Wie sieht es unter einem Gletscher aus? Fällt der Fels steil oder flach ab, ist er glatt oder fließt das Eis über Schutt und Geröll? In Zeiten des Klimawandels sind solche Fragen nicht nur von rein wissenschaftlichem Interesse, um die Mechanismen zu entschlüsseln, mit denen Gletscher ihr Bett formen. Vielmehr erlangen sie auch eine ganz praktische Bedeutung, weil Eis die Felsen stabilisiert. Schmilzt es, wächst die Gefahr von Stein- und Felsschlägen. Doch wie stark, das hängt auch von der Form der Hänge ab, erklärt der Japaner Ryuichi Nishiyama von der Universität Bern:
"Das wichtigste Ziel unserer Gletscherstudie war, am Aletschgletscher die Grenzfläche zwischen Eis und Fels zu erkennen. Das wird zwar schon mit einigen anderen geophysikalischen Methoden versucht, aber die Myonen-Tomographie liefert uns hochauflösende Details der Grenzfläche. Sie ist zuverlässiger, weil sie vor allem von den Dichteunterschieden abhängt. Radarmessungen beispielsweise bekommen Probleme, wenn ein Hang sehr steil ist oder Schmelzwasser unter den Gletscher fließt."
Myonen durchdringen auch Eis und Fels
Myonen sind Elementarteilchen, die entstehen, wenn kosmische Strahlung in der hohen Atmosphäre auf Atome trifft. 10.000 Myonen treffen Minute für Minute auf jeden Quadratmeter der Erde. Was sie für die Geologie interessant macht, ist vor allem eine Eigenschaft: Sie durchdringen Materie, eben auch Eis und Fels, und werden dabei - je nach Dichte des Materials - abgebremst und umgelenkt.
"Für die Messungen installieren wir mit Silberbromidgel beschichtete Filme auf einer Wand unterhalb der Struktur, die wir untersuchen wollen. Für unsere Experimente am Aletschgletscher konnten wir den Tunnel der Jungfraubahn nutzen. Dann warten wir drei oder vier Monate, bringen den Film ins Labor, entwickeln ihn und analysieren mit automatisierten Mikroskopen die feinen Spuren, die die Myonen im Silberbromidgel hinterlassen haben."
Daraus errechnen die Geologen ein hochauflösendes, dreidimensionales Bild der "Gebirgsanatomie". Die Messungen deckten auch den Bereich der Forschungsstation auf dem Jungfraujoch ab und einer Felskuppe namens Sphinx, zu der die Touristen des Ausblicks wegen pilgern. Das Ergebnis: Der Gletscher hat sich dort ein steiles Bett aus dem Fels geschmirgelt. Weil das Gestein parallel zur Fließrichtung des Eises geklüftet ist, setzt es dem Gletscher kaum Widerstand entgegen.
"Es gibt auch eine Bahnstation am Jungfraujoch, über die man direkt auf den Gletscher kommt. Dort wird seit ein paar Jahren Schnee aufgeschüttet, damit die Touristen den Ausgang noch benutzen können, und außerdem sind schon heute Sicherungsmaßnahmen wie Netze notwendig, die herabfallende Steine auffangen," beschreibt Alessandro Lechmann von der Universität Bern.
Wichtige Informationen für zukünftige Planungen
Weil sie den Verlauf des Felsens unter dem Eis verrät, erlaubt die Myonen-Tomographie auch erste Rückschlüsse darauf, womit in den kommenden Jahren gerechnet werden muss:
"Wir konnten den obersten Teil der Grenze zwischen Gletscher und Fels mit großer Präzision kartieren. Wir sehen, dass der Fels in Bereich dieser Bahnstation nicht übersteilt ist, sondern mit einem Winkel von 45 Grad einfällt: Das Eis hat den Felsen dort nicht sehr stark erodiert, vielmehr setzt sich der Hang unter dem Gletscher mehr oder weniger so fort wie oberhalb."
Das sei gut, denn wäre die Wand dort so steil wie unterhalb der Sphinx, würde das die Stabilität herabsetzen. Und so liefert die Myonen-Tomographie nicht nur Einblicke in die verschiedenen geologischen Konstellation unter dem Eis am Jungfraujoch. Die Informationen helfen auch bei der Planung, wo künftig welche technischen Mittel zur Erhöhung der Standfestigkeit eingesetzt werden sollten.