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Muslime in Europa
Europäisiert, aber immer noch unter sich

Schätzungsweise gibt es rund 13,5 Millionen Muslime in Europa. Muslimisches Leben gehört heute zum Alltag, doch über das alltägliche Leben derer, die sich dem Islam zugehörig fühlen, wissen so manche wohl eher wenig. Die französisch-türkische Soziologin Nilüfer Göle bringt mit einer neuen Studie Klarheit.

Von Suzanne Krause |
    Muslime knien auf dem Boden und sprechen ein Friedensgebet gegen Extremismus in Berlin.
    Muslime knien auf dem Boden und sprechen ein Friedensgebet gegen Extremismus in Berlin. (imago/Mike Schmidt)
    Die ersten Migranten aus islamischen Ländern kamen vor über einem halben Jahrhundert nach Europa: Deutschland warb Gastarbeiter in der Türkei an, Frankreich erhielt Zustrom aus den ehemaligen Kolonien in Nordafrika, Großbritannien aus Pakistan. Damals definierten öffentliche Meinung und Medien diese Einwanderer über ihr jeweiliges Herkunftsland, sagt Nilüfer Göle. "Mittlerweile spricht keiner mehr von den arabischen Migranten in Frankreich, von den türkischen Einwanderern in Deutschland, von den pakistanischen in England. Sondern nur noch von Muslimen. So wird die Bevölkerungsgruppe dieser Migranten europäisiert."
    Zudem nun als angebliche Einheit definiert, ungeachtet der Herkunftskultur, der spezifischen religiösen Praktiken der unterschiedlichen Migrantengruppen. Während gleichzeitig der Islam immer mehr zum Feindbild gerät. Nährboden für das Erstarken populistischer Kräfte wie den rechtsextremen Front National in Frankreich, der seit Langem rund um eine angebliche Islamisierung Ängste schürt. Und die Frage nach der europäischen Identität aufgeworfen hat. Ein Thema, mit dem sich bislang kaum ein Bürger auseinandergesetzt hatte.
    Muslimischen Bürger wollen sich zuhause fühlen
    Nun entbrennt darum regelmäßig eine öffentliche Diskussion, sobald eine Schülerin verschleiert im Unterricht erscheint, muslimische Gemeinden wegen Raummangels auf der Straße beten. Und immer wieder vermitteln Medien, die Integration sei gescheitert. Die Realität jedoch sei eine ganz andere, stellt Göle in ihrer soziologischen Studie klar.
    "Die erste Einwanderer-Generation blieb unauffällig: Sie war nicht vertraut mit der Sprache und den kulturellen Codes des Aufnahmelands. Hannah Arendt sagte: Seine Präsenz und seine Eigenheit auszudrücken, bedeutet einen staatsbürgerlichen Akt. Wer Schleier trägt, die Baugenehmigung für eine Moschee beantragt, Halal konsumiert, verleiht seiner Präsenz in der Öffentlichkeit Ausdruck, bezeugt, Akteur zu sein, Bürger der Gesellschaft. In der Post-Migrations-Phase wollen sich die muslimischen Bürger zuhause fühlen, denn dies ist nun ihre Heimat. In den Medien werden die Muslime oft entweder als Opfer oder als Provokateure dargestellt. Sich sichtbar zu machen, bedeutet, im Austausch mit der Gesellschaft zu seiner Eigenart zu stehen."
    Vier Jahre lang, ab 2009, hat die französisch-türkische Soziologin 21 europäische Städte bereist, war überall dort, wo der Islam für Schlagzeilen und Kontroversen gesorgt hatte. Wie in Köln, wo ein Moschee-Bauprojekt die Wogen hochgehen ließ. Für ihre Terrain-Forschung, mit EU-Mitteln finanziert, organisierte Göle Gesprächsrunden. Foren für all die, die im Alltag sonst nie angesprochen werden: ganz normale Muslime.
    Beitritt zur europäischen Kulturzone
    Im Buch porträtiert Göle beispielsweise Salima, eine 28-jährige Französin algerischer Abstammung, auf Karrierekurs im Genfer Finanzsektor. Eine moderne Business-Frau – die sich mit kritischem Geist zum Islam bekennt.
    "Befragt, was sie von der Anwendung der Scharia bei Ehebrechern halte, antwortet Salima nach kurzem Zögern: 'Ich bin eine Frau und hier in Europa geboren - dass Ehebrecher gesteinigt und ausgepeitscht werden können, schockiert mich sehr. Für mich wäre es heute undenkbar, mich solch einer Behandlung zu unterwerfen.' Als jemand, der 'hier' geboren wurde, sagt sie, von solchen Strafen 'schockiert' zu sein und sie bestätigt ohne jeglichen Komplex ihren Beitritt zur europäischen Kulturzone."
    Nicht nur Salima denke so, versichert die Soziologin. Ihre Feldforschung belege, dass die hiesigen Muslime mehr und mehr einen 'europäischen Islam' entwickeln.
    "Die europäischen Muslime orientieren sich weniger an der Scharia, also den Verboten. Sie richten ihr Alltagsleben lieber aus nach den Regeln des Halal - also all dem, was erlaubt ist. Das betrifft nicht nur das Essen, sondern auch Musik, Theater, islamische Finanzregeln. Das ist für mich ein Wesenszug des europäischen Islam, der sich weltweit verbreitet."
    Gleichberechtigung noch nicht in Sicht
    In "Muslime im Alltag" verwebt die Autorin eine profunde Bestandsaufnahme der Geschichte islamischer Einwanderung mit Aussagen junger europäischer Muslime. Ein ambitionierter interkultureller Brückenschlag. Die renommierte Tageszeitung "Le Monde" widmete dem Buch eine ganzseitige Besprechung, denn: Das Werk bringe dem vom Islam besessenen Frankreich eine große Brise Frischwind. Während die Online-Zeitung Mediapart resümiert: "Praktizierende oder Nicht-Praktizierende, Einwanderer oder Konvertiten, Feministen oder Imame: Diese Porträts, die man in den Medien-Polemiken rund um den Islam nie findet, erzählen eine andere Geschichte als die vom Aufeinanderprallen der europäischen und muslimischen Zivilisation, ein sowohl bei der radikalen Rechten als auch den Dschihadisten beliebtes Schreckgespenst."
    Nilüfer Göle skizziert eine Vision, eine neue Gesellschaft, in der sich die europäischen Muslime gleichberechtigt einbringen können. Davon scheint die Mehrheitsgesellschaft noch weit entfernt.
    "Die Muslime, die ich zu meinen Gesprächsgruppen einlud, erschienen. Sie wollten diskutieren, mit Andersdenkenden zusammenkommen. In Berlin beispielsweise lief es katastrophal ab: Die einzigen deutschen Nicht-Muslime, die überhaupt kamen, blieben nicht. Da drehten sich die Muslime zu mir um und sagten: Ein Mal mehr finden wir uns nur unter uns wieder."
    Nilüfer Göle: "Musulmans au Quotidien. Muslime im Alltag – Eine europäische Studie zu den Kontroversen rund um den Islam", Cahier libres, 240 Seiten, 20 Euro