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Mut zur Lücke

Das Plattenlabel cpo ist immer auf der Suche nach Neuheiten. Nicht die 50. Aufnahme der 5. von Beethoven oder die 60. der Kleinen Nachtmusik von Mozart interessiert den dortigen Produzenten Burkhard Schmilgun, sondern dem geht es um Repertoirelücken, um Unbekanntes von großen und Großes von unbekannten oder vergessenen Meistern. Bei der Suche arbeitet er eng mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk zusammen, zumindest mit den Wellen, die ihren Hörern nicht nur vertraute Musikberieselung, sondern auch mal was Neues bieten wollen. Die Aufnahmen entstehen in Koproduktion, wobei die Sender vor allem ihr technisches Know-how und oft auch ihre Studios zur Verfügung stellen.

Von Ludwig Rink |
    Diesmal hat cpo seine Partner beim Schweizer Rundfunk DRS und dem Sinfonieorchester Basel gefunden. Dort wirkte bis vor 70 Jahren kein geringerer als Felix Weingartner als Chefdirigent, der Mann, der als Pultstar in Berlin, Wien und anderen wichtigen Musikstädten berühmt geworden war. Hier in Basel hatte er sozusagen eine kleinere Stelle nach der Pensionierung, wenn es so etwas bei Dirigenten überhaupt gäbe. Die Ergebnisse von Weingartners dirigentischen Aktivitäten sind zum Teil auch heute noch in historischen Aufnahmen zu bestaunen; der Komponist Felix Weingartner jedoch ist weitgehend vergessen. Er komponierte sicherlich nicht an vorderster Front der damaligen Avantgarde, sondern blieb, 1863 geboren, der romantischen Tradition treu. "Sein" Basler Orchester unter Leitung des heutigen Chefdirigenten Marko Letonja und die Plattenfirma cpo wollen das komplette Orchesterwerk Weingartners herausbringen, 2 CDs liegen inzwischen vor. Die jüngste der beiden enthält Ouvertüre und Suite "Der Sturm", eine Serenade für Streichorchester und die 4. Sinfonie in F-Dur, die Weingartner selbst die "bukolische" genannt hat und zu der er durch "landschaftliche Eindrücke südlichen Charakters" inspiriert worden war. Hier der dritte Satz dieser 4. Sinfonie, überschrieben mit "comodo, grazioso".

    " Musikbeispiel: Felix Weingartner - 3. Satz "Comodo, grazioso" aus der Sinfonie Nr. 4 F-Dur, op. 61"

    Soweit der 3. Satz aus der 4. Sinfonie von Felix Weingartner, gespielt vom Sinfonieorchester Basel unter der Leitung von Marko Letonja, aus der zweiten CD einer Reihe, die das gesamte Orchesterschaffen des berühmten Dirigenten herausbringen will.

    Frank Peter Zimmermann, eine verlässliche Größe in der an kommenden und gehenden Talenten ja nicht ganz armen Geigerszene und in der vergangenen Konzertsaison an verschiedenen Orten im Einsatz für die großen Violinkonzerte der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, hat jetzt bei Sony ein im Vergleich dazu schon etwas älteres Violinkonzert herausgebracht, das ebenfalls nicht zu den unermüdlich immer wieder gespielten Werken der Gattung gehört. Die Rede ist vom 1897 uraufgeführten Violinkonzert des italienischen Pianisten und Komponisten Ferruccio Busoni. Bedeutend auch als Theoretiker und Kompositionslehrer, vor allem auch in Berlin, nimmt Busoni in seinem erstmals 1907 erschienenen Buch "Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst" Überlegungen zu neuen Tonskalen, Vierteltonsystemen und sogar erste Ahnungen der Möglichkeiten elektronisch erzeugter Klänge vorweg. Anfang der 20er Jahre forderte er dann jedoch eine neue Klassizität, mit der er auf die vielen unterschiedlichen Strömungen in der damaligen neuen Musik reagierte und dem ständigen Experimentieren ein Ende setzen wollte. Seinem mit großem Erfolg uraufgeführten Violinkonzert stand Busoni später wie einer Reihe anderer früher Werke mit Skepsis gegenüber; erst der Geiger Josef Szigeti konnte ihn 1912 von den Qualitäten des eigenen Werks überzeugen. Auch heute noch lohnt die Entdeckung, zumal, wenn ein Geiger vom Format eines Frank Peter Zimmermann es spielt. Begleitet wird er bei dieser Neuaufnahme vom Nationalen Rundfunk-Sinfonieorchester der italienischen RAI, die Leitung hat der finnische Dirigent John Storgards, und wir blenden uns ein in den dritten und letzten Satz.

    " Musikbeispiel: Ferruccio Busoni - Ende des 3. Satzes aus: Violinkonzert"

    Frank Peter Zimmermann und das Nationale Rundfunk-Sinfonieorchester der italienischen RAI spielten den dritten Satz des Violinkonzerts von Ferruccio Busoni. Die Leitung hatte John Storgards.

    Sir Simon Rattle, Chef der Berliner Philharmoniker und vorher lange Jahre an der Spitze des City of Birmingham Symphony Orchestra, hat zwar eine immens umfangreiche und vielseitige Aufnahmeliste vorzuweisen, doch es gibt auch für einen erfahrenen Dirigenten wie ihn immer noch Neuland zu entdecken.

    So zum Beispiel die Orchestermusik von Antonín Dvorák, die lange ein weißer Fleck auf Rattles diskografischer Landkarte war. Zum Dvorak-Jahr 2004 war es dann soweit: In der Berliner Philharmonie konnte man erleben, wie der Maestro dieses "Neuland" erkundete. Jetzt ist das auch zuhause in den eigenen vier Wänden möglich, denn EMI Classics hat diese Live-Aufnahmen mit den Berliner Philharmonikern als Doppel-CD herausgebracht. Sie bietet nicht die Sinfonien oder Konzerte, sondern die vier großen Tondichtungen Dvoráks, opulente Werke, die uns mit der ganzen Klangpracht des großen Sinfonieorchesters in die Märchen- und Sagenwelt der osteuropäischen Romantik entführen. Es war nach seinem vom Heimweh etwas getrübten Amerika-Aufenthalt, als Dvorak sich in die alten Volkssagen seiner Heimat vertiefte. Die Balladen des tschechischen Dichters Karel Jaromír Erben waren es schließlich, die ihn zu seinen vier Sinfonischen Dichtungen inspirierten: Die Geschichte vom Wassermann, der furchtbare Rache an einer jungen Frau übt, die ihm ein Kind geboren hat, die Geschichte von der Mittagshexe, die einer Mutter ihr Kind stiehlt oder die vom Goldenen Spinnrad, einer tschechischen Variante des Aschenputtel-Stoffes oder der Erzählung von der Waldtaube, die vor dem Szenario der böhmischen Wälder das schlechte Gewissen einer Mörderin weckt und sie in den Selbstmord treibt. Furchterregende Volkssagen, mit satten Farben in Musik umgesetzt von Antonin Dvorak und von den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle plastisch erzählt, instrumental durchlebt und durchlitten.

    " Musikbeispiel: Antonin Dvorak - 3. Satz - Andante aus: "Die Mittagshexe""

    Die neue Platte - unsere heutige Ausgabe dieser Reihe enthielt Musik von Felix Weingartner, Ferruccio Busoni und Antonin Dvorak. Zuletzt spielten die Berliner Philharmoniker unter der Leitung ihres Chefs Simon Rattle den Schluss der Sinfonischen Dichtung "Die Mittagshexe" von Antonin Dvorak. Mit guten Wüschen für einen schönen Sonntag verabschiedet sich hier im Studio Ludwig Rink.

    Diskografische Angaben

    CD 1:
    Titel: Felix Weingartner - Symphonic Works Vol 2
    Orchester: Sinfonieorchester Basel
    Leitung: Marko Letonja
    Label: cpo
    Labelcode: LC 08492
    Bestellnr.: 777 098-2

    CD 2:
    Titel: Ferruccio Busoni - Violin concerto & Violin sonata
    Solist: Frank Peter Zimmermann, Violine
    Orchester: Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI
    Leitung: John Storgards
    Label: Sony Classical
    Labelcode: LC 06868
    Bestellnr.: SK 94497

    CD 3:
    Titel: Antonín Dvorak - Tone Poems
    Orchester: Berliner Philharmoniker
    Leitung: Simon Rattle
    Label: EMI Classics
    Labelcode: LC 06646
    Bestellnr.: 7243 5 58019 2