Störung des Selbstbildes
Muskeldysmorphie - wenn Sport krank macht

Immer mehr Männer stemmen im Fitness-Studio Gewichte für einen perfekten Körper und durchtrainierte Muskeln. Freunde, Familie, Schule, Arbeit - alles wird diesem Ziel untergeordnet - oft mit Folgen: Das massive Sporttreiben ist eine krankhafte Störung.

Von Lara Zugck | 05.11.2023
Ein Mann steht mit nacktem, durchtrainiertem Oberkörper vor einen Wand und hält zwei Hanteln in der Hand
Bei den Trainierenden zählt oft nur noch das eine große Ziel: mehr Muskelmasse (picture alliance / Shotshop / Addictive Stock)
Es sind oft persönliche Tiefpunkte, Momente der Zurückweisung, die Betroffene wie Jesko Nuhnen erst ins Grübeln bringen und dann krankhaft ins Fitness-Studio. „Das kam dadurch, dass ich auch extrem lange nicht so viele Freunde hatte und nicht so die Erfahrung mit Frauen in einer Beziehung zum Beispiel. Dann fragt man sich: Okay, woran liegt es jetzt eigentlich? Liegt es an mir, an meinem Charakter? Liegt es an meinem Aussehen? Einfach, dass ich zu dünn oder doch zu dick bin. Da hinterfragt man sich immer sehr, sehr viel. Gerade wenn man eben gefühlt nicht das Interesse von Frauen weckt.“

Täglich bis zu sechs Stunden Sport

Mit 17 Jahren verbringt Jesko täglich vier bis sechs Stunden mit Sport und verliert dadurch auch seine restlichen Freunde. In den Urlaub fährt er nur noch, wenn vor Ort ein Fitness-Studio ist. Aber er leidet unter dem massiven Sporttreiben.
„Dementsprechend habe ich dann die Schule teilweise sehr stark vernachlässigt, weil ich mir gesagt hab: Nee, mir gehts halt eh schon nicht so gut, warum soll ich mich jetzt auf die Schule fokussieren? Warum soll ich nicht einfach zum Sport gehen, wenn es mir beim Sport selber so gut geht.“

Störung des Selbstbildes von durchtrainierten Männern

Was Jesko Nuhnen beschreibt, ist typisch für eine Muskeldysmorphie, eine Störung des Selbstbildes von durchtrainierten Männern, die trotzdem glauben, zu wenig Muskeln zu haben. Die Krankheit beginnt praktisch immer schleichend, erklärt Professor Christian Strobel, der an der Hochschule München zu Muskelsucht forscht.
„Ich sag immer, Störung kommt von Stören. Wenn das Funktionsniveau eingeschränkt ist durch eben dieses Körperselbstbild oder dieses defizitär erlebte Körperselbstbild, dann spricht man eigentlich von einer Störung. Das heißt für das soziale Funktionsniveau zum Beispiel: Ich kann nicht mehr zum Geburtstag meiner Oma, weil es da Torte gibt und das passt nicht in meinen Ernährungsplan.“
Die Krankheit tritt meistens an der Schwelle zum Erwachsensein zwischen 17 und 19 Jahren auf. Oft erkennen die Betroffenen selbst nicht, dass sie ein Problem haben. Sie empfinden es als normal, dass sie so viel Zeit im Fitnessstudio verbringen – was auch an der Erziehung liegen kann. „Man erkennt eben tatsächlich so Familienstrukturen, die eine Rolle spielen. Das sind zum Beispiel sehr leistungsstarke Familien, wo es sehr viel um Leistung geht, sehr viel Kontrolle, aber auch Körperlichkeit.“

Depressionen, Ängsten und eine gestörte Körperwahrnehmung 

Auch mental belastet das massive Sporttreiben. Es reduziert die Lebensqualität und löst oft eine tiefe Traurigkeit in den Betroffenen aus. Es ist ein enormer Leidensdruck. Und diese Gefühle hat auch Jesko Nuhnen, als er 17 ist. Er entwickelt zusätzlich zur Muskeldysmorphie eine Depression – eine häufige Kombination. Während er Sport treibt, hat er das Gefühl, der Realität entfliehen zu können und kurzzeitig auf einem Gefühlshigh zu sein.
„Das dann aber so ausgeartet ist, dass ich zu viel Sport gemacht habe im Fitness-Studio. Wodurch dann so viel Dopamin ausgeschüttet wird, dass ich außerhalb des Fitness-Studios, also außerhalb des Trainings selbst, eigentlich diese Gefühle gar nicht mehr aufgebaut habe und die Depression damit wieder begünstigt habe.“

Risiko von Überlastungsbrüchen, Herzstillstand oder Suizidgedanken

Aber nicht zum Sport zu gehen; ist für Jesko keine Option. Und wie für andere Betroffene kann die Spirale gefährlich werden: Der Leidensdruck wird immer höher und damit erhöht sich auch das Risiko von Überlastungsbrüchen, Suizidgedanken oder der Gefahr eines plötzlichen Herzstillstandes. Oft hilft da nur ein aufmerksames Umfeld, sagt Psychotherapeut Christian Strobel. „Ich würde sagen, nicht weggucken, hingucken! Ins Gespräch gehen und sagen: Hey darf ich mit dir drüber sprechen. Ich mach mir Sorgen, geht’s dir gut? Und zwar mit einer Empathie, mit einem Mitgefühl.“

Über Körperlichkeit sprechen

Strobel setzt sich dafür ein, dass schon im Kindesalter über Körperlichkeit gesprochen wird. Er selbst bietet in Schulen Kurse dazu an. Sowohl der Psychotherapeut als auch Jesko Nuhnen sehen aber auch die Fitness-Studios und -trainer in der Mitverantwortung. Claus Umbach, Präsident der Deutschen Fitnesslehrer Vereinigung, ist aber der Meinung: „Wenn das Mitglied jeden Tag kommt und dann immer dieses und jenes macht. Man kann immer nur Empfehlungen geben. Ja, ich kann es ja nicht verbieten im Studio.“
In der Fitnesstrainerausbildung wird laut Umbach nicht explizit über die Erkrankung aufgeklärt. Aber es werden Krankheitsbilder thematisiert und vor allem, dass Training endlich ist und wie Überlastungen vermieden werden können. Die Wahl des richtigen Fitness-Studios kann im Voraus schützen, sagt Umbach:
"Trainiert derjenige in einem Kettenstudio? Die Betreuung ist da sehr gering. In einem mittelständigen Sport- und Gesundheitszentrum da ist es wiederum anders. Da legt auch das Studio Wert auf eine qualifizierte Betreuung und hier sollte so etwas auch nicht vorkommen."

Therapie hilft den Körper zu akzeptieren

Vor fünf Jahren hat Jesko Nuhnen Glück. Einer seiner heutigen Freunde wird aufmerksam und bemerkt, dass es ihm schlecht geht. Der Freund spricht ihn an und weist auch die Trainer auf den Zustand hin. Langsam fängt er an zu realisieren, was er sich und seinem Körper antut. Jesko begibt sich in Therapie. Dort wird an drei Säulen gearbeitet: der Körperlichkeit, der Verhaltensebene und den psychischen Hintergründen.
„Wirklich sich einen Monat lang nicht im Spiegel anzugucken in ‘nem Tanktop oder halt oben ohne. Sondern, wenn du in den Spiegel guckst, nur mit ‘nem Pulli oder Jacke an. Und das war für mich so ein Punkt, der hat mir extrem geholfen. Weil man guckt sich ja meistens sehr oft und gerne auch im Spiegel an trotzdem. Aber das ist ja auch dieses Problem, dass man sich auf Grund dessen schlechter macht als man ist. Und dann nach diesem Monat sich selber zu sehen, da denkt man sich so: Boah, eigentlich hast du `ne echt krasse Form.“
Jesko lernt, sich durch die Therapie zu akzeptieren wie er ist. Und vor allem, dass er gut ist, wie er ist.