Eine nächtliche Alkoholfahrt auf Fahrrädern durch die Dörfer im rumänischen Banat nahe der Grenze zu Jugoslawien ist der Auftakt dieser Geschichte, deren männliche Helden, Hans und Misch, dem Namen nach im ortsüblichen schwäbischen Dorfdialekt beheimatet sind. Explizit gesagt wird dies nicht. Beide kreisen sie um die Hauptfigur und Ich-Erzählerin Anna; Hans, als ihr Geliebter, Misch, als heimlicher Nebenbuhler und ständiger Begleiter. Wegen der sparsamen zeitlichen und örtlichen Festlegungen kann man es als Leser gegen Ende erraten, dass der Roman im letzten Jahr des Ceauşescu-Regimes spielt. Die Zahl 1989 ist nur im Klappentext zu finden. Auch anstelle von Ceauşescu wird eingangs – so wie es in Rumänien zu jener Zeit üblich war – von "ihm" in der dritten Person gesprochen. Man wusste ja, wer gemeint war.
Zwischen Bleiben und Gehen
Statt einer genauen Verortung beginnt Nadine Schneider in medias res mit einer Beschreibung der Hoffnungslosigkeit der drei Jugendfreunde, die sich in einer Sommernacht plötzlich vor ihrem existenziellen Dilemma wiederfinden: Zwischen Bleiben und Gehen. Das schwere Leben im sozialistischen Land, die Mangelwirtschaft und Ceauşescus Politik sind nur einige der Gründe, die eine Flucht nahelegen:
"Der Fahrtwind war der schönste Begleiter. Strich mir durchs Haar und kühlte meine Stirn. Und hielt wenigstens die Klappe. Hans redete ununterbrochen, die immergleiche Litanei. Dass es nun wirklich Zeit war abzuhauen, denn was gab es hier schon? Nichts als schlechte Freunde, die von einem auf den anderen Tag verschwanden, und noch schlechteren Schnaps, der sich seit Jahren in unsere Eingeweide fraß und Nester für die Krankheiten baute, die wir im Alter haben würden.
'Es gibt nicht mal mehr Butter!' Hans sprach laut, seine Stimme übertönte das Knirschen der Räder auf dem Schotter. 'Wo sind denn die ganzen Sachen aus dem Fernsehen? Davon könnte man drei Dörfer sattkriegen. Und was ist, wenn es stimmt? Wenn er wirklich alles plattwalzen lässt? Es sind nur drei Kilometer! Drei Kilometer bis zur Freiheit. Warum machen wir es nicht heute Nacht?'"
"Der Fahrtwind war der schönste Begleiter. Strich mir durchs Haar und kühlte meine Stirn. Und hielt wenigstens die Klappe. Hans redete ununterbrochen, die immergleiche Litanei. Dass es nun wirklich Zeit war abzuhauen, denn was gab es hier schon? Nichts als schlechte Freunde, die von einem auf den anderen Tag verschwanden, und noch schlechteren Schnaps, der sich seit Jahren in unsere Eingeweide fraß und Nester für die Krankheiten baute, die wir im Alter haben würden.
'Es gibt nicht mal mehr Butter!' Hans sprach laut, seine Stimme übertönte das Knirschen der Räder auf dem Schotter. 'Wo sind denn die ganzen Sachen aus dem Fernsehen? Davon könnte man drei Dörfer sattkriegen. Und was ist, wenn es stimmt? Wenn er wirklich alles plattwalzen lässt? Es sind nur drei Kilometer! Drei Kilometer bis zur Freiheit. Warum machen wir es nicht heute Nacht?'"
Dreiecksbeziehung im Hochsommer
In der scheinbaren Kurzentschlossenheit kommt die existenzielle Not der Jugendfreunde zum Vorschein. Noch würde ihnen der hohe Mais auf den Feldern Schutz bieten auf der Flucht, denn es ist Sommer. Doch die Maisernte rückt immer näher und setzt das Trio unter Druck.
Behutsam wird diese Dreiecksbeziehung beschrieben. Die jugendliche Leichtigkeit der Sprache lässt das Knistern zwischen den Gestalten vorsichtig zutage treten. Zwischen ihren beiden Verehren erlebt Anna diesen Hochsommer, etwa an einem Badetag am Fluss Temesch, als besonders glücklich:
"Ich sah Misch und Hans an, die im Gras lagen. Halb schlafend, kein einziges Wünschen mehr im Gesicht. Ein warmer Wind bewegte das Schilf. Insekten sirrten. Die Zweige der Trauerweide malten Formen ins Wasser. Und das war alles. Mehr passierte nicht an den Sonntagen im Sommer. Einfältig wie Kinder waren wir dann. Das, was uns erschütterte, geschah in den Nächten, wenn die Gedanken in große Räume traten, die sie nicht kannten."
"Ich sah Misch und Hans an, die im Gras lagen. Halb schlafend, kein einziges Wünschen mehr im Gesicht. Ein warmer Wind bewegte das Schilf. Insekten sirrten. Die Zweige der Trauerweide malten Formen ins Wasser. Und das war alles. Mehr passierte nicht an den Sonntagen im Sommer. Einfältig wie Kinder waren wir dann. Das, was uns erschütterte, geschah in den Nächten, wenn die Gedanken in große Räume traten, die sie nicht kannten."
Bleiben oder Gehen?
Eher beiläufig werden die Entbehrungen jener Zeit angedeutet, die prekäre Versorgungslage, die bevölkerungsfeindliche "Systematisierungspolitik" Ceauşescus, der ganze Dörfer für seine größenwahnsinnigen Bauprojekte plattwalzen ließ, oder die allgegenwärtige "Securitate", die die Menschen bespitzelte. Fast alle Figuren positionieren sich jedoch zur Frage des Bleibens oder Gehens, sei es, dass sie über die grüne Grenze fliehen wollen, es legal versuchen, oder dass sie sich rechtfertigen müssen, warum sie es nicht wollen. Andere wiederum wollen nicht zurückgelassen werden.
Anna selbst ist Lackiererin in einer Fabrik in der Stadt, in der auch Hans arbeitet. Sein Bruder ist nach Amerika gegangen, weshalb Hans‘ Zukunft nun verbaut ist, er darf nicht mehr studieren. Beide, Anna und Hans, fristen ein eher monotones und perspektivloses Pendlerleben. Doch während Hans und Misch fliehen wollen, will Anna lieber bleiben. Die Schwere des Lebens in der Diktatur kann ihrem Heimatgefühl scheinbar nichts anhaben. Sie beschwört als Grund das idyllische Dorfleben und die Nähe zur Natur herauf:
"Aber ich wollte nicht weg. Ich wollte mir nichts anderes vorstellen außer heißen Augusttagen und Wintern, in denen sich die Kälte fest gegen die Fenster drückte. Nichts außer dem Frühling, wenn die alten Frauen ihre Bänke vor den Häusern bezogen und ich das kratzige Singen ihrer Stimmen hörte, die nichts erzählten, was mich interessierte. In einem Tonfall, der immer klang wie eine Tür, die sich für jemanden öffnete, der sehr lange fort gewesen war. An trägen Nachmittagen hatte mich das Erzählen der Alten oft gewiegt, während durch das Fenster weiches Licht fiel und die Möbel bedeckte wie Blütenstaub."
"Aber ich wollte nicht weg. Ich wollte mir nichts anderes vorstellen außer heißen Augusttagen und Wintern, in denen sich die Kälte fest gegen die Fenster drückte. Nichts außer dem Frühling, wenn die alten Frauen ihre Bänke vor den Häusern bezogen und ich das kratzige Singen ihrer Stimmen hörte, die nichts erzählten, was mich interessierte. In einem Tonfall, der immer klang wie eine Tür, die sich für jemanden öffnete, der sehr lange fort gewesen war. An trägen Nachmittagen hatte mich das Erzählen der Alten oft gewiegt, während durch das Fenster weiches Licht fiel und die Möbel bedeckte wie Blütenstaub."
Doch in diesem besagten Sommer passiert Schicksalhaftes im Leben der Heldin. Leute verreisen, verschwinden über die grüne Grenze oder aus dem Leben, werden verraten oder verlassen. Welche, die man verloren glaubte, kehren wieder. Nadine Schneider beschreibt das glaubwürdig in kleinen dramatisch zugespitzen Szenen im sonst dreiteiligen Roman.
Bestechend sind ihre Genrebilder des Dorfalltags, in denen Rumänismen wie der Vinete-Salat für Auberginencreme, Tata für Vater, Ciorbă für Eintopf, Vişinată für Weichsellikör oder banatdeutsche Wörter wie der Weidling für Blechschüssel oder Kukuruz für Mais ganz selbstverständlich vorkommen und eine Verbundenheit mit der Natur und den Tieren zutage tritt. Die Autorin liefert nicht viele Hintergrunderläuterungen – sei es historisch oder geografisch –, sie lässt aber ihre Leser in die Dorfwelt eintauchen, als wären sie ein Teil davon.
Pathos und Dorfidylle
Manchmal schwingt jedoch ein gewisses Pathos mit, wenn der schlechte Schnaps für die existenzielle Not verantwortlich ist. Auch ist die Selbstverständlichkeit, mit der die Dreiecksbeziehung vom Trio im Dorfmilieu gelebt wird, nicht immer nachvollziehbar. Ganz anders als Herta Müller, die in ihren "Niederungen" das intakte Dorfleben dekonstruiert, idealisiert Nadine Schneider es manchmal und rutscht zuweilen ins Larmoyante:
"Was sollte denn werden mit meiner Mutter und meinem Vater, deren Rücken gekrümmt waren vom vielen Bücken? Wie tief würde sie mein Fortgehen beugen? Und die Hunde? Würden sie sich nicht heiser bellen, wenn ich nicht Tag für Tag durch das quietschende Tor trat? Wie sollten ausgerechnet sie verstehen, warum ich weg war?"
Der Umsturz in Rumänien wirft nochmal alles durcheinander. Wie sich die Heldin dann entscheidet, erfährt man erst ganz zum Schluss. Mit diesem Roman ist Nadine Schneider ein fesselndes Sittengemälde des rumäniendeutschen Dorfes in der Endzeit des Sozialismus gelungen. Die Zerrissenheit der Helden zwischen Bleiben und Gehen bestimmt ihr Leben im Provisorium. Trotz gewissem Pathos kommt das schmale Bändchen mit einer gewinnenden Leichtigkeit daher, alles in allem, ein gelungenes Debüt!
Nadine Schneider: "Drei Kilometer"
Jung und Jung, Salzburg und Wien. 160 Seiten 20 Euro.
Jung und Jung, Salzburg und Wien. 160 Seiten 20 Euro.