"Welcome to India! You are really officially in India now."
Ein kleines Stück Indien, mitten in Jerusalem: Das hier ist nicht etwa die Botschaft, sondern das indische Hospiz, am Löwentor der Altstadt gelegen. Der Mann, der die Gäste begrüßt, ist der Sohn des Hausherren:
"Ich bin Nazeer Ansari, der Sohn des derzeitigen Direktors und Verwalters, Scheich Mohammed Muni Ansari. Wir stammen von der Ansari Familie ab. Mein Großvater kam im Jahr 1924 aus Indien und er wurde der Direktor des indischen Hospizes."
Sufi-Pilgerstätte: Beten unter der Erde
Nazeer Ansari, 60 Jahre alt, elegante braune Lederschuhe, hellblaues Hemd, randlose Brille, führt durch den Innenhof - ein grünes, ruhiges Idyll, umringt vom bunten Treiben des muslimischen Viertels. Das Hospiz dient als kostenlose Unterkunft für Besucher aus Indien. Etwa zwei bis drei kommen pro Monat, erzählt Ansari.
Seit fast hundert Jahren kümmert sich die muslimische Familie um das Hospiz. Bis heute haben die Ansaris indische Pässe, selbst die Urenkel –obwohl alle Männer der Familie Palästinenserinnen geheiratet haben. Das Hospiz befindet sich in den Händen der indischen Waqf, einer islamischen Stiftung. Finanziert wird sie durch Zuschüsse vom indischen Staat sowie durch Mieteinnahmen von Ladenflächen außerhalb der Anlage, erzählt Nazeer Ansari. Die Geschichte des Ortes reiche weit zurück:
"Die Bedeutung dieses Ortes beginnt vor rund 800 Jahren. Damals kam der indische Sufi-Gelehrte Baba Farid auf seiner Pilgerfahrt ins Heilige Land. Und hier, an diesem Ort, blieb er, 40 Tage hat er meditiert. Nachdem er wieder gegangen war, kamen indische Pilger in die Nähe dieses Ortes. Daraus wurde dann die heutige Anlage."
Der Sufismus ist die mystische Strömung des Islam, bekannt für die tanzenden Derwische. Aber auch die Meditation ist für einige Sufis zentral.
Nazeer Ansari führt zu einem Raum mit einer niedrigen Tür. Man muss den Kopf einziehen, um in den Raum zu gelangen. Es riecht nach Räucherstäbchen, an der Wand hängen Zeichnungen des Sufi-Gelehrten Baba Farid mit Turban und weißem langen Bart. Am Ende des Raumes führt ein Loch mehr als einen Meter in ein Kellergeschoss zu zwei weiteren Räumen. Hier soll Baba Farid 40 Tage lang meditiert haben.
"Das ist das Baba Farid Tschella. Tschella ist Hindi und bedeutet 40. Die Sufis sind sehr hingebungsvolle Muslime, sie sind sehr bodenständig. Deshalb ist der Ort ihres Gebets auch unter der Erde. Der Raum, in dem er sich aufhielt, war unterirdisch."
Muslime aus verschiedenen Regionen Afrikas und Asiens
Nicht nur aus Indien, auch aus Ländern wie dem damaligen Emirat Buchara, heute in Usbekistan gelegen, oder aus Afghanistan pilgerten Anhänger des Sufismus nach Jerusalem. In einer abgelegenen, ruhigen Gasse des muslimischen Viertels steht der Gebäudekomplex al-Zawiya al-Qadiriyya. Eine ehemalige Pilgerunterkunft für Afghanen, benannt nach dem Sufi-Gelehrten Abd al-Qādir al-Dschīlānī, der im 11. und 12. Jahrhundert im Irak aktiv war. Einige Pilger blieben. Heute leben noch wenige Familien mit afghanischen Wurzeln in diesem Gebäudekomplex. Doch nicht nur die Sufis kamen als Pilger nach Jerusalem:
Direkt neben dem Rats-Tor, einem der elf Eingänge zum Tempelberg, wohnen rund 40 bis 50 Familien mit Wurzeln im Tschad, im Senegal, in Nigeria und Süd-Sudan. Moussa Qous ist einer von ihnen. Er führt hinter eine Eisentür in den Innenhof des Gebäudekomplexes aus der Zeit der Mameluken.
"Zur Zeit des Osmanischen Reiches dienten diese Gebäudekomplexe als Gefängnisse, wurden aber von den Briten 1917 geschlossen", sagt Moussa Qous. "Zu jener Zeit waren die Afrikaner bereits in Jerusalem präsent, die meisten arbeiteten in der Moschee und während des Osmanischen Reiches waren einige von ihnen sogar damit beauftragt, die Türen der al-Aqsa-Moschee zu schließen und zu öffnen. Sie waren sehr religiös und gottesfürchtig und wollten der al-Aqsa-Moschee sehr nahe sein. Die islamische Waqf mietete deshalb diese Gebäude für die Afrikaner. Und seit 1917 leben wir hier."
Moussa Qous trägt ein helles Shirt, die Haare sind angegraut, die Haut dunkelbraun. Er ist hier geboren, sein Vater stammt aus dem Tschad, die Mutter ist Palästinenserin.
Pilger wollten die al-Aqsa-Moschee verteidigen
"Mein Vater kam hierher, nach seiner Pilgerreise nach Saudi-Arabien. Er wollte Jerusalem besuchen und hier beten, das war 1942. Danach, als Israel sich etablierte, da wollte er bleiben, um die al-Aqsa-Moschee zu verteidigen."
Der damalige Mufti von Jerusalem, Haj Amin al-Husseini, der eng mit dem NS-Regime in Berlin kollaborierte, schürte die Angst, jüdische Einwanderer könnten den Muslimen den Tempelberg streitig machen. Ihm missfiel die Einwanderung von Juden ins damalige Mandatsgebiet Palästina. Er warnte davor, die al-Aqsa-Moschee sei in Gefahr. Die Pilgerfahrt einiger Muslime in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts muss auch vor diesem historischen Kontext betrachtet werden. Moussa Qous spricht –anders als die meisten Muslime, die nur religiöse Gründe nennen – ganz offen:
"Zum einen gab es religiöse Gründe. Doch bevor Israel gegründet wurde, schuf die Arabische Liga die arabische Befreiungsarmee, und einige Afrikaner kamen freiwillig, um die zionistische Bewegung zu bekämpfen. Als die Befreiungsarmee besiegt wurde, blieben manche hier."
Wie noch heute vermischten sich bereits damals Politik und Religion. Seit der Staatsgründung Israels und der Eroberung und Annexion Ostjerusalems 1967 können Muslime aus dem Ausland zwar nicht mehr in Jerusalem bleiben, pilgern dürfen sie aber nach wie vor. Laut israelischem Tourismusministerium besuchten im vergangenen Jahr rund 100.000 Muslime Israel. Sie kommen aus Indonesien, Malaysia, der Türkei und Jordanien. Einzige Voraussetzung heute ist, sie kommen nicht aus Ländern, die sich als Feinde des jüdischen Staates verstehen.