"Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus…"
Auf dem Programm an diesem warmen Abend steht ausgerechnet Schuberts "Winterreise". Hat der Tenor Julian Prégardien in weiser Voraussicht ein musikalisches Mittel zur Abkühlung gewählt?
"Es geht ja mehr um Gefühlskälte als um winterliche Eiseskälte. Das sind ja alles Sinnbilder. Aber die Musik ist schon so gut, dass die im Sommer auch Kälte herstellt. Auch wenn wir schwitzen werden heute Abend - trotzdem entsteht ein Gefühl von Kälte, da bin ich mir ziemlich sicher."
Und Recht hat er: Die seelische Kälte erfasst das Publikum, während Prégardien und seinem Klavierpartner Lars Vogt schon nach wenigen Minuten auf der Bühne der Schweiß über die Gesichter läuft. Ungefähr in der Mitte des "Winterreise"-Zyklus‘ greift der Sänger dann zum Wasserglas. Eigentlich ist ihm das nicht so lieb. Zu profan findet er die kurze Unterbrechung auf halber Strecke. Doch solche Gedanken mache er sich wohl nur selbst.
"Ich glaube kaum, dass sich jemand im Publikum aufregen würde: Oh, der Prégardien hat aber nach Lied 11 – da musste er einen Schluck Wasser nehmen, da war er angestrengt! Glaube ich nicht."
Die Finger laufen - aber auch der Schweiß
Das Wort "Anstrengung" lässt auch der Bratschist Volker Jacobsen für sich nicht gelten, wenn es heiß wird im Konzertsaal. Er habe es sogar ganz gern, sagt er.
"Ich find’s viel weniger schlimm als zu kalt. Einfach physisch habe ich dieses Gefühl: Man ist gleich geschmeidig, man muss sich viel kürzer einspielen. Die Finger laufen. Was halt leider auch läuft, ist der Schweiß."
Das allerdings nicht nur im Sommer, weiß Pianistin Kiveli Dörken, die sich mit extremen Temperaturen auskennt. Gemeinsam mit ihrer ebenfalls klavierspielenden Schwester Danae veranstaltet sie auf der griechischen Insel Lesbos im hochsommerlichen August ein Festival.
Ist die Außentemperatur beim Musizieren für sie entscheidend?
"Erstmal spielt es ganz lange keine Rolle, weil man schwitzt ja eh - selbst im Winter, wenn man sich anstrengt, wird einem sehr, sehr heiß auf der Bühne. Wenn natürlich noch eine krasse Sonne dazukommt, kann man kurzzeitig mal die Schweißperle, die gerade in das Auge reinfließt, bemerken. Aber das bleibt trotzdem im Hintergrund."
Und da gehört die Befindlichkeit auch hin, bestätigen eigentlich alle Musiker an diesem heißen Abend in Heimbach. Der Tenor Julian Prégardien versucht, sich frei zu machen von Rahmenbedingungen. Sein Motto: Wenn es ihm gut gehe, gehe es auch der Stimme gut.
"An guten Tagen ist es wirklich vollkommen wurscht, einfach weil das Musikmachen so viel Energie auch gibt. Dann spielt das ganze Außenherum gar nicht so eine große Rolle mehr."
Psychologie des Spielers
Volker Jacobsen, der als Bratschenprofessor in Hannover viele junge Musiker auf dem Weg ins Profileben begleitet, er geht sogar noch einen Schritt weiter.
"Meine Theorie ist eigentlich immer: Es hängt viel, viel mehr an der Psychologie des Spielers. Wie wetterfühlig das Instrument ist, ist eigentlich die Wetterfühligkeit des Musikers."
Und trotzdem will auch er die physikalischen Auswirkungen auf die Materie nicht leugnen.
"Grundsätzlich kann man eigentlich sagen: Die Temperaturschwankungen sind nicht so sehr das Problem. Luftfeuchtigkeitsunterschiede sind das viel größere Problem. Also, die Risse entstehen, wenn’s plötzlich trocken wird."
"Der Flügel muss Extremes aushalten"
An Risse möchte der Kölner Klavierbauer Christian Schoke, der die Tasteninstrumente beim "Spannungen"-Festival betreut, gar nicht denken.
"Bei solchen Temperaturen entwickelt sich der Flügel quasi zum Überlebenskünstler. Der Flügel muss Extremes aushalten."
Der gewölbte Resonanzboden eines Flügels nimmt Feuchtigkeit auf und gibt sie ab, je nach Temperaturhöhe. Christian Schoke kommt daher in Heimbach aus dem Klavierstimmen gar nicht raus. Schließlich gibt es auch noch den Luftzug, den das Publikum so sehr herbeisehnt.
"Ich sage meinen Kunden mit dem Instrument zu Hause auch immer: Lieber einmal Stoßlüften, und dann ist gut, als lange das Fenster auflassen. Weil dann reagieren die Instrumente stark."