In Deutschland wird weiter über die Eskalation und den zwischenzeitlichen Kontrollverlust bei der "Querdenker"-Demo am Wochenende in Leipzig diskutiert. Gewalttätige Auseinandersetzungen und der Missbrauch des Demonstrationsrechts seien nicht zulässig, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) kritisierte erneut die Entscheidung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts, die "Querdenker"-Demonstration in der Leipziger Innenstadt erlaubt zu haben.
Die Gewerkschaft der Polizei in Sachsen beklagte, Behörden und Justiz hätten durch ihre Entscheidungen die Einsatzkräfte im Stich gelassen. Zudem gerät Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) zunehmend unter Druck. Die oppositionelle Linke forderte seinen Rücktritt. Und selbst die an der Regierung beteiligte SPD und Grünen stellten die Zukunft des Ministers infrage.
Für Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) sollte es jetzt aber nicht um Rücktrittsforderungen gehen, wichtiger sei eine Debatte über Artikel zwei und Artikel acht des Grundgesetzes und die ethische Bewertung der Frage, was wichtiger sei: "das Recht auf Versammlung und Demonstration oder das Recht auf körperliche Unversehrtheit und Schutz vor der pandemischen Situation". Angesichts der pandemischen Situation seien jetzt gesetzliche Grundlagen notwendig, um größere Veranstaltungen zu untersagen, forderte der Präsident des Städtetags. Denn Einschränkung der Freiheit seien nur durch Gesetze, nicht aber durch Verordnungen möglich.
Das gesamte Interview im Wortlaut:
Silvia Engels: Haben Sie denn darauf noch mal eine Reaktion des sächsischen Oberverwaltungsgerichts Bautzen bekommen, oder auf das Geschehen am Wochenende?
Burkhard Jung: Nein! – Still ruht der See. – Wir warten auch bis heute auf die Begründung zu diesem Urteil. Das finde ich schon alles sehr ungewöhnlich, dass man morgens um sieben Uhr, Samstagsmorgens um sieben Uhr das Urteil bekommt, keine Begründung bekommt und bis heute Schweigen ist.
"Auch Richter müssen sich Kritik gefallen lassen"
Engels: Sachsens Justizministerin Meier von den Grünen hält Ihnen allerdings entgegen: "Eine Einflussnahme oder Bewertung von gerichtlichen Entscheidungen verbietet sich." – Müssen Sie sich da mehr zurückhalten?
Jung: Das ist Unsinn, was Frau Meier da sagt. Auch Richter müssen sich Fragen und auch Kritik gefallen lassen. Das ist so in einem Staat. Natürlich haben wir die Gerichtsurteile zu respektieren oder setzen die auch eins zu eins um. Das haben wir ja gesehen am Samstag, wie das dann umgesetzt wird. Aber das entlässt doch nicht die Richter aus der Pflicht, Antwort und Rede zu stehen auf die Frage, wie kommt es zu einer solchen Wertung des allgemeinen Demonstrationsrechts über dem Recht auf körperliche Unversehrtheit.
Engels: Sie wollten ja ursprünglich diese Demonstration jenseits des Zentrums auf einem Messegelände stattfinden lassen, um da besser auf Abstandsregeln und Ähnliches zu achten. Sehen Sie vielleicht auch selbstkritisch, dass Sie das dem Gericht hätten im Vorfeld besser erklären müssen?
Jung: Nee, das haben wir ja erklärt. Das war ja schon bestätigt worden durchs Verwaltungsgericht Leipzig. Das heißt, wir hatten mit diesem, denke ich, sehr guten Kompromiss - großer Raum, genügend Abstand -, glaube ich, dem Demonstrationsrecht Rechnung getragen, und genauso hat es auch das Verwaltungsgericht Leipzig gesehen und in der ersten Instanz hatten wir obsiegt. Insofern: Alles lag auf dem Tisch.
Eindeutiger Verstoß gegen die Corona-Verordnungen
Engels: Wir haben gerade SPD-Parteichefin Esken noch mal als kurzen O-Ton gehört. Sie hat gesagt, das ging auch durch die Medien, dass sie sich einen schnelleren Zugriff der Polizei bei Regelverstößen gewünscht hätte. Auch wenn die Leipziger Polizei ja nun durch das Gerichtsurteil in einer schwierigen Lage war, hat die Polizei hier auch Fehler gemacht?
Jung: Das lässt sich im Nachhinein immer ganz schnell sagen. Am Ende halten ja die Polizistinnen und Polizisten für diese verfehlten Regelungen und auch, denke ich, gerichtlichen Festlegungen die Köpfe hin. Aber in der Tat: Ich hätte mir gewünscht, dass man in dem Moment, wo Hooligans und hartgesottene Neonazis unterwegs sind, in der Tat die Straße versperrt und nicht die Verhältnismäßigkeitsgrundsätze anwendet und die Demonstration ziehen lässt. Es ist eindeutig ein Verstoß gegen die Regelungen, die Corona-Verordnung. Es ist nur eine stationäre Kundgebung erlaubt, die Maskenpflicht wurde nicht beachtet und dann muss man eingreifen, ja.
"Debatte führen über Artikel zwei und Artikel acht des Grundgesetzes"
Engels: Und dass nicht eingegriffen wurde, wer trägt dafür die Verantwortung? Sie auch als Kommune mit, oder der sächsische Landes-Innenminister Wöller von der CDU?
Jung: Das ist ja ganz klar geregelt. Das Versammlungsgeschehen ist so lange städtische Angelegenheit, wie eine Versammlung läuft und die Versammlungsstelle meines Ordnungsamtes dort zuständig ist. In dem Moment, wo die Veranstaltung aufgelöst wird, geht die Verantwortung an die Polizei über, die dann umzusetzen hat, was im Gesetz steht. Alles andere ist dann eine politische Debatte.
Wissen Sie: Ja, man kann jetzt Rücktritt fordern, aber darum geht es, glaube ich, nicht. Es ist nicht die Frage der Rücktrittsforderung, sondern wir müssen in Deutschland eine Debatte führen über Artikel zwei und Artikel acht des Grundgesetzes, was ist wie zu werten, und dann muss man in den Corona-Verordnungen mal gucken, was ist halbgewalkt, was ist nicht in Ordnung, wie muss man das besser machen, so wie Bayern offensichtlich es besser in der Corona-Verordnung verankert haben, wie das Versammlungsgeschehen in diesem Zusammenhang zu gewichten und zu werten ist. Der bayerische Gerichtshof jedenfalls konnte auf dieser Basis eine Kundgebung in München untersagen und darüber müssen wir sprechen.
Am Ende muss man auch über Polizeieinsätze reden, aber bitte erst mal die ethische Debatte führen. Was ist denn das höherwertige Recht? Das Recht auf Versammlung und Demonstration, oder das Recht auf körperliche Unversehrtheit und Schutz vor der pandemischen Situation.
Kommunen fühlen sich allein gelassen
Engels: Sie sind ja auch Präsident des Deutschen Städtetages und viele Städte machen ja die Erfahrungen, dass Demonstrationen, die sie aus Sicherheitsgründen gerne absagen oder zumindest aus den Innenstädten verlegen würden, von höheren Gerichten dann genehmigt werden. Sie werfen hier diese ethischen Fragen auf. Oftmals kommen dann ja in letzter Zeit Ausschreitungen zustande. Fühlen sich generell Kommunen von Gerichten hier im Stich gelassen?
Jung: Ja, wir fühlen uns insgesamt natürlich allein gelassen in dieser Situation. Am Ende sind die Ordnungsämter und die Polizei dann vor Ort diejenigen, die was umzusetzen haben, was nicht zu Ende gedacht ist. Ich bin nicht müde geworden, auch auf der sächsischen Ebene mit dem Ministerpräsidenten, aber auch auf Bundesebene einzufordern, wir brauchen klare Regeln und klare gesetzliche Grundlagen für die Situation und das ist in Deutschland momentan wirklich auch da wieder leider, leider ein Flickenteppich.
"Es braucht gesetzliche Grundlagen"
Engels: Sie sprechen es an: gesetzliche Regelungen. Der sächsische Ministerpräsident Kretschmer hat nun vorgeschlagen, aufgrund der Pandemie-Zeit generell nur noch Demonstrationen oder solche Kundgebungen von maximal 1000 Personen zuzulassen. Würde Ihnen das helfen?
Jung: Das würde schon helfen. Wenn es gerichtsfest ist, würde das helfen. Das muss genau abgeleitet werden aus der Gesamtsituation. In einer Situation, wo sich die Infektionszahlen so rasant entwickeln, wo die Inzidenzen sich so stark entwickeln, glaube ich, gibt es gute Gründe, Veranstaltungen, Versammlungen unter freiem Himmel ganz zu untersagen und dann zu stufen, ab welcher Situation man welches Versammlungsgeschehen wieder ermöglicht.
Und dafür braucht es nicht Verordnungen, dafür braucht es gesetzliche Grundlagen, weil das ist Artikel zwei, die Freiheit kann eingeschränkt werden durch Gesetz. Hier muss man einfach der Politik ins Stammbuch schreiben: Bitte lest das Grundgesetz und leitet daraus ab, was für Regelungen gemacht werden. Ich hoffe, dass uns das jetzt gelingt in Sachsen und wir da auf dem richtigen Weg sind.
Absurde Situation in Leipzig
Engels: Wir haben jetzt über das Ende der Querdenken-Demonstration gesprochen und die mutmaßlichen Rechtsextremisten, die sich da im Umfeld dann offenbar die Gelegenheit zunutze gemacht haben, die Situation zu eskalieren. Daneben gab es aber am Wochenende auch im links geprägten Leipziger Stadtteil Connewitz Attacken von mutmaßlich Linksradikalen auf Polizisten, auch auf eine Polizeiwache. Wie konnte es denn wiederum dazu kommen?
Jung: Ach, das ist wirklich unsäglich. Es gab wohl offensichtlich eine Verhaftung im linksextremen Umfeld, was zu diesen Reaktionen geführt hat und dann in der Tat wieder eine Gewaltsituation erzeugt hat, die inakzeptabel ist. Und das auch noch im Zusammenhang mit diesen "Querdenker"-Demonstrationen – es ist ja auch mittlerweile ein völliges Absurdistan entstanden. Hätten Sie jemals gedacht, dass die Antifa staatliche Regeln verteidigt?
Es ist eine seltsame Situation, eine Gemengelage, die kaum beherrschbar ist. Insofern: Hoffentlich gelingt es uns, die pandemische Situation einzuschränken und zu klären, die gesetzlichen Grundlagen zu sichern und hoffentlich wieder zu einem Dialog zurückzukehren, weg von dieser schrecklichen Situation auf der Straße, sein Recht mit Gewalt durchsetzen zu wollen, und zwar links oder Rechtsaußen.
"Aggressives anarchistisches Netzwerk"
Engels: Jenseits von der Pandemie derzeit gibt es diese Attacken von Linksextremen in Leipzig-Connewitz ja nun schon regelmäßig seit Jahren. Trotzdem kann die Leipziger Stadt hier den Anwohnern letztlich keine Sicherheit bieten. Warum gelingt das nicht?
Jung: Man muss natürlich ganz deutlich sagen: Hier sind kriminelle Machenschaften unterwegs und es muss uns gelingen, mit der Polizei die Fahndungserfolge zu sichern. Das ist ein ganz aggressives anarchistisches Netzwerk im Untergrund, was hier agiert, und das hat mit dem Stadtteil Connewitz gar nichts zu tun. Das hat etwas damit zu tun, dass es uns nicht gelingt, an diesen harten Kern von 200 bis 300 Gewaltbereiten, so wie der Verfassungsschutz sagt, wirklich heranzukommen. Hier brauchen wir dringend Erfolge. Kriminelle müssen verfolgt werden durch das Strafgesetz und das gelingt uns offensichtlich in diesem Land nicht richtig.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.