Paris liegt nordwestlich von hier, 30 Kilometer hoffnungslos verstopfte Autobahnen entfernt. Hier wohnen die Pendler. Das Städtchen Ris-Orangis gehört zum Département Essonne. Architekten haben in den 60er-Jahren Wohnviertel hochgezogen, soziale Utopien standen Pate, aber es wurden soziale Brennpunkte daraus. Mit der steigenden Bevölkerungszahl explodierten die Probleme, eine Einwanderergeneration nach der anderen geriet in den Strudel von Gewalt, Waffen, Drogen, Prostitution, Jugendarbeitslosigkeit.
In der Rue Jean Moulin steht eine evangelische Kirche, eine Moschee, eine Synagoge, mittendrin eine Polizeiwache. Zehn junge Männer warten auf der Straße. Ihre familiären Wurzeln reichen bis Ghana, Mali, Guadeloupe, Elfenbeinküste. Alle tragen das Gleiche: Dunkle Hosen und Jacken, rote Pullover, beige Wildlederschuhe. Auch drei Frauen, die Erzieherinnen, sind identisch gekleidet. Die Gruppe wartet auf den Rabbiner.
"Guten Tag, verzeiht die Verspätung."
"Guten Tag, Monsieur Serfaty. Und hier die Jugend, die an diesem Treffen teilnehmen wird."
Rabbiner trifft auf Jugendliche aus dem sozialen Sumpf
Michel Serfaty ist der Rabbiner von Ris-Orangis. Die Jungs, die er an diesem Morgen begrüßt, leben im Internat. Im staatlichen Eingliederungszentrum EPIDE, das Jugendliche aus dem sozialen Sumpf holen soll. Geschaffen nach den Vorstadtunruhen 2005. Unterrichtet wird alles, was hilft, in der Gesellschaft und im Beruf Fuß zu fassen, von Bürgersinn bis Mathematik und Höflichkeit. Im Internat herrscht militärische Disziplin.
Das Eisengitter der Synagoge fällt hinter der Gruppe ins Schloss, im Eingangsbereich wird auf das Handyverbot am Sabbat hingewiesen, ein Plakat wirbt für ein Kolloquium: "Zusammenleben der Religionen, Illusion oder Realität?"
"Auf geht’s, kommt. Füße gut abtreten, geht durch in den zentralen Raum."
Der 76-jährige Rabbi hockt sich auf die Stufen an der Stirnseite des Gebetsraums. Er begrüßt zweisprachig.
Geboren in Marokko, Professor für semitische Sprachen in Frankreich, in seiner Jugend erfolgreicher Basketballspieler. 2003 wurde er von jungen Muslimen zusammengeschlagen. Das sei vergessen, sagt er heute. Geblieben ist sein Engagement. 2005 gründete er den jüdisch-muslimischen Freundschaftsverein AJMF. Mit einem Bus und muslimischen Gleichgesinnten tourt er seither durchs Land.
"Wir mussten nicht auf die Gelbwesten warten, um die Augen geöffnet zu bekommen über die Verschwörungstheorien, die bei den extremen Rechten und extremen Linken kursieren, untragbare Dinge wie: Die Juden besitzen die Medien, die Banken, beherrschen die Welt, etc."
Vorurteile gegen Juden kursieren in den Banlieues
Der Rabbiner und sein jüdisch-muslimischer Freundschaftsverein konzentrieren sich auf die Vorstädte, die jungen Muslime, die – wie Serfaty sagt – mit den Vorurteilen gegen Juden aufwachsen.
"In diesen Vierteln gibt es eine hohe Zahl von Schulabbrechern. Die höchste Arbeitslosigkeit. Vor allem in diesen Stadtteilen verbreiten sich antisemitische Parolen, ein Pamphlet wie die "Protokolle der Weisen von Zion" kursiert, salafistische Prediger sorgen für Verbreitung, und dann ist da die Kleinkriminalität, der Drogenhandel."
Der französische Staat hat 1.500 Stadtteile in ganz Frankreich zu sogenannten sensiblen Zonen erklärt, hierher fährt Michel Serfaty, wenn er nicht gerade Gruppen für die Aufklärungsarbeit in seine Synagoge bittet.
Der Rabbiner will den kritischen Geist der jungen Menschen schärfen, damit sie nicht jede Verschwörungstheorie glauben, die sie hören.
"Gut, fangen wir an. … Lasst uns reden. Habt Ihr Fragen? Ihr möchtet, dass wir von mir sprechen?"
"Ich wirke wie ein Riese, einer von der Rasse der Riesen, fast zwei Meter, aber ich sag Euch, man schrumpft mit dem Alter ..."
Keine heiklen Religionsthemen in den Klassenzimmern
Im Laufe der Jahre ist auch seine Gemeinde geschrumpft, Freunde und Angehörige sind nach Israel gegangen. Serfaty ist in Frankreich geblieben, mit seiner Botschaft: "Seht her, ich bin ein Jude, man muss mich nicht hassen".
Frankreichs laizistische Schule lehre nichts über Religion, kritisiert er. Das öffne den Vorurteilen Tür und Tor.
"Welches Etikett werde ich mir geben? Ihr wisst, was ein Etikett ist? Man hängt es an die Wand, an ein Tor. Welches Etikett gebe ich mir? Sprecht, bewegt Euch …"
"Lauter". "Ein religiöser Anführer? Bravo. Ja, das ist gut."
"Und wie heißt der religiöse Anführer in der Moschee? Genau, der Imam. Bravo! Und in der Kirche? Lauter! Genau … le Curée. Genau! Zögert nicht, hier seid Ihr zu Hause!"
Antisemitismus alarmiert Frankreich
Michel Serfaty ist ein Eisbrecher. Er erklärt in diesen zwei Stunden jüdische Rituale, spricht vom Holocaust und erwähnt den aktuellen Antisemitismus in Frankreich. Die meisten Jugendlichen an diesem Tag haben interessiert zugehört. Als die Reißverschlüsse der Jacken wieder hochgezogen werden, sind viele ihrer Fragen beantwortet: Wozu die Kippa, wann betet ein Jude, was ist Sabbat, was heißt koscher?
"Das ist interessant, etwas zu lernen und wenn Freunde danach fragen, kann ich was erklären, bevor sie über Juden urteilen, sehr interessant, Juden und Muslime sind sich teils ähnlich", sagt Hakim beim Rausgehen.
Djerbil steht daneben: "Es sind doch auch Vorurteile, dass sich Juden und Muslime hassen. Das stimmt nicht. Ich habe ja auch akzeptiert, hierherzukommen, ich bin Moslem. Das ist kein Problem."