Für die Kids war es ein großer Moment. Sie musizierten und sangen im Senat, der ersten Kammer des italienischen Parlaments in Rom. Das Weihnachtskonzert des so genannten Sistema in Italia am vergangenen 15. Dezember wurde europaweit ausgestrahlt – und begann, wie immer in Italien, wenn auch der Staatspräsident anwesend ist, mit der italienischen Nationalhymne.
Die Musiker und Sänger kamen aus ganz Italien für dieses Konzert in die Hauptstadt. Ziel des Konzertes war es auch, bei den politisch Verantwortlichen mehr Interesse für die klassische Musik und vor allem für die Musikausbildung zu wecken. Denn zu diesem Thema, klagt Musikpädagoge Roberto Grossi, werde in Italien immer wieder zu viel Blabla produziert:
"Auch in Italien gibt es da sehr viel zu tun. Dieser Notstand muss bekämpft werden."
Roberto Grossi ist Präsident des sogenannten Sistema in Italia. Der wenig poetische Name, zu Deutsch "System in Italien", lehnt sich an den spanischen Namen "El Sistema" an. Der steht für das nationale Ausbildungsprogramm, dass der Ende März im venezolanischen Caracas verstorbene Komponist und Musikpädagoge José Antonio Abreu Anselmi für sein Land entwickelt hatte. Dabei handelt es sich um ein nationales System von Kinder- und Jugendorchestern. Ziel ist es, klassische und auch andere Musik, wie etwa Jazz, vor allem in die sozial und kulturell benachteiligten Wohngebiete Venezuelas zu bringen. Musikalische Entwicklungspolitik also.
"Musikalische Entwicklungspolitik ist auch in Italien notwendig"
Aber warum ein solches System in Italien? Im Land des Bel Canto und der Oper? Andrea Gargiulo, Professor für Chorgesang am Konservatorium in Bari im süditalienischen Apulien:
"Musikalische Entwicklungspolitik ist auch in Italien notwendig, denn man muss hier die musikalische Dimension ganz generell wieder ins Bewusstsein rufen. Musikausbildung ist bei uns seit viel zu langer Zeit nur auf die Ausbildung von Profis konzentriert, auf die Aufzucht von Musikern, die Karriere machen wollen. Wir wollen hingegen junge Menschen einfach nur an die Musik heran führen."
Andrea Gargiulo ist innerhalb des "Sistema in Italia" für die Gruppen in seiner Region Apulien verantwortlich:
"Wir haben vor sieben Jahren hier in Apulien in einer kleinen Stadt mit unserer Musikmission begonnen. Inzwischen sind wir in mehr als 30 Kommunen tätig. Für unseren Einsatz wurden wir kürzlich mit einem Preis ausgezeichnet. Länder wie Ungarn und Polen sind an unserer Arbeit sehr interessiert, und wollen 'Il Sistema’ auch bei sich importieren."
Venezuelas "El Sistema" ist Vorbild
Das "Sistema in Italia" funktioniert und arbeitet ähnlich wie sein berühmtes Vorbild in Venezuela, erklärt der römische Musikkritiker Franco Soda:
"’Il sistema’ ist eine Gruppe von Pädagogen, privaten Organisationen und Musiklehrern, alles Freiwillige, die gratis arbeiten. In ganz Italien existieren im Moment 80 einzelne Einrichtungen, aber ständig kommen Anfragen zur Bildung neuer Gruppen."
Das "Sistema in Italia" existiert seit 2010. Es war der Dirigent Claudio Abbado, der damals die Schaffung eines solchen musikpädagogischen Systems auch in seinem Heimatland anregte. Abbado wusste wovon er sprach: Jahre lang hatte er mit Abreu und dessen Simon Bolívar - Jugendorchester zusammen gearbeitet. Und Abbado gehörte zu jenen, die immer wieder die oftmals desolate Situation der Musikausbildung und -förderung in seinem Heimatland Italien anklagten, und verantwortliche Politiker dazu aufforderte-, Abhilfe zu schaffen.
Forderung nach mehr Musikunterricht
Heute ist Abbados Kollege Riccardo Muti derjenige in Italien, der am lautesten mehr Einsatz für den Musikunterricht fordert:
"Die Geschichte Italiens hat ihre Wurzeln auch in unserer Musikgeschichte. Das Herumspielen in unseren Schulen auf Instrumenten bringt nichts, das wird nicht richtig und viel zu lustlos unterrichtet. So vertreibt man junge Menschen!"
Muti unterstützt seinerseits Jugendorchester in Kalabrien, in einer Region, in der Musikpädagogik in der Regel ganz klein geschrieben wird. So wird er etwa in Delianova tätig, einer kleinen Ortschaft, in der ein Apotheker auf eigene Faust 2001 ein Jugendorchester gründete, dem heute 60 junge Musiker zwischen 10 und 25 Jahren angehören. In den vergangenen 10 Jahren stellte dieses Orchester 350 Konzerte auf die Beine – in einer Provinz, in der klassische Musik absoluten Seltenheitswert hat.
Die musikalische Entwicklungspolitik des "Sistema in Italia" funktioniert für das ganze Land. Der Musikkritiker Franco Soda:
"Das ‚Sistema’ verlangt nicht, dass junge Leute in Theater gehen oder Konservatorien frequentieren. Die Musikpädagogen der Organisation setzen sich dort für Musik ein, wo es an Musikausbildung mangelt: in den Arme-Leute-Viertel, in Schulen, um die sich Politiker nicht kümmern, in Gemeinden, in Sportzentren und in Jugendgefängnissen. Jede Gruppe des ‚Sistema’ muss vor allem Grundvoraussetzungen erfüllen: die Ausbildung muss gratis sein und niemand darf abgelehnt werden."
Sistema setzt auf Integration
Und so verwundert es nicht, dass unter den jungen Musikschülern auch viele Kids und Jugendliche mit körperlichen oder psychischen Problemen zu finden sind. Sistema setzt auf Integration.
Die Mitarbeiter des "Sistema", Dozenten wie Andrea Gargiulo aus Apulien etwa, sind nicht an neuen Klassikmusikstars interessiert, an Solisten für das Klassikbusiness. Im Zentrum ihrer Arbeit steht der Unterricht mit Musikinstrumenten, also Orchesterarbeit, und das Singen im Chor.
Jede Niederlassung des Sistema finanziert sich selbst, erklärt Dozent Gargiulo:
"Das ist heikles Thema. Die Situation in Apulien ist symptomatisch: Die öffentliche Hand unterstützt uns so gut wie gar nicht. Ständig klopft man uns anerkennend auf die Schulter, aber damit hat es sich dann auch schon. Geld gibt es keines."
Viel Enthusiasmus, aber nur wenig Unterstützung und so gut wie keine Finanzmittel durch die öffentliche Hand. Das "Sistema in Italia" ist derzeit für mehr als 8.000 junge Menschen die einzige Möglichkeit, in den Genuss einer Musikausbildung zu kommen.