ-Sets. Für sie steht der Spaß und das Gefühl, nicht allein zu sein, beim Streamen im Vordergrund. Auch wenn ein Livestream ihr nicht das gleiche Hochgefühl gibt, wie ein Live-Gig.
"Es fehlt einem natürlich der Publikumsbezug. Bei Live-Gigs hast du Leute, mit denen du interagieren kannst. Im Stream geht das nur über den Chat. Das ist nicht das Gleiche, wie wenn Leute vor dir stehen und Energien ausgetauscht werden können. Das ist das, was mir am Auflegen am meisten Spaß macht."
Warum streamen dann aber so viele Künstlerinnen und Künstler aktuell aus ihren Schlaf- oder Wohnzimmern? Ist es die Angst davor, vergessen zu werden? Der Druck, immer abzuliefern?
Streaming-Pionierin "Boiler Room"
Eine echte Streaming-Pionierin ist die Musikplattform "Boiler Room". Was 2010 in einem alten Heizungskeller in London entstand, hat heute Kultstatus. Das Konzept ist einfach: Eine Kamera wird in die DJ-Booth gestellt und filmt den DJ beim Auflegen. Im Hintergrund tanzen die Partygäste. Leute, die nicht vor Ort sind, können das online miterleben. Die aufgezeichneten Sets des Boiler Room haben schon vor dem Corona-Virus Clubshows in die Wohnzimmer von Fans elektronischer Musik gebracht.
Michail Stangl ist einer der Programmchefs und Moderatoren des Boiler Room. Er meint, dass das große Angebot an Livestreams dadurch zustande kommt, dass Musiker mit ihren Fans in Kontakt bleiben wollen.
"Einerseits um sich beschäftigt zu halten, andererseits aber auch um irgendeine Art von kreativen Output zu liefern. Aber auch um mit dem Publikum, das man über die Jahre des Spielens, des Tourens, des Veröffentlichens, kennengelernt hat, in Kontakt zu bleiben. Das sind jetzt so die ersten paar Wochen, wo viele Leute vielleicht noch Geldreserven haben, vielleicht noch nicht realisiert haben, was die Sachlage wirklich bedeutet, und jetzt einfach mal produzieren. Viele dieser Streams sehen nach Zeitvertreib aus."
Doch werden diese Geldreserven irgendwann knapp. Dass Livestreams den freischaffenden Künstlerinnen und Künstlern aus der finanziellen Krise helfen, bezweifelt der Medienkünstler und Musiker Mathew Dryhurst. Livestreams sind seiner Meinung nach überflüssig, denn es gibt schon ein etabliertes Mittel, um Musiker zu unterstützen.
"Man darf sie nicht zu CamGirls machen."
"Da Menschen aufgrund des Corona-Virus aktuell nicht reisen können, sind Konzerte und Live-Auftritte komplett verschwunden. Viele stellen sich jetzt die Frage, wie Musiker nun Geld verdienen sollen. Der Vorschlag, dass sie wie Straßenmusiker um Geld betteln sollen, während sie einsam in ihren Schlafzimmern performen, ist absurd. Warum kauft man nicht einfach ein Album? Wenn man einen Künstler wirklich mag, dann soll man das Album kaufen! Man darf sie nicht zu CamGirls machen."
Außerdem zeigt die Begeisterung für Livestreams, dass viele Menschen nur wenig über die Kunst des Live-Auftritts wissen.
"Der Vorschlag, dass Künstler nun einfach Livestreamen sollen, zeigt, dass die meisten Menschen, die keine Musik machen, nichts über die Dynamik einer Live-Show wissen. Der Gedanke, dass es für eine gute Show reicht, einfach nur ein Mikrophon einzustöpseln, und man so jemanden unterhalten kann, ist falsch. Selbst wenn Künstler durch Livestreams Geld verdienen würden, was bisher meist nicht der Fall ist, dann werden sie trotzdem noch dazu gezwungen, die Qualität ihres Outputs zu verringern."
Nicht nur die Musik leidet unter dem Livestream, sondern auch der Respekt und die Anerkennung vor der Arbeit von Musikerinnen und Musikern.
"An einem Album sitzen Musiker manchmal Jahre, sie stecken all ihre Kreativität dort rein. Ein Livestream kann nur eine billige, zusammengeschmissene, isolierte Version eines Albums sein. Das steht in keinem Verhältnis und fühlt sich für mich würdelos an."
Unterhaltung selbst in Krisenzeiten
Es ist den Künstlerinnen und Künstlern anzuerkennen, dass sie versuchen, ihren Fans in Zeiten von Isolation, Quarantäne, Einsamkeit und Lungenkrankheit eine Freude zu machen. Dennoch zeigt das große Angebot an Livestreams auch die prekäre Lage, in der sich die oft freischaffenden Musikerinnen und Musiker befinden. Dabei geht es nicht nur um geplatzte Gagen, sondern auch darum, dass von Musikern erwartet wird, selbst in Krisenzeiten Unterhaltung zu liefern.
Denn auch sie gehören vielleicht selbst zur Risikogruppe und haben Freunde und Verwandte, um die sie sich aktuell Sorgen machen. Um in der kapitalistischen Verwertungslogik der Musikindustrie weiter existieren zu können, müssen viele ihre privaten Sorgen hintenanstellen. Das Sendungsbewusstsein in Zeiten von Instagram und Co., in dem jeder immer abrufbar zu sein scheint, führt zu einem Konkurrenzdruck. Wer nicht streamt, wird vergessen.