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Mythos ohne nationaldeutsche Perspektive

Lange Zeit galten die Befreiungskriege zwischen französischen Truppen und Napoleons europäischen Gegnern als "Krieg des Volkes". Alexandra Bleyer kommt allerdings zu dem Ergebnis, dass es sich bei der "Nation in Waffen" um einen "Mythos" handelt.

Von Günter Müchler |
    Wenn von den Befreiungskriegen die Rede ist, denkt man gemeinhin an die militärischen Auseinandersetzungen, die mit der sogenannten Völkerschlacht von Leipzig im Oktober 1813 begannen und die 1815 im belgischen Waterloo endeten. Besonders in Deutschland wurden sie zur Nationallegende. Die Hundertjahrfeiern waren ein Festival erbaulicher Reden, ein rhetorischer Aufgalopp für die Kriegsbegeisterung des ominösen August 1914. Hymnische Festschriften wurden verfasst und die Helden der Befreiungskriege auf Postkarten und Münzen verewigt. Weitere hundert Jahre später fällt die Betrachtung dieses Zeitabschnitts deutlich nüchterner aus. Alexandra Bleyers Buch "Auf gegen Napoleon" ist ein Beispiel dafür. Die Autorin vermeidet in dem Buch eine nationaldeutsche Perspektive. Sie bezieht den russischen Krieg von 1812, den österreichischen Präventivkrieg von 1809 und den sich bis 1814 hinziehenden Konflikt in Spanien in ihre Untersuchung ein. Das hat seine Logik, denn um Napoleons Hegemonie über Europa zu brechen, musste Europa alle seine Kräfte bündeln. Allerdings geht die Autorin zu weit, wenn sie von einem europäischen "Gemeinschaftsprojekt" spricht. Russland blieb 1812 allein, so wie Österreich zuvor ohne Bündnispartner gegen Frankreich gezogen war. "Gemeinschaftsprojekt" wurde der Kampf gegen Napoleon tatsächlich erst 1813. Welche Rolle spielten in diesem Ringen die Völker? fragt die Autorin.

    "Welche Parallelen bestanden, was unterschied den einen Volkskrieg vom anderen? Welche Wechselwirkungen lassen sich feststellen?"

    Unbestreitbar ist, dass Napoleon es in den in Rede stehenden Jahren nicht bloß mit regulären Armeen zu tun hatte. In Spanien stießen die französischen "Adler" erstmals auf spontanen Widerstand. Eine Bauernarmee, von Mönchen mobilisiert, verwickelte die geübten Truppen Napoleons in einen verlustreichen Kleinkrieg, die Guerilla. Das spanische Beispiel machte Schule. 1809 sahen Österreichs Politiklenker in entfesselten Volkskräften ein Mittel, der Armee den Rücken zu stärken. Die Tiroler büßten es übel. Am Ende behielt Napoleon die Oberhand. Insgesamt scheiterte das Konzept der Volkserhebung nicht zuletzt deshalb, weil das politische Establishment dem Volk misstraute. Man wollte seine Mithilfe, fürchtete aber die Ansprüche, die sich daraus ergeben konnten. Die vergleichende Untersuchung Alexandra Bleyers stellt überzeugend heraus, dass die Kriegspropaganda überall die entscheidende Rolle spielte. Überall waren es Intellektuelle und Kanzelprediger, die Menschen zu den Waffen riefen. Überall wurden dieselben Klischees verwendet. Napoleon war die Bestie, war der Antichrist. So tönte es in den Zeitungen, in Flugschriften und in den Kirchen. Allerdings erreichte die Mobilisierung nirgendwo Massencharakter, der militärische Beitrag der Landwehren und Milizen blieb nach dem Urteil der Autorin gering.

    "Das überlieferte Bild der deutschen Befreiungskriege ist geprägt von jungen Männern, die sich freiwillig und begeistert in Kampf und Heldentod stürzten. Das erklärt sich teilweise daraus, dass überproportional viele Verfasser von Erinnerungsliteratur und Gedichten selbst Freiwillige waren. Bei den Lützowern waren es beispielsweise Turnvater Jahn, Joseph Freiherr von Eichendorff und Theodor Körner, wobei letzterer den Mythos von "Lützows wilder, verwegener Jagd" schuf und nach seinem Tod im August 1813 zum Prototypen des "teutschen Heldenjünglings" erhoben wurde."

    Auch waren die Motive derer, die zu den Waffen griffen, nicht immer die, die sich die Propagandisten des nationalen Volkskriegs wünschten. Statt gegen die Fremdherrschaft anzurennen, ging es …

    "… meist um traditionelle soziale Proteste gegen Steuern, Rekrutierung oder Reformen, wie sie in der Neuzeit üblich waren."

    Nicht allen Bewertungen der Autorin muss man recht geben. In Preußen, das von Napoleon nach dem Frieden von Tilsit wirklich kujoniert worden war, wurde das "fremde Joch" auch von breiten Schichten als sehr bedrückend empfunden, weshalb die Propaganda hier auf besonders fruchtbaren Boden stoßen konnte. Trotzdem ist das Fazit, zu dem Alexandra Bleyer nach 230 flott geschriebenen Seiten gelangt, wohl zutreffend:

    "Was die Bezeichnung "Volkskrieg" betrifft, muss man feststellen, dass es sich meist um Etikettenschwindel handelte. Den "Volkskriegen" fehlte vor allem eines: das Volk. Kombattanten für die Armee oder Milizen, selbst für die freiwilligen Jäger, mussten häufig durch Androhungen, Strafen oder Gewalt zum Kriegsdienst gezwungen werden."

    Alexandra Bleyer: "Auf gegen Napoleon! Mythos Volkskriege"
    Primus Verlag, 264 Seiten, 24,90 Euro, ISBN: 978-3-863-12022-1