"Als mein Mann verschwunden ist, haben seine Anwaltskollegen vor lauter Angst Reißaus genommen. Das ist keineswegs zum ersten Mal geschehen. Aber das Verschwinden meines Mannes ist der erste Fall, der vor Gericht gekommen ist. Andere Familien haben große Angst und wagen nicht, Gerechtigkeit einzufordern. Hinzukommt, dass die meisten Thailänder Buddhisten sind und alles, was geschieht, als ihr Karma, als schicksalhaft, betrachten", sagt Angkhana Neelapaijit.
Am 12. März 2004 ist der Menschenrechtsanwalt Somchai Neelapaijit verschwunden. Seitdem pendelt seine Frau, die thailändische Muslimin Angkhana Neelapaijit, regelmäßig zwischen Bangkok und den südlichen Provinzen Yala, Narathiwat und Pattani hin und her, um die Hintergründe der mutmaßlichen Ermordung ihres Mannes aufzuklären und um ihren Glaubensbrüdern und -schwestern beizustehen.
Blutige Auseinandersetzungen im Süden Thailands
In dieser Region Thailands leben etwa 1,8 Millionen Muslime. Seit langem kämpfen Rebellengruppen aus ihren Reihen hier für einen eigenen Staat. Im Zusammenhang mit diesen Auseinandersetzungen sind im tiefen Süden Thailands viele Tausend Menschen umgekommen. Nicht nur, weil die Separatisten vor Mord und Totschlag nicht zurückschrecken, sondern auch, weil die staatlichen Sicherheitskräfte muslimische Dorfbewohner nicht selten willkürlich verhaften, foltern und verschwinden lassen.
Angkhana Neelapaijit: "Wie viele Menschen aus dem Süden dadurch ums Leben gekommen sind, lässt sich nicht exakt beziffern. Der UN liegen für ganz Thailand 82 dokumentierte Fälle verschwundener Personen vor. Wo auch immer ich mich aber umhöre, sagt man mir, dass die Zahl erheblich höher sein muss, weil die Angehörigen der Polizei nicht trauen und die Verschwundenen deshalb nicht melden."
Von den thailändischen Medien wird alles, was ein schlechtes Licht auf die Regierung oder das Königshaus werfen könnte, totgeschwiegen. Deshalb schaltete Angkhana Neelapaijit auf der Suche nach dem Verbleib ihres Mannes den arabischen Sender "Al Jazeera" ein.
Kein Vertrauen in die Polizei
Kurz bevor er verschwand, hatte Somchai Neelapaijit fünf muslimische Klienten betreut, die der Anstiftung zum Aufstand in einem Armeelager in Südthailand bezichtigt wurden. Als Vertreter der Angeklagten hatte der Anwalt für Freispruch plädiert. Als langjähriger Kenner der Sachlage im von Unruhen geplagten Süden, appellierte er an die Armee, das kurz zuvor verhängte Kriegsrecht in der Region aufzuheben. Dies und der wiederholte Einsatz für seine Glaubensbrüder, die sich an ihn wandten, weil sie von Polizisten und Armeemitgliedern misshandelt und gefoltert worden waren, hatte Somchai Neelapaijit immer wieder Morddrohungen eingebracht.
Angkhana Neelapaijit: "Die Staatsbeamten vernichten alle Beweismittel, auch die Leichen lassen sie verschwinden. Wie traumatisierend das für die Angehörigen ist, interessiert sie nicht im Geringsten. Wenn wir wollen, dass all das aufhört, dürfen wir unsere Augen nicht länger davor verschließen. Sonst wird es immer so weitergehen."
Separatisten wollen unabhängigen Staat im Süden zurück
In dem nicht enden wollenden Konflikt im tiefen Süden Thailands kamen und kommen sowohl Buddhisten als auch Muslime zu Tode. Die in der Region lebenden Buddhisten sind den muslimischen Rebellen ein Dorn im Auge, weil sie der 94-Prozent-Bevölkerungsmehrheit Thailands angehören und damit als Feinde gelten. Muslime wiederum werden von den muslimischen Rebellen attackiert, wenn der Verdacht besteht, sie könnten mit der Zentralregierung in Bangkok kooperieren. Konflikte bestehen also sowohl zwischen verschiedenen Religionen als auch innerhalb der muslimischen Bevölkerung. Von EINER muslimischen Gemeinschaft kann man nicht sprechen.
Seit zu Beginn des 20. Jahrhunderts das damals Siam genannte Thailand das Sultanat Pattani einnahm, sei die Region nicht mehr zur Ruhe gekommen, sagt der Konfliktforscher Matthew Wheeler von der "Crisis Group South East Asia".
"In den südlichen Provinzen Pattani, Narathiwat und Yala leben besonders viele Muslime, aus deren Reihen in den 1960er-Jahren eine Rebellenformation entstanden ist. Die muslimischen Aufständischen aus Thailands Süden sind Teil einer Befreiungsbewegung, die damals weltweit ihre Kreise zog. Die malaiischen Muslime sahen es so: Nicht sie waren nach Thailand, nein, Thailand war zu ihnen gekommen - im Zuge einer Vereinnahmung, indem man sie kolonialisierte. Die muslimischen Rebellen greifen also zu den Waffen, weil sie sich in einem nationalen Freiheitskampf wähnen, dem Kampf um einen unabhängigen malaiischen Staat in den südlichen Provinzen."
Pattani war bis zur Einnahme durch das heute Thailand genannte Siam ein unabhängiger Staat, dessen Bewohner in der Mehrzahl muslimische Malaien waren. Nach einem Aufstand schuf die Zentralregierung Fakten, indem sie mehrere hundert buddhistische Familien in der Region ansiedelte. In der Folge führte dies immer wieder zu ethnisch-religiösen Konflikten, derer sich die militanten Kräfte unter den Muslimen von Beginn an gern bedienten.
"Muslime sollten ‚Thai-Identität‘ annehmen"
Doch während die Separatisten den Kampf um die Unabhängigkeit vom buddhistischen Zentralstaat mit aller Härte und Gewalt führen, sind viele andere Muslime aus dem Süden nicht nur mit der Wahl der Mittel nicht einverstanden. Sie wollen vor allem, dass die Scharmützel endlich aufhören und dass sie ihre malaiische Kultur und ihren eigenen Dialekt pflegen dürfen.
Matthew Wheeler: "Verschiedene thailändische Regierungen haben in der Vergangenheit versucht, die Malay-Muslime zu assimilieren. Der Ansatz war, sie dazu zu bringen, ihre alte Identität zugunsten einer neuen, einer "Thai-Identität", aufzugeben. In den 1940er-Jahren etwa gab es dazu ein Potpourri von Kleidungsvorschriften für die Muslime im Süden. Außerdem wollte man ihnen vorschreiben, wie sie zu sprechen und sich zu verhalten hätten, um als Vertreter des ‚modernen thailändischen Staates‘ durchzugehen. Das sorgte unter den Muslimen für Groll und schürte die Abneigung, die sie dem Staat gegenüber hegten.
In den 1960er-Jahren versuchte man, auf die Islamschulen, die Pondoks, einzuwirken. Diese sind ein Hort der Traditionen und Glaubensvorstellungen der malaiischen Muslime und die Versuche, die Pondoks zu beschränken, brachten Angst und Verunsicherung hervor. Seit etwa 50 Jahren fährt die Zentralregierung aber zumindest offiziell einen anderen Kurs. Im Zuge dessen sollen aus den malaiischen Muslimen sogenannte ‚Thai-Muslime‘ werden."
"Regierung erkennt Konflikt nicht an"
Dieser bis heute nicht definierte Ansatz entschärfte die Situation zwar, ergänzt der Sicherheitsberater Don Pathan von der "Asia Foundation". Aber ein solches Lippenbekenntnis trage nicht dazu bei, den Muslimen in Thailands Süden das Gefühl zu nehmen, Bürger zweiter Klasse zu sein.
Don Pathan: "Das Regime erkennt nicht einmal an, dass es sich hier um einen Konflikt handelt. Die malaiischen Muslime im Süden werden schlicht als undankbar dargestellt – als Menschen, die das thailändische Staatskonzept nicht anerkennen wollen. Und die Rebellen, die als eine Horde Krimineller bezeichnet werden, natürlich an erster Stelle. Dem gängigen Narrativ nicht zu folgen, rächt sich. Weil unsere Mehrheit hierzulande ausgesprochen hart und unversöhnlich sein kann, vor allem, wenn das Staatskonzept in Zweifel gezogen wird."
"Dieses Land ist ein Schmelztiegel"
Don Pathan: "Das Gerüst dieses Konstrukts bilden die Monarchie, die Religion und die Nation. Streng genommen sind die meisten thailändischen Staatsbürger aber nicht einmal Thailänder, weil sie nicht zu einer der vier anerkannten ethnischen Gruppen gehören. Dieses Land ist ein Schmelztiegel."
"Ein Großteil dieser Bevölkerungsgruppen, die nicht per se Thai sind, zum Beispiel Chinesen, Khmer, Personen, die aus Myanmar kommen - diese Gruppen wurden sehr erfolgreich in Thailand integriert", sagt der Soziologe und Konfliktberater Norbert Ropers.
"Die einzige bemerkenswerte Nicht-Thai Gruppe in Thailand sind die Malay Muslims im Süden des Landes. In der Hinsicht kann man sagen, dass diese die einzige Gruppe ist, bei der es der thailändischen politischen Elite nicht gelungen ist, sie in den Staat zu integrieren."
"Für die Pattani-Malaien ist diese Region ihre Heimat"
Umso schlimmer, dass die zu ihnen gehörenden Rebellentruppen ihren Glaubensschwestern und -brüdern einen Bärendienst erwiesen, indem sie einen blutigen Kampf mit vielen Toten führten.
Norbert Ropers erklärt: "Das Problem ist: Die Widerstandsbewegung der Malay-Muslime im Süden drückt sich auch in Anschlägen gegenüber dem Staat aus, das heißt, sie stellen das Gewaltmonopol des Staates infrage. Und das ist aus ihrer Sicht das wichtigste Instrument, das sie haben, um ihre eigenen Forderungen nach Selbstbestimmung zu unterstreichen. Aber letztlich können diese Konflikte nur beigelegt werden, wenn Kompromisse eingegangen werden."
Der Sicherheitsberater Don Pathan von der Asia-Foundation sagt:
"Die Inder dagegen etwa, die Pakistaner oder die chinesischen Muslime - alle haben sich praktisch nahtlos eingefügt. Aber vergessen Sie bitte nicht: Sie alle sind aus anderen Ländern hierhergekommen. Für die Pattani-Malaien dagegen ist diese Region ihre Heimat."
Viel Armut, kaum Bildungschancen
Die Provinzen, in denen sie leben, sind wirtschaftlich kaum entwickelt. Das in Bangkok residierende Regime schenkt Geld und Aufmerksamkeit lieber der Hauptstadt und den touristischen Metropolen des Landes. Die meisten thailändischen Muslime seien arm und viele ihrer Kinder hätten keinen Zugang zur Schulausbildung, betont Matthew Wheeler.
Wheeler: "Die Muslime im tiefen Süden weisen einen deutlich niedrigeren Bildungsstand auf als die Buddhisten in der Region. Das korrespondiert mit der wirtschaftlichen Situation der muslimischen Bevölkerung und mit ihrem Einkommen. Die drei südlichen Provinzen, in denen überwiegend Muslime leben, gehören definitiv zu den ärmeren Gebieten des Landes."
Die Situation der im tiefen Süden Thailands lebenden Muslime ist also unverändert schlecht. Dies und die Tatsache, dass der Konflikt zwischen Bangkok und dem muslimischen Süden bis heute nicht gelöst werden konnte, beruht nicht zuletzt auch auf den problematischen politischen Verhältnissen. Seit 1932, mit Beendigung der absoluten Monarchie, wurde in Thailand 13 Mal die Regierung gestürzt. Keine dieser Regierungen konnte sich über Strategien zur Beilegung der Auseinandersetzungen einig werden. Nach dem Sturz von Ministerpräsident Thaksin Shinawatra durch das Militär im Jahre 2006 geriet das langwährende Zerwürfnis dann fast völlig in den Hintergrund, weil Thaksins Anhänger, die sogenannten "Rothemden" und ihre Kontrahenten, die "Gelbhemden", Thailands Innenpolitik in Atem hielten. Bis Thaksins Schwester und Nachfolgerin 2013 einen neuen Anlauf nahm: Yingluck Shinawatra brachte Vertreter aus den Reihen der Muslime, der Regierung und Vermittler aus dem Nachbarland Malaysia an einen Tisch.
Und wenn es in dieser nicht endenwollenden Auseinandersetzung dennoch einen Hoffnungsschimmer gebe, darin sind Matthew Wheeler, Norbert Ropers und Don Pathan sich einig, dann liege das an den erst in diesem Jahr wieder aufgenommenen Friedensgesprächen, die momentan nur der Corona-Krise wegen ausgesetzt sind.
Hoffnungsschimmer: Friedensgespräche
Wheeler erklärt: "Seit 2013 gibt es diesen Dialog zwischen den militanten muslimischen Gruppen und der Zentralregierung. Bemerkenswert ist, dass neuerdings auch wieder Vertreter der größten Rebellenformation, der BRN, am Tisch sitzen, was in den letzten 5 Jahren nur selten der Fall war. Das Jahr begann mit einem Gespräch am 20. Januar und Folgetreffen der beiden Delegationen am 2. und 3. März."
Ropers: "Die große Frage ist: Wäre die Widerstandsbewegung damit einverstanden, dass eine Selbstbestimmung auch innerhalb eines thailändischen Staates erfolgen kann? In dieser Hinsicht ist die thailändische politische Elite bisher extrem zurückhaltend gewesen. Die Botschaft an die Widerstandsbewegung ist: Wir sind ein einheitlicher Staat und was immer verhandelt werden kann, kann nur verhandelt werden im Rahmen der aktuellen thailändischen Verfassung. Auf diese Weise eine Lösung des Konfliktes zu finden, kann man sich nur in sehr kurzen, schmalen Schritten vorstellen."
"Internationale Gemeinschaft sollte vermitteln"
Don Pathan: "Die Zentralregierung sollte ihr bisheriges Narrativ endlich erweitern. Ein Beispiel nur: die Sprachenpolitik. Warum nicht neben dem Thai das Malaiische als Zweitsprache einführen? Das wäre zum einen sehr praktisch, weil im Süden, wo ich lebe, die meisten Leute nicht gut Thai sprechen können. Zum anderen aber würde man damit die Menschen vor Ort für sich gewinnen."
Und noch etwas, sagt Don Pathan. Gerade jetzt, da die wichtigste Rebellengruppe BRN an den Friedensgesprächen teilnehme, sei es ein Muss, internationale Mediatoren dabei zu haben.
Don Pathan: "Vergessen wir nicht: Die BRN folgt strengen religiösen Richtlinien. Die Mitglieder dieser Gruppierung kennen sich mit dem Koran aus und wissen, was sie wollen – aber sie haben keinerlei Erfahrung damit, wie bindende Vereinbarungen ausgehandelt und umgesetzt werden. Da könnte die internationale Gemeinschaft vermitteln. Denn was nutzt es, Verträge mit einem Partner abzuschließen, der nach 2, 3 Jahren wieder den bewaffneten Kampf aufnimmt? Und das nur, weil man auf einmal realisiert, was man sich da eingebrockt hat."
Perspektive Dezentralisierung?
Was man sich da eingebrockt hat, lässt sich nach Ansicht des Konfliktforschers Matthew Wheeler nur schrittweise entschärfen: "Ein verheißungsvoller Lösungsansatz könnte die Dezentralisierung Thailands sein. Das System besteht seit über 100 Jahren unverändert. Thailand ist ein zentralisierter Staat. Die Provinzen des Landes werden von Gouverneuren geführt, die Bangkok unterstellt und nicht weisungsbefugt sind. Die meisten, denen die Problematik mit den Muslimen geläufig ist, sind sich darin einig, dass eine Dezentralisation diesen Konflikt deutlich entschärfen könnte. Weil man sich dann in den betroffenen Provinzen der individuellen Bedürfnisse der Menschen besser annehmen könnte. Zugleich würde damit ihr Zugehörigkeitsgefühl gestärkt. Sie würden in einer Provinz und in einem Staat leben, von dem sie gehört werden, indem sie eine Stimme haben."
Während die leidvollen und auch auf lange Sicht nur schwerlich erfüllbaren separatistischen Bestrebungen damit keine Nahrung mehr fänden, betont Matthew Wheeler.
Wheeler: "Zugleich bliebe so auch die territoriale Integrität Thailands gewahrt. Ein wichtiger Punkt, denn eine Dezentralisierung wäre verfassungskonform. Über kurz oder lang könnte dies der Weg sein, der endlich Frieden in die Region bringt. Die Lösung für einen Konflikt, der über so viele Jahre hinweg großes Leid erzeugt hat."