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Nach Anschlag in Istanbul
"Die aktuelle Lage in der Türkei ist besorgniserregend"

Der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich hält es für möglich, dass die Türkei die Gefahr durch die Terrororganisation IS unterschätzt hat. Die Situation in der Türkei sei besorgniserregend, sagte er im DLF. Daran sei die Regierung in Ankara aber nicht unschuldig.

Rolf Mützenich im Gespräch mit Tobias Armbrüster |
    Der SPD-Bundestagsabgeordnete Rolf Mützenich.
    Der SPD-Bundestagsabgeordnete Rolf Mützenich. (imago / Metodi Popow)
    Der "Islamische Staat", der offensichtlich in der Türkei agiere, sei eine Herausforderung, sagte Mützenich. Der Terrororganisation IS würden verschiedene Anschläge dort zugeordnet. Erdogan und seine Regierung hätten offensichtlich lange Zeit mit jeder Gruppe zusammengearbeitet, die ein Gegner des syrischen Assad-Regimes waren. Unter diesem Aspekt habe sie eine Menge untergeordnet und dem IS möglicherweise einen gewissen Bewegungsspielraum gegeben. Heute habe die türkische Regierung erkannt, wie schwierig die Situation in Syrien oder im Irak sei.
    Zudem treffe der unterschiedslos geführte Krieg gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK viele Zivilisten, es gebe viele Tote und Verletzte, Dörfer und Städte würden abgesperrt, erklärte Mützenich. Die EU habe in ihrem Fortschrittsbericht angedeutet, dass sich die Lage der Menschenrechte, der Medien, der Opposition und der Minderheiten im Land massiv verschlechtert habe. Darüber hinaus gebe es immer wieder Berichte über die menschenunwürdige Unterbringung der Flüchtlinge in der Türkei. Man müsse aber auch wahrnehmen, dass Privatorganisationen in der Türkei lange dafür gearbeitet hätten, dass, den syrischen Flüchtlingen eine Möglichkeit zu geben, vor dem Bürgerkrieg zu fliehen.

    Tobias Armbrüster: Der Anschlag in Istanbul am Dienstagmorgen mit zehn Toten, alles Deutsche, dieser Anschlag gibt noch immer einige Rätsel auf. Nach wie vor ist nicht ganz eindeutig geklärt, ob der IS dahinter steckt oder nicht. Wir haben das heute Morgen schon gehört. Aus deutschen Sicherheitsbehörden gibt es zumindest leise Zweifel an dieser These. Auch ungeklärt ist nach wie vor, ob der Attentäter gezielt die deutsche Reisegruppe ins Visier genommen hat.
    Am Telefon begrüße ich Rolf Mützenich. Er ist SPD-Fraktionsvize im Deutschen Bundestag und dort zuständig in der Fraktion für die Außenpolitik. Schönen guten Morgen, Herr Mützenich.
    Rolf Mützenich: Guten Morgen, Herr Armbrüster.
    Armbrüster: Herr Mützenich, was sagt uns dieser Anschlag vom Dienstag über die aktuelle Lage in der Türkei?
    Mützenich: Die aktuelle Lage in der Türkei ist durchaus Besorgnis erregend. Sie ist natürlich auch eine Herausforderung offensichtlich durch den islamischen Staat in der Türkei selbst. Wir wissen aus den vergangenen Monaten verschiedene Anschläge, die auch dieser Gruppe zugeordnet werden. Aber auf der anderen Seite sehen wir auch einen unterschiedslos geführten Krieg gegen die PKK, wo aber auch viele Zivilisten von betroffen sind, Verletzte, Tote, und auch abgesperrte Dörfer und Städte.
    Armbrüster: Hat sich die Türkei den IS sozusagen selbst eingeladen, weil sie diese Terrororganisation ja selbst einige Jahre lang unterstützt und hofiert hat?
    "Möglicherweise hat die Türkei dem IS Bewegungsspielraum eingeräumt"
    Mützenich: Ich glaube, das werden wir nie beweisen können. Aber wir haben erkannt, dass offensichtlich Erdogan und seine Regierung doch lange Zeit mit jeder Gruppe zusammengearbeitet haben, die ein Gegner des Assad-Regimes gewesen waren, und ich glaube, unter diesem Aspekt hat sie eine Menge untergeordnet und möglicherweise auch einen gewissen Bewegungsspielraum für den IS oder Gruppen, die sich dem unterordnen, auch zugelassen.
    Armbrüster: Das heißt, zumindest zu einem Teil trägt sie selbst Verantwortung für diese Entwicklung?
    Mützenich: Ich glaube, dass sie heute erkennt, wie schwierig die Situation ist, die sich gerade auch in Syrien, aber auch im Irak zeigt, und deswegen ist es richtig, dass die Bundesregierung, dass Deutschland gerade auch die Türkei auffordert, alles dafür zu unternehmen, dass die Gespräche unter dem Dach der Vereinten Nationen über Syrien auch mit der Unterstützung der türkischen Regierung stattfinden.
    "Situation von Medien, Opposition und Minderheiten verschlechtert"
    Armbrüster: Sollte Deutschland sein Verhältnis zur Türkei noch mal neu überdenken?
    Mützenich: Das wird immer wieder getan und gerade auch die Europäische Union, die ja jetzt wieder ein neues Kapitel mit der Türkei eröffnet hat, tut es in den Fortschrittsberichten, und die Fortschrittsberichte deuten eben auch aus Sicht der Europäischen Union an, dass die Menschenrechtssituation, die Situation der Medien, der Opposition, Minderheiten im Land massiv sich verschlechtert haben. Ich glaube, es hätte vor mehreren Jahren noch eine größere Chance gegeben, auch mit der türkischen Regierung ernsthafte Gespräche zu führen. Es ist nicht immer nur der Widerstand von Seiten der Türkei gewesen, sondern auch von einzelnen Mitgliedsländern, Regierungen, aber auch Parteien in der Europäischen Union.
    Armbrüster: Wir haben das heute Morgen gehört. Der Bonner Politikwissenschaftler Christian Hacke, der hat hier bei uns im Programm gesagt, es gebe zurzeit so eine Art Stillhalteabkommen zwischen Deutschland und der Türkei. Das läuft dann ungefähr so: Ihr behaltet die Flüchtlinge schön bei euch in der Türkei und dafür prangern wir aus Deutschland nicht mehr so sehr diese Menschenrechtsverletzungen an, von denen Sie jetzt ja gerade auch gesprochen haben. Ist das eine akkurate Beschreibung?
    Mützenich: Ich kann das nicht erkennen. Ich habe auf den Fortschrittsbericht hingewiesen. Ich habe aber auch auf andere Dinge hingewiesen. Auch wir Bundestagsabgeordnete nehmen kein Blatt vor den Mund, wenn es um die Kritik gegenüber der Türkei geht. Aber ich finde, man kann das auch nicht schwarz-weiß malen. Wir müssen erkennen, dass die Türkei auch über lange Zeit bereit gewesen ist, zwei Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen. Frühzeitig gab es Hilfsangebote an die türkische Regierung. Man dachte damals, man könnte das selbst bewältigen. Jetzt sieht es anders aus und diese Angebote sind natürlich auch daraufhin gezielt, dass mit diesen Flüchtlingen in der Türkei anders umgegangen wird als in der Vergangenheit.
    Armbrüster: Auch das haben wir ja heute Morgen gehört, dass diese Leute häufig in der Türkei unter absolut menschenunwürdigen Bedingungen leben müssen und vielfach sogar zurückgeschickt werden nach Syrien.
    Mützenich: Diese Berichte gibt es immer wieder und vor einigen Wochen hat ja bereits die Sprecherin der Hohen Beauftragten der Europäischen Union, von Frau Mogherini gesagt, das ist auch Teil letztlich dieser Gespräche. Deswegen ja auch die Angebote. Dem muss man nachgehen. Das Europäische Parlament verfolgt dies auch sehr aufmerksam. Ich finde das richtig und ich denke, auch die Bundesregierung wird hier diese Frage mit berühren, weil diese Gespräche ja auch federführend mit von Deutschland aus initiiert worden sind.
    Armbrüster: Aber müssen Sie nicht zumindest anerkennen, dass es da ein Dilemma gibt für die Bundesregierung, in der Sie ja auch sitzen, dass die Türkei diese Menschenrechtsverletzungen begeht, aber gleichzeitig, weil sie ein so wichtiger Partner geworden ist und weil die Flüchtlingspolitik in Europa ein so dringendes innenpolitisches Problem geworden ist, dass man da gerne drüber hinwegsieht?
    Mützenich: Das tue ich, Herr Armbrüster. Ich spreche ja von diesem Dilemma und ich habe es ja auch offen eben noch angesprochen. Und das war Ihre Ausgangsfrage gewesen: Herr Professor Hacke, der eben eine bestimmte Schlussfolgerung unterstellt. Das sehe ich so nicht. Ich glaube, es gibt doch ganz unterschiedliche Facetten, und man muss auch wahrnehmen, dass Privatorganisationen in der Türkei lange dafür gearbeitet haben, den syrischen Flüchtlingen vor Ort eine Möglichkeit zu geben, hier vor dem Bürgerkrieg zu fliehen. Auch das ist eine Anerkennung gegenüber der Türkei.
    "Flüchtlingsdebatte in der Türkei wird angeheizt"
    Armbrüster: Wie hat das denn auf Sie gewirkt, als der türkische Präsident Erdogan schon kurz nach dem Anschlag ganz klar gesagt hat, das war der IS?
    Mützenich: Ich war überrascht gewesen, weil nach einer so kurzen Zeit eine öffentliche und offizielle Zuordnung letztlich offensichtlich des Attentäters doch für mich überraschend gewesen ist. Das zeigt auch, dass es weiterhin Fragen gibt, und ich bin froh, dass der Bundesinnenminister das auch angesprochen hat.
    Armbrüster: Jetzt hören wir aus der Türkei Berichte, das wird von dort zumindest bestätigt, dass der Attentäter als Flüchtling registriert war in der Türkei. Inwiefern besteht da jetzt die Gefahr, dass das ein weiteres Element in der Debatte um Flüchtlinge in Europa wird?
    Mützenich: Das wird auf jeden Fall in der Türkei auch die innenpolitische Diskussion anheizen. Natürlich auch: Gerade können wir es uns unter Sicherheitsaspekten erlauben, so viele Flüchtlinge aufzunehmen? Das ist vergleichbar mit einer Debatte in Deutschland, aber auch in anderen Ländern. Ich finde, das darf man der Türkei nicht zum Vorwurf machen. Aber auf der anderen Seite muss man auch über andere Themen, die es in der Türkei weiterhin gibt - und das ist ja auch in Ihrem Programm heute angedeutet worden -, sprechen: natürlich die Situation der Kurden, die Situation, dass die Friedensgespräche mit der PKK aufgekündigt worden sind, und von Seiten Deutschlands hätten wir ein großes Interesse und ich finde, das muss weiterhin auch Bestandteil der Gespräche sein, dass die türkische Regierung hier alles unternimmt, dass diese Friedensgespräche wieder möglich werden.
    Armbrüster: Haben Sie den Eindruck, dass da alle Außenpolitiker in der Großen Koalition hinter diesem Ziel stehen, oder ist das eher eine SPD-Position?
    Mützenich: Ich glaube, die SPD hat ja sehr frühzeitig versucht, gerade auch hier in der Innenpolitik in Deutschland klar zu machen, welch strategischen Wert auch die Türkei nicht nur für die Europäische Union hat, sondern für das gesamte sicherheitspolitische Umfeld. Aus der Union haben wir lange Jahre immer wieder gehört, das muss man nicht so ernst nehmen, privilegierte Partnerschaft. Aber ich muss auch anerkennen, innerhalb der Union, wie zum Beispiel der frühere Kollege Polenz, hat man auch immer wieder diese Position übernommen, und hier sehe ich durchaus ein Umdenken auch in der Union.
    Armbrüster: Aber es ist doch bemerkenswert, dass kaum jemand eigentlich noch spricht über diesen Krieg, der auch gegen die PKK, gegen die Kurden im Osten des Landes geführt wird.
    Mützenich: Das weiß ich nicht. Ich habe ihn ja schon von meiner Seite aus angesprochen. Aber auch die Bundesregierung versucht ja, alles dafür zu tun, dass diese Friedensgespräche wieder anlaufen, weil wir haben ja auch letztlich einen innenpolitischen Mehrwert davon, weil ich möchte nicht zu den Jahren zurück, als diese Auseinandersetzungen zwischen der Türkei und der PKK auch auf deutschem Boden geführt wurden.
    Armbrüster: Um noch mal zurückzukommen auf den Attentäter, von dem es heißt, als syrischer Flüchtling war er registriert in der Türkei. Bei aller Willkommenskultur, könnte das möglicherweise tatsächlich ein Signal sein, dass wir auch in Europa stärker kontrollieren müssen, wer zu uns kommt, dass wir stärker unsere Grenzen kontrollieren müssen?
    Mützenich: Umso wichtiger ist das, was Innenminister de Maizière, aber auch andere jetzt verlautbart haben, dass mit Hilfe der in die Türkei entsandten BKA-Beamten Aufklärung passiert, aber insbesondere auch verlässlich festgestellt wird, wo kommt dieser Attentäter her, welche Hintermänner sind letztlich betroffen. Das haben wir ja in den vergangenen Monaten gesehen: Endlich geht auch die türkische Regierung gegen Zellen offensichtlich des IS in der Türkei selbst vor, und das muss auch weiterhin gelingen.
    Armbrüster: Der SPD-Außenpolitiker Rolf Mützenich heute Morgen hier live bei uns in den "Informationen am Morgen". Vielen Dank, Herr Mützenich, für Ihre Zeit.
    Mützenich: Danke für die Einladung, Herr Armbrüster. Alles Gute.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.