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Muslimbruderschaft
Erhellendes in neuen Werken

Nach dem Aufstieg im Arabischen Frühling und einer Regierungsbeteiligung sind die Muslimbrüder in Ägypten wieder verboten. Aktuelle Literatur über die Strukturen der Bruderschaft fehlte bislang auf dem deutschen Buchmarkt. Die Politikwissenschaftlerin Annette Ranko und die Journalistin Petra Ramsauer füllen diese Lücke nun.

Von Jan Kuhlmann |
    Anhänger der Muslimbruderschaft beim Beten in einer Moschee in Kairo
    Annette Ranko zeigt, dass die Muslimbrüder eine äußerst ambivalente Organisation sind. Sie vereinen unterschiedliche Flügel: radikale und moderatere, ultrakonservative neben liberaleren. (dpa / Vyshinsky Denis)
    Um die ägyptischen Muslimbrüder ranken sich etliche Verschwörungsmythen. Ihre Gegner sehen sie als islamistischen Wolf im Schafspelz. Die ägyptischen Machthaber haben sie als eine Terrororganisation gebrandmarkt. Doch ein so einseitig düsteres Bild wird der Bewegung nicht gerecht. Das macht die Wissenschaftlerin Annette Ranko in ihrem Buch über die ägyptische Gruppierung sehr deutlich. Sie zeigt, dass die Muslimbrüder eine äußerst ambivalente Organisation sind. Sie vereinen unterschiedliche Flügel: radikale und moderatere, ultrakonservative neben liberaleren.
    Erkennen lässt sich das etwa an ihrer Haltung zur Demokratie. Die Muslimbrüder bejahen sie prinzipiell. Sie wollen freie Wahlen, Gewaltenteilung und gleiche politische Rechte für alle. Allerdings sehen die Brüder für den Staat eine islamische Komponente vor, sagt Ranko.
    "Die einmal daraus besteht, natürlich dass die Scharia Hauptquelle des Rechts sein soll. Aber dieser islamische Referenzrahmen soll vor allem auch daraus bestehen, dass der Staat Hüter der islamischen Moral in der Gesellschaft sein soll. Das heißt, der Staat muss gewährleisten, dass eine ultrakonservative Moral herrscht, was wiederum die persönlichen Freiheitsrechte vor allem von Frauen einschränkt."
    So beschneidet das Demokratiemodell der Muslimbrüder bürgerliche Freiheitsrechte. Die Organisation steht für einen Dominanzanspruch des Islam. Ein koptischer Christ kann nach ihrem Verständnis nicht ägyptischer Präsident werden.
    Mubarak machte die Muslimbrüder ungewollt stark
    Annette Ranko hat als Mitarbeiterin des Hamburger Leibniz-Instituts für globale und regionale Studien, kurz GIGA-Institut, ihre Dissertation über die Muslimbrüder geschrieben – und dafür den Deutschen Studienpreis bekommen. Eine ihrer Erkenntnisse bei jahrelangen Recherchen: Stark gemacht hat die "Ikhwan", wie die Muslimbrüder auf Arabisch heißen, nicht zuletzt der mittlerweile gestürzte Diktator Hosni Mubarak – weil er alle anderen oppositionellen Kräfte zu Teilen des Systems degradiert habe, schreibt Ranko.
    "Diese strukturelle Schwächung der Oppositionsparteien war ein zentraler Faktor, der es begünstigte, dass die Muslimbruderschaft zur stärksten organisierten Opposition im Land aufsteigen konnte. Denn sie gewann Sympathie und Glaubwürdigkeit in der Gesellschaft, weil sie ihre politische Eigenständigkeit nicht dafür preisgab, Güter und Privilegien zu erhalten. Sie füllte (...) das schmerzliche Vakuum, das die Oppositionsparteien und deren simulierte Politik hinterlassen hatten (...)."
    Die Muslimbrüder sind erst nach und nach zu einer politischen Kraft geworden. Sie wurden 1928 gegründet. In ihren Anfängen ging es ihnen zunächst darum, den Islam im Alltagsleben durch Graswurzelarbeit und Bildung zu stärken. Popularität gewannen sie auch über ihre sozialen Dienste für die Millionen von Armen in Ägypten – sie sprangen dort ein, wo der Staat versagte. Etwa bei dem schweren Erdbeben 1992. Während der Staat die Opfer mit leeren Versprechungen vertröstete, leisteten die Brüder konkrete Hilfe. Sie organisierten eine medizinische Versorgung und gaben Verletzten Bargeld, wie die österreichische Journalistin Petra Ramsauer in ihrem Buch über die Organisation schreibt.
    "Jahrzehntelang war Ägyptens Führung bemüht gewesen, die Bruderschaft einzig als militante Gruppierung zu porträtieren, die an geheimen Terrorplots bastele, einen Coup vorbereite. Nun bekam das ganze Land ein anderes Gesicht zu sehen: ihre publikumswirksame Facette als kompetente Sozialarbeiter und Krisenmanager."
    Petra Ramsauer hält die Muslimbruderschaft für einen Geheimbund, der sich auf einen "langen Marsch an die Macht" begeben habe – eine sehr zugespitzte Wortwahl. Ramsauer nennt die Muslimbrüder eine "Supermacht" – ohne zu erklären, worin ihre Macht genau besteht.
    In Ägypten jedenfalls liegt die Organisation nach dem Sturz von Präsident Muhammad Mursi und einer nie gesehenen Verfolgungswelle am Boden. Trotzdem greift Ramsauer wichtige Punkte auf, die bei Ranko kurz ausfallen. Etwa die strengen Hierarchien der Muslimbrüder – und die geradezu hermetische Abschottung nach außen.
    "Nur jene Brüder, die sich gänzlich dem System verschreiben, werden in die engen Zirkel eingelassen. Dieses hoch selektive System, die äußerst lange Probephase führen dazu, dass nur jene in die Zirkel der Bruderschaft Eingang finden, die sich gänzlich mit der Bewegung identifizieren."
    Gescheitert an Selbstüberschätzung
    Erklären lässt sich dieser Habitus aus der Geschichte. Durch die Abschottung konnte die Organisation die massive Unterdrückung durch den ägyptischen Staat überleben. Als die Muslimbrüder dann aber nach dem Sturz Mubaraks an die Macht kamen, waren sie unfähig, ihr Verhalten zu ändern. Gleichzeitig konnten sie vor Kraft kaum laufen – bis es in Ägypten zu Massendemonstrationen gegen Mursi kam und die Armee den Islamisten stürzte. Die Muslimbrüder seien vor allem an einer Selbstüberschätzung ihrer Stärke gescheitert, sagt die Wissenschaftlerin Ranko.
    "Zum anderen war ein zweiter Fehler, den Mursi begangen hat, dass er gleich zu Beginn die nicht-islamistischen Oppositionellen vor den Kopf gestoßen hat. Beispielsweise bei der Regierungsbildung hat er nicht-islamistische Kräfte, andere Oppositionelle nicht einbezogen. Bei der Verfassungsgebung kam es zu ähnlichen Streitereien. Und man hatte das Gefühl, dass die Gruppierung jetzt sozusagen, wo sie am Zuge ist, ohne Rücksicht auf Verluste und ohne Möglichkeit für Kompromisse ihren eigenen Willen durchzieht."
    Stehen die Muslimbrüder vor einem Ende? Wohl kaum. Schließlich haben sie schon öfter existenzielle Krisen überlebt. Ranko befürchtet jedoch Gewalt von Mitgliedern der Organisation, sollte die ägyptische Führung die Muslimbrüder weiter massiv verfolgen.
    "Ich denke, dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass es dann zu einer Radikalisierung weiter Teile der Gruppierung kommen kann. Wobei immer festzuhalten ist, dass sich die oberste Führungsriege der Gruppe weiterhin pazifistisch offiziell geben wird, denn das war auch über die Geschichte hinweg immer der Fall."
    Das Buch der Hamburger Junior-Professorin ist eine äußerst gelungene weil kompetente Darstellung der Muslimbrüder. Das Porträt besticht durch eine präzise Charakterisierung der Organisation und einen sachlichen Ton, der nichts verharmlost, aber auch nicht überdramatisiert. Ramsauers Buch fällt etwas alarmistischer aus – blickt aber über Ägypten hinaus und liest sich gut als Ergänzung.
    Petra Ramsauer: "Muslimbrüder. Ihre geheime Strategie. Ihr globales Netzwerk."
    Molden Verlag, 208 Seiten, 19,99 Euro
    ISBN: 978-3-854-85329-9
    Annette Ranko: "Die Muslimbruderschaft. Porträt einer mächtigen Verbindung."
    Edition Körber-Stiftung, 164 Seiten, 14 Euro
    ISBN: 978-3-896-84157-5