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Nach bestem Wissen und Gewissen

Dass es beim moralischen Handeln allein auf rechte Gesinnung und gute Absicht ankommt - diese Einstellung hat sich in der Geschichte des 20. Jahrhunderts auf dem Feld von Wissenschaft und Technik als hilflos und auch gefährlich naiv erwiesen. Die Sensibilität muss von den Betroffenen kommen, sagt Philosophieprofessor Gerhard Gamm.

Von Peter Leusch | 01.06.2006
    "Ödipus begegnet auf der Wanderung einem Manne und erschlägt ihn im Zwist. Er erkennt sich die Gesamtheit dieser Frevel zu und straft sich als Vater-mörder und Blutschänder, obschon den Vater zu erschlagen und das Ehebett der Mutter zu besteigen weder in seinem Wissen noch in seinem Wollen gelegen hat - während bei der Verwicklung und Verzweigung heutigen Handelns jeder auf alle anderen rekurriert und die Schuld so weit als möglich von sich weg schiebt."

    Gerhard Gamm, Philosophieprofessor an der TU Darmstadt, zitiert hier den Philosophen Hegel, der zwei Typen moralischen Handelns einander gegenüberstellt: Auf der einen Seite Ödipus, der sich für Taten verantwortlich erklärt, die ihm im modernen Sinne gar nicht angelastet werden können. Wusste und ahnte Ödipus doch nicht, dass er auf seine Eltern stieß. Auf der anderen Seite, so Hegel, der moderne Mensch, der sich für gerechtfertigt hält, sofern er nach bestem Wissen und Gewissen handelt. Eine Verantwortung darüber hinaus lehnt er ab. Aber dass es beim moralischen Handeln allein auf rechte Gesinnung und gute Absicht ankommt - diese Einstellung hat sich in der Geschichte des 20. Jahrhunderts auf dem Feld von Wissenschaft und Technik als hilflos und auch gefährlich naiv erwiesen. Man braucht nur an das Beispiel des Nobelpreisträgers Otto Hahn zu erinnern, dem die Kernspaltung gelang, und der dann am Tag von Hiroshima sagte, diese Konsequenz habe er aber nicht gewollt. Selbstverständlich ist der Statiker verantwortlich für die Brücke, die er gebaut, der Pharmakonzern für das Medikament, das er auf den Markt gebracht hat. Und gegebenenfalls werden beide dafür juristisch zur Rechenschaft gezogen. Aber es reiche nicht aus, Verantwortung in solchen Rechtsbegriffen zu fassen, erklärt Gerhard Gamm:

    "Es gibt bei der Verantwortung immer einen Bereich, da muss die Sensibilität von den Betroffenen herkommen … von denen, die ein Stück freiwillig sich in die Verantwortung begeben. Ich glaube, heute haben wir allzu sehr umgekehrt Diskutiert: wem kann ich welche Verantwortung zurechnen. Aber die Verantwortung verträgt das nicht, denn der ganze Zurechnungscharakter steht sehr stark im Bann des Rechts. Aber es gibt diese Seite der Verantwortung, die man nicht so einfach regulieren kann. Und da jeweils müssten Individuen oder betroffene Gruppen oder auch Organisationen sich stark machen und einsetzen."

    Aber ist der Einzelne überhaupt in der Lage, in einer immer komplexer werdenden Welt Verantwortung zu übernehmen?

    Die arbeitsteiligen Produktionsprozesse geraten immer unüberschaubarer, ihre Handlungsketten immer länger, so dass sich die Verantwortung für das Ganze auf dem weiten Weg gleichsam verflüchtigt. Wer bemerkt die ungewollten negativen Effekte für Mensch und Umwelt, wer reagiert auf erste Zeichen, die auf schädliche Nebenwirkungen und Spätfolgen hindeuten?
    Nicht selten sind es gerade Einzelne, an die entscheidende Informationen gelangen: Da wird der Wissenschaftler in einem Pharmaunternehmen gewahr, dass die Testserie für ein neues Medikament manipuliert oder dass ein willfähriges Gutachten eingekauft worden ist. Oder der Mitarbeiter einer Chemiefabrik bemerkt, dass Störfälle vertuscht oder bagatellisiert werden. Dürfen beide sich auf den Standpunkt zurückziehen, dass sie persönlich nichts falsch gemacht hätten, dass sie loyal zu ihrem Unternehmen ständen – und schweigen?

    "Einerseits kann es ein persönliches individuelles Versagen sein, also die Verantwortung nicht übernehmen zu wollen, weil man glaubt, es hat ökonomische Nachteile für das Unternehmen, für einen selbst, - es kann solch ein Konflikt entstehen, der einen Mitarbeiter eher schweigen als an die Öffentlichkeit gehen lässt. Es kann aber auch sein – und diese Fälle scheinen mir mindestens so häufig – dass man die Auswirkungen, die Risiken, in bestimmten Zusammenhängen, erst lernen muss, zu sehen. … man kann das nicht einfach von der Welt ablesen, sondern man muss mit seinen Kompetenzen eine Sensibilität entwickeln, dass da etwas schief gelaufen ist, vor allem dann– was das große Problem darstellt – wenn eine bestimmte Wirkung nicht mit einer bestimmten Ursache direkt in Beziehung gebracht werden kann."

    Schon Hans Jonas machte in seiner philosophischen Ethik, in dem Hauptwerk "Das Prinzip Verantwortung" auf den Wert von Emotionen in dieser Hinsicht aufmerksam. Angst muss nicht blind machen, sie kann auch die Augen öffnen, sie kann Aufmerksamkeit mobilisieren für Entwicklungen, die in eine bedenkliche Richtung laufen. Die gegenwärtige Diskussion zeigt allerdings, dass die so genannte Wissensgesellschaft allzu einseitig auf die Ratio baut. Man meint, verantwortliches Entscheiden und Handeln auf Wissen gründen, ja vielleicht sogar aus bestimmten Erkenntnissen direkt ableiten zu können. Das sei jedoch eine Illusion, erläutert Gerhard Gamm. Zwar wachse das Wissen, aber dieser Prozess zeitige paradoxe Folgen. Denn mit jeder neuen Insel des Wissens, die entdeckt wird, vergrößert sich zugleich der Ozean des Nichtwissens, in dem sie liegt.
    Verantwortung, so Gerhard Gamms These, lasse sich nicht auf Wissen gründen.

    "Nehmen Sie das ganze breite Feld der Erziehung: Im erzieherischen Handeln wissen wir kaum, welche Auswirkungen das haben kann, wie wir sozusagen die Kinder erziehen sollen, so dass es zu ihrem besten ist. Stellen Sie sich vor: wir haben bestimmte Erziehungsziele: Erziehung zur Mündigkeit, zur Selbständigkeit, bei den zu Erziehenden einen Sinn für Gerechtigkeit zu entwickeln, und nun stehen wir in Situationen, in denen wir…, uns überlegen müssen, was führt eigentlich dazu, dass ein Kind einen Sinn für Ungerechtigkeit oder für Gerechtigkeit entwickelt. Und es zeigt sich, dass diese Art von Wissen nur in den seltensten Fällen zu handhaben, zu operationalisieren ist wie beispielsweise beim technischen Wissen."

    Wir müssen entscheiden, in welche Schule wir die Kinder schicken, ohne Klassenlehrer oder Mitschüler vorab zu kennen, ohne deren Einflüsse genau abschätzen zu können. Natürlich gilt es sich, so viel Information wie möglich zu verschaffen, das hat auch Hans Jonas eingefordert. Aber, so Gerhard Gamm, es wäre eine Illusion zu glauben, damit dem Dilemma jeder Verantwortung zu entkommen. Es liege vielmehr im Wesen der Verantwortung, dass Entscheidungen ohne das sichere Netz einer letzten Begründung getroffen und ausgehalten werden müssen. Weder können wir uns darauf zurückziehen, dass wir noch nicht ausreichend informiert seien, noch können wir glauben, über kurz oder lang würde sich ein solches vollständiges Wissen einstellen, so dass wir der eigentümlichen Last der Verantwortung enthoben würden.

    "Genau das ist die Struktur der Verantwortung. Sie ist asymmetrisch. D.h. wir übernehmen dann Verantwortung, wenn wir nicht genau wissen, was dabei herauskommt, was passieren wird. Keiner kann sich aus der Verantwortung schleichen, nur weil er nicht das Wissen besitzt, was in Zukunft erfolgen wird."

    Nicht nur in der deutschen Sprache ist das Wort verantworten mit antworten verwandt. Verantworten bedeutet, auf existentielle Probleme, auf Herausforderungen des Lebens praktisch eine Antwort zu finden. Dabei handelt es sich freilich um Fragen, für die in keiner Schublade Lösungen bereitliegen, vielmehr müssen diese immer wieder neu gesucht und gewagt werden. Der Bochumer Philosoph Bernhard Waldenfels hat es einmal pointiert:
    "Antworten heißt - etwas geben, was man noch nicht hat."