Cemalnur Sargut passt nicht ins Bild, das wir uns von einem Scheich machen, dem spirituellen Führer einer Sufi-Sekte, der meist Bart und Turban trägt. Die 65-jährige trägt ihr schwarzes Haar schulterlang und offen, dazu eine randlose Brille und manchmal auch Lippenstift. Zweimal geschieden ist sie obendrein und dennoch das Oberhaupt eines Sufi-Ordens mit hunderttausenden Anhängern. Um das zu verstehen, beginnen wir mit dem kleinen Einmaleins und stellen ihr die Frage: Was ist Sufismus?
"Sufismus ist der Prozess, in dem der Mensch zur inneren Ruhe findet, indem er eine Beziehung zu seinem Schöpfer aufbaut und sein zersplittertes Sein zum Ganzen zusammenfügt. Wenn dieser innere Frieden erreicht ist, dann findet der Mensch in dieser Welt das Himmelreich; und wer in dieser Welt das Himmelreich findet, dem wird es in jeder Welt beschieden sein. Das ist Sufismus."
Der Sufismus ist die mystische Strömung des Islam. Anstelle strikter Vorschriften lesen Sufis aus dem Koran symbolische Bedeutungen heraus - Bedeutungen, die nicht mit dem Verstand, sondern vielmehr mit dem Herzen zu erfassen seien. Cemalnur Sargut erklärt es so:
"Wenn wir unterschiedliche Ansichten akzeptieren können und wenn wir verstehen, dass jedes Geschöpf den Namen Gottes trägt - dass nicht nur Menschen, auch Tiere und Pflanzen und sogar ein Stück Holz ein Teil von Gott sind. Dieses Gefühl gilt es zu finden, was übrigens viele Moslems auch nicht wissen - aber das ist die Erfüllung der islamischen Mystik, wir nennen es den Höhepunkt. Toleranz, Liebe, die Ansichten aller Menschen zu achten - das ist die Essenz des Sufismus."
Poetische Hingabe
Die Angehörigen von Sufi-Orden nennt man Derwische, und den Weg zu Gott suchen sie meist mit Ritualen, die je nach Orden verschieden sind. Am bekanntesten ist der Mevlevi-Orden mit seinen wirbelnden Derwischen, deren Tanz sie zu höherem Bewusstsein führen soll; in anderen Orden wird ein Gebet oder ein Spruch rezitiert oder mit einer Gebetskette meditiert. Bei den türkischen Rifa'iyya, deren spirituelles Oberhaupt Cemalnur Sargut ist, verläuft der Weg zum Bewusstsein anders.
Ein Auditorium im asiatischen Teil von Istanbul an einem Werktag morgens um zehn. Fast bis auf den letzten Platz besetzt sind die 200 Sitze mit gut gekleideten Frauen und Männern der oberen Mittelschicht. Die Frauen tragen ihr Haar sorgfältig frisiert und offen, die Männer haben Jacketts an. Erwartungsvolles Murmeln erfüllt den Saal, bis Cemalnur Sargut in Rock und Pullover das Podium betritt und alle aufstehen. Scheinwerfer erstrahlen und die Kamera läuft, um Sarguts Vorlesung im Internet live an ihre Anhänger in aller Welt zu übertragen. Sargut lässt von einer Schülerin aus dem "Masnavi" lesen, einem sechsbändigen sprituellen Gedicht des Sufi-Poeten Mevlana Rumi aus dem 13. Jahrhundert. Dann kommentiert sie die Passagen für ihre Zuhörer.
"Mevlana sagte, ich schreibe keine Gedichte, denn zum Dichten braucht man den Verstand. Ich gebe mich vielmehr dem Willen Gottes hin, denn der weiß, was zu schreiben ist. Sehen Sie, das ist ein unglaublich wichtiger Punkt. Wir können ja vieles wissen, aber wissen wir, was morgen sein wird? Oder was wird aus unserem Wissen, wenn wir Alzheimer bekommen? Wir geben uns also Gott hin, nicht dem Wissen. Denn selbst wenn wir nichts wissen, aber nur Anstand haben und Glauben, wenn wir also um unser eigenes Nichts-Sein wissen, dann finden wir zu Gott."
Gebannt lauscht ihr das Publikum. Als Sargut innehält und um Fragen aus dem Publikum bittet, meldet sich ein stämmiger Mann von etwa 50 Jahren.
"Wenn ich das alles recht verstehe, sollen wir unser Leben zu einem Gebet machen. Wir sollen der Schöpfung dienen, wir sollen sie achten und für sie tun, was wir können. Wir sollen uns vor der Schöpfung verneigen."
Das Verbot umgehen
Richtig, lobt Sargut, und fährt in ihrem Vortrag fort. Die Veranstaltung ist öffentlich und bei der Kommune angemeldet, der auch der Saal gehört. Wie verträgt sich das mit dem Verbot der Orden seit der Gründung der Republik in den 1920er Jahren? Formal gelte das Verbot nach wie vor, erklärt Cemalnur Sargut im Interview, aber ihr Vorgänger und Lehrmeister Kenan Rifai habe einen Ausweg gefunden.
"Als 1925 alle Derwischhäuser geschlossen wurden, da hat er uns aufgetragen, den Sufismus eben auf dem Bildungsweg zu lehren – das war seine geniale Idee. Er hat uns gelehrt: Bleibt nicht den formalen Bestimmungen verhaftet, lebt den Sufismus dort, wo ihr könnt. Gebt dieses Wissen an den Universitäten weiter, dann ist es legal."
Diesen Rat haben die Rifa’iyya unter der Führung von Cemalnur Sargut gründlich befolgt. Sie sind ein eingetragener Verein. So kann der Orden in der Türkei nicht nur Vorlesungen wie diese organisieren und seine Schriften im eigenen Verlag veröffentlichen. Er hat auch einen Lehrstuhl für Sufismus an einer staatlichen Universität in Istanbul gegründet, mit einem Master-Studiengang für Sufismus. Und nicht nur in der Türkei, auch in den USA, Japan und sogar China hat Sargut inzwischen Lehrstühle für Sufismus mitbegründet.
Angebot für Eliten?
Die Vorlesung ist beendet, Cemalnur Sargut verlässt den Saal. Die Zuhörer stehen Spalier, die Hand aufs Herz gelegt zum Zeichen des Respekts vor der Meisterin. Fast ausnahmslos sind es Menschen mit höherer Bildung, die über die staatlich organisierte Religion hinaus Antworten auf ihre spirituellen Fragen suchen. Die 40-jährige Designerin Elif etwa:
"Ich finde hier die Antworten auf meine innersten Fragen: Warum wir auf der Welt sind, der Grund für unsere Existenz. Das zu lernen ist eine Reise, die inneren Frieden gibt. Es ist doch wichtig zu wissen, warum wir auf der Welt sind."
Die 28-jährige Kommunikationswissenschaftlerin und Drehbuchautorin Firuze:
"Das Leben ist ein Abenteuer, in dem wir manchmal stolpern können, unser Selbst und unsere Seele vergessen oder unser Ziel. Dann braucht der Mensch einen Fingerzeig, und dafür bin ich hier."
Die 30-jährige Verlagslektorin Elif:
Als ich begann, ihrem Rat zu folgen, hat mir das sehr geholfen. Was ich von ihr lerne, hilft mir in meinem Leben, ich bin dadurch glücklicher geworden."
Auflösung der Geschlechtergrenzen
Oder der 39-jährige Chemieingenieur Gökhan, der mit seiner Frau zusammen zu den Vorlesungen kommt. Dass die Meisterin eine Frau ist, mache keinen Unterschied, meint der Ingenieur:
"Ab einem bestimmten Bewusstseinsniveau, und auch das haben wir von der Meisterin gelernt, löst sich der Geschlechtergegensatz auf."
Die außergewöhnlich starke Rolle von Frauen bei den türkischen Rifa’iyya geht auf den Ordensvater Kenan Rifai zurück. Rifai benannte als seine direkte Nachfolgerin eine Frau, Samiha Ayverdi, die nach seinem Tod 1950 an die Spitze des Ordens trat. Von ihr übernahm wiederum Cemalnur Sargut die Führung.
"Ich weiß selbst nicht, wie ich dazu gekommen bin! Aber ich werde akzeptiert, weil die Menschen erkennen, wenn jemand aufrichtig ist und das vorlebt, was er predigt. Ich liebe auch die Menschen, die mich ablehnen, und lebe deshalb in Frieden."
Wieviele Anhänger der Orden hat, kann Sargut nicht sagen, aber ihr letztes Buch hat eine Auflage von 100.000 erreicht und ihrer Facebook-Seite folgen mehr als eine halbe Million Nutzer. Obgleich darunter auch viele Männer sind, überwiegen unter den Anhängern doch die Frauen – und zwar insbesondere gebildete Frauen der oberen Schichten. Ihnen eröffnet der Orden einen Weg zum Glauben und zur Spiritualität, der ihnen im orthodoxen Islam versperrt ist, sagt Cemalnur Sargut.
"Ich glaube, dass ein Mensch so gut ist, wie er anständig ist, aber ich glaube auch, dass dafür kein Schleier notwendig ist. Ich respektiere die, die den Schleier tragen und die, die ihn nicht tragen. Diese Haltung ist uns von unserem Meister gelehrt worden und sie hat viele unverhüllte Frauen erreicht und glücklich gemacht, die bisher vom Glauben ausgeschlossen waren und nicht als gläubig anerkannt wurden."
Vom staatlichen Religionsamt werden die Rifa’iyya wie andere Orden mit Argwohn betrachtet. Doch zumindest offene Konflikte sind bisher ausgeblieben. Der Sufismus ist seit dem Mittelalter in Anatolien verwurzelt – zu tief, als dass eine Staatsmacht diese islamisch-mystische Strömung ausreißen könnte.