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Mustafa Khalifa: "Das Schneckenhaus"
"Dieses Buch ist ein Muss, um Syrien zu verstehen"

13 Jahre verbringt der Erzähler in syrischen Gefängnissen, einige im berüchtigten Wüstengefängnis Tadmor. Mustafa Khalifa erzählt von Folter, Hinrichtungen und Überlebensdrang. "Das Buch beschreibt eindrücklich die Entstehung von Gewalt in Syrien - bis heute", sagt die Übersetzerin Larissa Bender.

Larissa Bender im Gespräch mit Dina Netz |
Zu sehen ist der Autor Mustafa Khalif und das Cover seines Buches "Das Schneckenhaus. Tagebuch eines Voyeurs".
Der Autor Mustafa Khalifa hat selbst einige Jahre im syrischen Wüstengefängnis Tadmor eingesessen (Autorenfoto: A. Abdelwahab/ Buchcover: Cornelia Feyll, Weidle Verlag)
Dina Netz: Der Ich-Erzähler im Roman, um den es jetzt geht, hat in Paris Regie studiert. Seine Freundin hat sich entschieden, in Frankreich zu bleiben, aber er will in seiner Heimat arbeiten, in Syrien. Bei der Rückkehr wird er direkt am Flughafen von Damaskus abgefangen und ohne Anklage ins Gefängnis geworfen. Seine dreizehnjährige Haft unter unmenschlichen Bedingungen, unter ständiger Folter und Lebensgefahr, hat mehrere Stationen. Die längste ist das berüchtigte syrische Wüstengefängnis Tadmor, wo er Anfang der 1980er Jahre inhaftiert wird. In seinem tagebuchartigen Roman "Das Schneckenhaus" beschreibt der syrische Autor Mustafa Khalifa das Überleben seines Erzählers unter diesen Bedingungen. Der Autor ist nicht zu verwechseln mit dem Erzähler, aber auch er hat als linker Oppositioneller einige Jahre im Gefängnis von Tadmor eingesessen, lebt heute in Paris. Larissa Bender hat dieses Buch für den Weidle Verlag aus dem Arabischen übersetzt. Frau Bender, wieso wird der Erzähler überhaupt verhaftet?
Larissa Bender: Das weiß er zuerst auch nicht, aber er stellt dann irgendwann fest, dass er beschuldigt wird, Mitglied der Muslimbruderschaft zu sein. Als er diese Beschuldigung hört, ist er eigentlich erleichtert, denn am Anfang sagt man ihm gar nicht, warum er jetzt mitgenommen wird zum Geheimdienst. Er ist deswegen erleichtert, weil er sich denkt: Das muss ja ein Fehler sein, das kann nicht stimmen, denn ich bin ja Christ. Er sagt dann auch noch ziemlich laut: Ich bin nicht nur Christ, sondern Atheist! Also rechnet er die ganze Zeit damit, dass er schon bald wieder freigelassen wird, weil die Leute merken, dass sie da den Falschen verhaftet haben.
300 Gefangene in einer Zelle
Netz: Und das passiert leider nicht. Im Gegenteil, weil er sich als Atheist bekannt hat, wird er im Gefängnis auch noch isoliert, an den Rand gedrängt, und dann landet er im Wüstengefängnis Tadmor. Vielleicht lesen Sie uns zu Beginn eine Passage vor, damit man einen Eindruck bekommt, wie die Häftlinge dort - ja - vegetieren, muss man eigentlich sagen.
Bender: Das ist ein Abschnitt, da wird die Zelle beschrieben. Man muss sich vorstellen, dass in dieser Zelle ungefähr 300 Gefangene leben, und zwar über einen sehr, sehr langen Zeitraum:
"Die Zelle.
Seit über einem Monat liege ich in dieser Ecke und habe Gelegenheit, viel zu sehen und zu verstehen, was in dieser riesigen Zelle vor sich geht. Die Zelle ist fünfzehn Meter lang und etwa sechs Meter breit. Es gibt eine schwarze Eisentür, und ganz oben unter der Decke befinden sich schmale Fenster mit dicken Eisenstreben davor. Die Fenster sind etwa fünfzig Zentimeter hoch und einen Meter breit. Das Wichtigste in der Zelle ist das Deckenloch. Es befindet sich genau in der Mitte und hat eine Größe von vier mal zwei Metern. Auch diese Öffnung ist mit soliden Eisenstreben ausgestattet. Diese Öffnung, genannt ,Lichtung', erlaubt es dem mit einem Gewehr bewaffneten Wärter, der auf dem Dach der Zelle steht, alles zu beobachten, was in der Zelle vor sich geht, Tag und Nacht. Auf jeder Zelle in dem Wüstengefängnis steht ein bewaffneter Militärpolizist. Die Tage hier sind in zwei Zeitspannen geteilt, nicht in drei. Zwölf Stunden obligatorischer Schlaf, zwölf Stunden erzwungenes Sitzen. Jeder Gefangene besitzt nur drei Militärdecken, eine legt er gefaltet als Unterlage auf den Boden, mit den beiden anderen deckt er sich zu. Wer zusätzliche Kleidung besitzt, außer der, die er anhat, legt diese zusammen und macht daraus ein Kopfkissen. Oder er nutzt seine Schuhe als Unterlage für den Kopf. Und wer, so wie ich, weder Schuhe noch zusätzliche Kleidung hat, schläft ohne Kopfkissen. Jeder Gefangene muß sich an die Anweisungen halten. Von sechs Uhr abends bis sechs Uhr morgens muß man schlafen und darf sich nicht bewegen. Von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends muß man die drei Decken zusammenfalten und sich darauf setzen, ohne sich zu rühren."

Netz: Eine Passage aus "Das Schneckenhaus" von Mustafa Khalifa, gelesen von seiner Übersetzerin Larissa Bender. Frau Bender, was dieses Kapitel ja nur andeutet, das ist die wahnsinnige Brutalität in diesem Gefängnis. Viele Gefangene werden hingerichtet, andere sterben an Krankheiten, an Erschöpfung. Wie schafft es der Erzähler zu überleben?
Bender: Er hat Glück. Er wird nicht vor einem Standgericht hingerichtet, er stirbt an keiner der Krankheiten, er stirbt nicht vor Hunger.
Netz: Es gibt aber auch so eine starke Willenskraft in ihm, denn am Ende des Romans sind tatsächlich alle tot, die gleichzeitig mit ihm in der Zelle angekommen sind…
Bender: Fast alle, glaube ich. Wobei man sagen muss, das mit der Willenskraft ist tatsächlich etwas, was die Gefangenen eigentlich alle haben. Ich habe auch mit dem Autor darüber gesprochen: Wie hält man das eigentlich aus? Und er hat erzählt, es gibt tatsächlich Fälle von Gefangenen, die lange, lange, lange im Gefängnis sind, und wenn sie rauskommen, bringen sie sich um, oder wenn sie rauskommen, werden sie verrückt. Aber erst mal hat man offensichtlich als Mensch diesen Überlebensinstinkt und will das überleben, will irgendwann wieder raus. Ich glaube, man verliert nie die Hoffnung, dass man eines Tages wieder rauskommt.
Schreiben im Kopf
Netz: So einen Fall von einem, der sich nach der Haft umbringt, schildert Khalifa auch in seinem Buch. Der Erzähler beobachtet in seinem Schneckenhaus, in das er sich innerlich zurückgezogen hat, genau und schreibt in gewisser Weise ein Tagebuch im Kopf. Inwiefern hilft ihm das, über diese Qualen, die er dort erleidet, hinweg?
Bender: Das ist das Verarbeiten dessen, was man sieht. Ich glaube, es hängt auch ein bisschen damit zusammen, dass man immer das Gefühl hat, man muss das, was man dort erlebt, wenn man eines Tages mal wieder rauskommen sollte, der Welt erzählen. Vielleicht ist das auch ein Motiv, dass man das macht. Dieses Tagebuchschreiben oder dieses Schreiben überhaupt im Kopf habe ich auch von anderen Gefangenen gehört, die auch in Tadmor gewesen sind. Faraj Bayrakdar zum Beispiel, ein syrischer Lyriker, der schon lange in Schweden lebt und in Tadmor inhaftiert war, hat auch erzählt, er hat im Gefängnis in Tadmor seine Gedichte geschrieben, also im Gedächtnis, im Kopf, mental.
Netz: Papier hatten sie natürlich nicht.
Bender: Papier, Stifte gab es natürlich nicht. Man hat das später aufgeschrieben. Und ähnlich hat es der Autor gemacht, Mustafa Khalifa, wobei er ja nicht seine Geschichte erzählt. Aber vieles von dem, was er erzählt, hat er selbst erlebt.
Netz: Was ich interessant fand, war: Dadurch, dass so viele Häftlinge in dieser Zelle sind, von der Sie gerade die Passage gelesen haben, bekommt man im Grunde auch einen Überblick über alles, was syrische Opposition zu dieser Zeit, in den 1980er Jahren, war. Erfährt man da auch etwas über die syrische Bevölkerung?
Bender: In der Zelle sitzen praktisch nur Muslimbrüder, aber unter den Muslimbrüdern gibt es ganz, ganz radikale, gewalttätige und friedfertige, die nur ihren Islam leben wollen. Es gibt natürlich auch einige, wie der Protagonist selbst, die gar keine Muslimbrüder sind, sondern die sind sozusagen Geiseln für Verwandte, die man nicht bekommen hat, die man nicht fassen konnte. Aber man bekommt tatsächlich einen Überblick über die syrische Gesellschaft, denn diese Menschen kommen aus verschiedenen Regionen in Syrien. Sie lernen sich gegenseitig kennen, und in dieser sehr engen Zelle kommt man sich sehr nah. Man lernt sich zu lieben, aber auch zu hassen. Aber man muss bedenken: Die linken Oppositionellen saßen woanders. Die waren in anderen Zellen in einem anderen Trakt, und die wurden auch lange nicht so brutal behandelt wie die Muslimbrüder.
Verarbeiten durch Erzählen
Netz: Als der Erzähler dann schließlich doch entlassen wird, fällt er sozusagen in ein Loch. Er hat das Gefühl, eine Wand tue sich auf zwischen ihm und seiner Umgebung. Da sind seine Verwandten, die wollen, dass er heiratet, dass er eine Arbeit annimmt, und das kommt ihm alles völlig unwirklich vor. Das Niederschreiben seiner Erinnerungen ist dann sein Versuch der Verarbeitung und der Rückkehr ins Leben. Kann man das so sagen?
Bender: Ja, das kann man so sagen, das kann man zumindest für den Autor sagen. Ob der Protagonist zurückkommt ins Leben, wissen wir nicht. Wir erfahren nur, wie es im ersten Jahr nach seiner Entlassung ist. Da kommt er eigentlich nicht zurück. Er wundert sich darüber, wie die Menschen in seinem Land alle leben können und gar nicht wissen, was in diesem schrecklichen Gefängnis passiert. Der Autor aber hat das tatsächlich zum Verarbeiten aufgeschrieben, um seine eigenen Erlebnisse zu verarbeiten.
Netz: Jetzt hat Tahar Ben Jelloun zum Beispiel über das andere berühmte Gefängnis der arabischen Welt, Tazmamart in Marokko, einen Roman geschrieben, der sehr zwiespältig aufgenommen wurde damals. Aus politischen Gründen, die wir hier vielleicht nicht im Einzelnen erzählen müssen. Aber ihm wurde unter anderem auch vorgeworfen, die Gefangenen zu verklären und sprachlich zu romantisieren. Das kann man Khalifa nun überhaupt nicht vorwerfen. Vielleicht sagen Sie, Frau Bender, als seine Übersetzerin, auch ein paar Worte zur Sprache, in der das Buch geschrieben ist...
Bender: Er benutzt eine einfache Sprache. Er ist sehr genau in dem, was er schreibt. In manchen Sachen ist er auch ein bisschen poetisch, aber ich finde, es ist eher eine einfache Sprache. Und die hat er auch sehr bewusst gewählt, denn wichtiger ist das, was passiert. Ich finde, dass er das sehr eindringlich beschreibt. Dass er die Gefangenen verklärt, das sehe ich überhaupt nicht so. Es gibt ja wirklich sehr, sehr brutale Menschen dort. Im Gegenteil, er beschreibt ja im Grunde genommen die Gewalt. Er beschreibt sowohl die Gewalt unter den Gefangenen untereinander als auch die Gewalt der Wärter, der Offiziere, der Militärpolizisten untereinander, aber vor allem gegenüber den Gefangenen. Es ist für ihn ein bisschen ein Bild der syrischen Gesellschaft, denn diese Gewalt kommt ja irgendwoher. Die kommt ja aus dieser Gesellschaft, aus diesem Regime. Dieses Regime produziert diese Gewalt, und es ist ihm ganz wichtig, das zu zeigen.
Die Entstehung von Gewalt in Syrien
Netz: Das ist also ein Buch, das einen vielleicht auch ein bisschen verstehen lässt, woher die aktuelle Gewalt in Syrien kommt?
Bender: Ja, bis zu einem gewissen Grad schon. Das Buch ist zwar auf Französisch 2007, auf Arabisch 2008 erschienen, also lange bevor die Aufstände gegen das Regime in Syrien begonnen haben im Jahr 2011. Aber 2011 war die Zeit, wo viele, viele Menschen sich plötzlich politisiert haben, weil es auf einmal möglich war, zumindest am Anfang der Revolution und der Aufstände gegen das Regime. Da wurde dieses Buch auf einmal wieder sehr aktuell, und ganz, ganz viele haben dieses Buch gelesen. Im Grunde genommen ist dieses Buch das erste, was auf eine sehr eindringliche Weise die Ereignisse dort beschreibt und die Entstehung von Gewalt in diesem Land beschreibt.
Netz: Dass das Buch in der syrischen Revolution wichtig wurde, lässt sich sofort nachvollziehen. Jetzt habe ich mich ein bisschen gefragt, was es uns zum heutigen Erscheinungszeitpunkt auf Deutsch sagen kann. Es erscheint ja nun mit mehr als zehn Jahren Verzögerung in deutscher Übersetzung. Ist es mehr als ein Dokument des Grauens?
Bender: Abgesehen davon, dass ich persönlich es literarisch auch sehr gut und sehr spannend finde, auch wenn das vielleicht ein etwas schräger Begriff ist für diese Art von Literatur - viele haben es in einem durchgelesen in ein, zwei Tagen oder so. Ich finde, wir müssen uns damit beschäftigen. Ich finde, wir müssen uns damit auseinandersetzen. Wir haben in Deutschland, erstens, eine Geschichte, in der solche Dinge auch passiert sind, und wir sollten nicht die Augen davor verschließen, dass das heute auch in vielen, vielen anderen Ländern passiert. Gerade jetzt in der heutigen Zeit, wo es wieder darum geht, Beziehungen zum Assad-Regime aufzubauen, sollte man nicht vergessen, was das eigentlich für ein Regime ist. Es ist ein wichtiges Buch, um das zu verstehen, denn der Vater Assad und der Sohn Assad von heute, die jetzt regieren, unterscheiden sich ja nicht so sehr. Das Regime ist das gleiche geblieben. Deswegen ist es für mich fast ein Muss, wenn man sich mit Syrien beschäftigt, dieses Buch zu lesen, um zu verstehen: Woher kommt die Gewalt, wie ist die Revolution entstanden, was passiert heute? Natürlich kann dieses Buch nicht die heutigen politischen und internationalen Verflechtungen erklären, aber ein bisschen was zur syrischen Gesellschaft.
Mustafa Khalifa: "Das Schneckenhaus. Tagebuch eines Voyeurs"
Aus dem Arabischen und mit einem Nachwort von Larissa Bender
Weidle Verlag, Bonn. 312 Seiten, 23 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.