Ebrahim Moosa hätte es sich in seiner Heimat Südafrika einfacher machen können. Sein Vater erwartete von ihm, das elterliche Geschäft zu übernehmen. Aber seine Mutter, die aus Indien stammt, unterstützte ihn in seinem Wunsch, sich intensiv der Religion zuzuwenden.
"Als ich 18 Jahre alt war, hatte ich das dringende Bedürfnis zu wissen, was denn nun der Islam genau sei. Ich hatte die Wahl, an eine Universität zu gehen oder eben an eine traditionelle Schule, eine Madrasa. Und für mich war das genau der richtige Ort, an dem ich einen authentischen Islam erlernen konnte, eben ein Ort einer seit Jahrhunderten gelebten muslimischen Tradition."
Moosa ging nach Indien, insgesamt für sechs Jahre, und besuchte verschiedene Madrasas im Norden und Süden des indischen Subkontinents.
Der Begriff Madrasa sei weit verbreitet und gelte für viele Formen religiöser Bildung: von der Sonntagsschule für junge Muslime bis hin zur Intensiv-Betreuung im Internat. Ebrahim Moosa entdeckte dort für sich das, was für ihn eine Art Gesamt-Kosmos muslimischer Bildung darstellt.
"Dort lernt man hermeneutisch zu denken, den Islam auf komplexe Weise zu interpretieren. Man studiert islamisches Recht, islamische Theologie und Philosophie, den Koran und die Hadithe, arabische Grammatik und arabische Literatur. Man kann schon sagen, dass die Madrasas den Schülern alle traditionellen muslimischen Normen und Werte beibringen. Und es geht um die humanistischen Traditionen im Islam. Es ist eine Kombination von allem."
Allerdings erlebte er auch manche Schattenseiten eines sittenstrengen Regiments. Jeglicher Medienkonsum war verpönt, genauso wie Sex oder Kontakte nach draußen. Schüler sollten zudem keine westliche Kleidung tragen. Schockierend für ihn: Die Lehrer hielten sich nicht immer an die eigenen Regeln. Auch beobachtete er sexuellen Missbrauch: Schüler wurden von homosexuellen Lehrern behelligt. Deswegen aber alle Madrasas in der muslimischen Welt als verkommen oder indoktrinierend anzusehen, ist für Ebrahim Moosa zu simpel. Der Eindruck, wonach alle muslimischen Madrasas Hochburgen des djihadistischen Terrors wären, sei falsch.
"Wenn man heute das Wort Madrasa benutzt, denken viele Menschen vor allem im Westen, das seien gefährliche Orte. Und in der Tat gibt es solche etwa in Pakistan, die die Taliban unterstützen. Aber die Mehrheit der Madrasas tut das nicht. Ihnen geht es allein darum, traditionelles islamisches Wissen zu vermitteln. Und eine große Zahl von ihnen – etwa in Südasien – steht in Opposition zu den Taliban. Diese Madrasas würden niemals Terrorismus unterstützen. Aber sie sind gegen den Einfluss der USA und der westlichen Agenda in der islamischen Welt. Sie sind etwa gegen die Politik der USA in Afghanistan und Irak. Aber diese Position ist auch außerhalb der Madrasas verbreitet."
In Pakistan oder Bangladesh werde ein Teil der Madrasas von Saudi-Arabien finanziert – in Indien dagegen von Geschäftsleuten aus der Nachbarschaft. Sie wollen den Armen eine religiöse Grundbildung ermöglichen. Die Interpretation des Islams politischen Extremisten zu überlassen, sei gefährlich, sagt Ebrahim Moosa. Er bescheinigt ihnen ein Do-it-yourself-Halbwissen. Und so gebe es großen Verbesserungsbedarf in den Madrasas.
"Die Madrasa-Erziehung ist in manchen Gegenden mangelhaft. Denn viele verweigern sich dem Wissen der modernen Welt, in der wir leben. Sie sind gut in der islamischen Vergangenheit. Aber es fehlen die modernen Humanwissenschaften, Sozialwissenschaften, Ökonomie, politische Wissenschaft, Anthropologie. Madrasa-Studenten sind daher unfähig, das Wissen der islamischen Vergangenheit in der Gegenwart anzuwenden."
Obwohl der heute 59jährige Ebrahim Moosa selbst an einer amerikanischen Hochschule lehrt, würde er als 18jähriger Mann wieder in eine Madrasa gehen. Jungen Muslimen gibt er folgenden Ratschlag.
"Lerne erst einmal die arabische Sprache. Deutsche Universitäten haben gute Sprachprogramme. Oder lerne es in muslimischen Gemeinden. Du musst eine gute Mischung finden. Du musst Sachen lernen und auch wieder vergessen. Bleibe offen für alles, für neue Möglichkeiten und neue Erfahrungen. Denke nicht, dass die erste Idee die letztgültige ist. Sei kritisch, stelle viele Fragen – an dich selbst und an deine Lehrer. Denke immer, egal ob das Wissen in einer Universität oder in einer Madrasa erlernt wird: Es ist eine Reise."