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Nach dem Anschlag in Halle
"Einen Einzeltäter gibt es im Internet-Zeitalter nicht"

Die Einzeltäter-These zum antisemitischen Anschlag in Halle hält David Begrich von der Arbeitsstelle Rechtsextremismus in Sachsen-Anhalt für problematisch. Sie blende den technischen und den ideologischen Kontext aus, derer sich der Täter ganz offenkundig bedient habe, sagte er im Dlf.

David Begrich im Gespräch mit Christine Heuer |
Nach Angriff in Halle (Saale) legen Menschen Blumen und Kerzen an der Tür der Synagoge nieder
Die Radikalisierungsprozesse hätten sich im Gegensatz zu früher verändert, sagte David Begrich im Dlf (Jan Woitas/dpa)
Christine Heuer: Halle steht unter Schock. Nach dem gescheiterten Attentat auf eine jüdische Synagoge und nach dem Mord an zwei Passanten ist man nicht nur in Sachsen-Anhalt fassungslos. Die Sicherheitsbehörden versuchen, alles über den rechtsextremen und antisemitischen Attentäter herauszufinden. Die Politik versucht derweil, Zeichen zu setzen, gegen seine menschenverachtende Gesinnung. Die Bundeskanzlerin hat gestern Abend an einer Solidaritätsveranstaltung vor der Synagoge in der Berliner Oranienburger Straße teilgenommen. Der Bundespräsident wird heute am Tatort in Halle erwartet.
Wir möchten die Hintergründe dieser Tat, dieses Täters jetzt besprechen mit David Begrich von der Arbeitsstelle Rechtsextremismus bei "Miteinander e.V.". Das ist ein Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt, das gegen Rassismus und Antisemitismus antritt. Guten Tag, Herr Begrich.
David Begrich: Guten Tag nach Köln.
Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland äußert sich in der Würzburger Synagoge zu den Vorfällen in Halle
Zentralratspräsident: "Ich hoffe, dass man jetzt auch in Sachsen-Anhalt verstanden hat"
Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, hat fehlende Schutzmaßnahmen für Synagogen in Sachsen-Anhalt kritisiert. Wäre an der Synagoge in Halle ein Polizeiposten gewesen, hätte der Attentäter früher gestoppt werden können.
Heuer: Sie haben auch recherchiert seit gestern über diesen Attentäter, die Tat, seine Hintergründe. Welches Profil des Täters ergibt sich aus dem, was Sie in der Zwischenzeit sichten konnten?
Begrich: Man kann in aller Vorläufigkeit und mit aller Vorsicht sagen, dass es sich bei dem Täter um einen Täter handelt, der seinen Resonanzraum zuvorderst im Internet sucht. Er hat die Tat live ins Internet übertragen, gestreamt – allerdings nicht in rechtsextreme Foren, sondern vor allen Dingen hochgeladen auf Game-Foren in internationalen Communities, wo es um Gaming-Spiele, um Computerspiele geht. Er hat ein Manifest veröffentlicht, oder zwei, drei Manifest-Fragmente veröffentlicht, in denen es sehr stark um die Anfertigung von Waffen geht. Er hat in dem Video, das er hochgeladen hat, eine Ankündigung gemacht; die deutet auf eine klar antisemitische Verschwörungstheorie hin, in der er die Juden zur Ursache aller Probleme auf der Welt adressiert, und danach einige Einstellungsmerkmale des Rechtsextremismus fallen lässt. Aber man muss deutlich sagen, das Puzzle-Bild, was jetzt gebaut werden muss, das ist erst noch ganz am Anfang.
"Eine Propaganda der Tat und eine Selbstinszenierung als Täter"
Heuer: Aber er war dann doch ziemlich aktiv, wenn auch vielleicht an Stellen, wo auch Ermittler nicht gewohnheitsmäßig hingucken. Ist er unter dem Radar durchgeschwommen, oder hätte man da im Vorfeld aufmerksam werden müssen?
Begrich: Das lässt sich jetzt nicht sagen. Wir prüfen ja gerade in breitem Umfang, ob es eine Vorlaufgeschichte entweder in einer Gruppendynamik der neonazistischen Szene in der Realität gab - das ist unklar -, oder ob es, was sehr viel wahrscheinlicher ist, einen Radikalisierungsverlauf in verschiedenen Internet-Communities gegeben hat und er sich dort ausgetauscht hat und dort seinen Resonanzraum, seinen Hintergrund gesucht hat. Man muss ja ganz klar sagen: Der Täter sucht ja nicht nur die Gewalt, sondern er sucht auch die Ästhetisierung von Gewalt. In dem Moment, in dem ich eine Gewalttat begehe, ist es das eine. Indem ich sie ins Internet übertrage, suche ich einen Resonanzraum, ich versuche, mit Bildern zu arbeiten, ich versuche, mich selbst in Szene zu setzen, ich begehe das, was wir aus dem Terrorismus seit langem kennen, nämlich Propaganda der Tat und eine Selbstinszenierung als Täter. Das heißt, es geht nicht nur um die Tat an sich, sondern es geht auch um die Bilder der Tat, und wenn man diesen Livestream sich zu Ende angeguckt hat, dann weiß man auch, was für eine menschenverachtende Tatmotivation dahinter steht.
"Eine solche Radikalisierung vollzieht sich nicht im luftleeren Raum"
Heuer: Nun fragen sich ja alle, war das ein Einzeltäter, oder konnte der auf ein Netzwerk zurückgreifen. Herr Begrich, was sagen Sie, wenn Sie versuchen, jetzt darauf eine Antwort zu geben?
Begrich: Im strengen Sinne organisationssoziologisch lässt sich diese Frage nicht beantworten. Aber man kann sie natürlich sozialpsychologisch beantworten. Einen Einzeltäter gibt es im Internet-Zeitalter nicht. Es wird Radikalisierungskontexte gegeben haben. Er wird Kontakte gehabt haben. Ob er auch Mitwisser hat, muss sich erst noch rausstellen, aber eine solche Radikalisierung vollzieht sich nicht im luftleeren Raum, vollzieht sich nicht im stillen Kämmerlein. Da wird es Vorläufe gegeben haben, da wird es Interaktionen gegeben haben. Das heißt, diese Einzeltäter-These ist sehr schnell zur Hand, aber sie ist sehr problematisch, weil sie die Kontexte, sowohl die technischen Kontexte als auch die ideologischen Kontexte, derer sich der Täter ganz offenkundig bedient hat, ausblendet, und das halte ich für das falsche Signal.
Einsatzkräfte vom SEK sichern die Umgebung. Bei Schüssen sind nach ersten Erkenntnissen zwei Menschen getötet worden.
Terrorexperte zum Anschlag in Halle: "Das war kein typischer Neonazi"
Der Attentäter von Halle habe sich klar am Norweger Anders Breivik und dem Attentat von Christchurch in Neuseeland orientiert, sagte der Sicherheitsexperte Peter Neumann im Dlf. Es gebe europaweit eine wachsende Gefahr durch Rechtsterrorismus.
Heuer: Der Täter wohnte in Eisleben in Sachsen-Anhalt. Wie stark ist denn in dieser Gegen die rechte Szene?
Begrich: Im Süden Sachsen-Anhalts gibt es eine rechtsextreme Szene. Die ist verfasst, wie sie in vielen Regionen in Deutschland, vor allen Dingen in Ostdeutschland verfasst ist. Die entscheidende Frage ist offen, nämlich ob der Täter tatsächlich in einer direkten Interaktion mit der regionalen rechtsextremen Szene stand. Diese Frage lässt sich aus unserer Sicht im Moment noch nicht seriös beantworten.
Heuer: Es wird auch viel gesprochen über die Sicherung der Synagoge beziehungsweise darüber, dass die eben nicht gesichert war, obwohl das Attentat an Jom Kippur stattfinden sollte. In Berlin und anderen Städten sind Polizeiposten vor jüdischen Einrichtungen besonders an hohen jüdischen Feiertagen der Normalfall; in Sachsen-Anhalt offenbar nicht. Warum denn nicht?
Begrich: Das ist eine Frage, die an die Sicherheitsbehörden gehen muss. Ich denke, es wird hier einen Vorlauf gegeben haben hinsichtlich der Frage der Einschätzung der Sicherheitslage. Wir wissen, dass es da regelmäßige Gespräche zwischen den Sicherheitsbehörden und der Polizei und dem Innenministerium gibt. Aber natürlich können da immer nur Einschätzungen gegeben werden und insofern ist das eine Frage, die jetzt sicher auch in den kommenden Tagen diskutiert und dann am Ende auch beantwortet werden muss.
Begrich: Radikalisierungsprozesse haben sich verändert
Heuer: Aber, Herr Begrich, finden Sie das nicht ungewöhnlich, dass an Jom Kippur an einer Synagoge in einer doch relativ großen deutschen Stadt kein Polizeiposten steht?
Begrich: Offenkundig, wenn ich das mal vergleiche mit den jüdischen Gemeinden, die mir hier in der Region bekannt sind, dann weiß ich, dass die Sicherheitsvorkehrungen haben. Aber diese Sicherheitsvorkehrungen sind offenkundig nicht mit einer ständigen Polizeipräsenz verbunden gewesen. Warum das nicht so ist oder gewesen ist, wie gesagt, das muss man die Sicherheitsbehörden fragen. Ich glaube, zur Einschätzung gehört auch, sich klarzumachen, in einer offenen Diskussion, die vielleicht auch erst einmal ohne Schuldzuweisungen auskommt, dass der Zeitpunkt, zu dem man klar sagen konnte, von welcher identifizierbaren Personengruppe eine tatsächliche hohe Gefahr von Gewalt ausgeht, dass dieser Zeitpunkt vorbei ist.
09.10.2019, Berlin: Ein Polizeibeamter läuft vor der Neuen Synagoge Berlin. 
Nach Angriff in Halle - Rechte Strukturen und die Motive des Täters
In Halle ist unter anderem der Sitz der rechten Identitären Bewegung, berichtet Dlf-Landeskorrespondent Christoph Richter. Auch ein rechter Verlag und ein verurteilter NSU-Unterstützer sind hier zu finden.
Wir haben es mit einer Situation zu tun, in der wir Radikalisierungsprozesse beobachten von Personen und Personengruppen, die zuvor nicht zwingend in einem politischen rechtsextremen, antisemitischen und oder neonazistischen Kontext aufgetreten sind. Und das heißt: Die Frage, wie bildet man Indikatoren, die solche individualisierten oder gruppendynamischen Prozesse von Radikalisierungsprozessen im Internet und im Wechselwirkungsverhältnis zwischen Internet und der Realität auf der Straße widerspiegeln, das bedarf der Analyse und das bedarf der Diskussion. Das ist eine andere Situation, als wir sie vor Jahren noch hatten im Kontext von anderen rechtsextremen schweren Gewaltstraftaten, wo es einen sehr schnell, sehr nachvollziehbaren Bezug zu einem Kern der Neonazi-Szene und ihrem politischen Agieren gibt. Ob das hier der Fall ist, ist offen.
"Wesentliche Tabus sind gefallen"
Heuer: Ich würde Ihnen gerne noch eine parteipolitische Frage stellen, Herr Begrich – einfach, weil die aufgekommen ist. Joachim Herrmann, der bayerische Innenminister, und – wir haben es gerade auch im Bericht von unserem Kollegen Christoph Richter gehört – Kathrin Göring-Eckardt von den Grünen, die Stimmen häufen sich, die sagen, die geistigen Brandstifter solcher Attentate, solcher Gewaltexzesse, die säßen unter anderem bei der AfD und die Partei sei deshalb mitverantwortlich. Würden Sie das für Sachsen-Anhalt so unterschreiben?
Begrich: Ich wäre zum momentanen Zeitpunkt vorsichtig, Zirkel-Schlüsse zu ziehen, die erst noch belegt werden müssen. Ich glaube, was man sagen kann ist, dass das Klima in dieser Gesellschaft, in der sich Rassismus, in der sich Antisemitismus in einer zuvor nicht vorstellbaren Reichweite verbreitet haben, sich seit Jahren verschärft, radikalisiert und verschoben hat. Das ist das Problem. Ob es das Problem einer politischen Partei ist, muss diskutiert werden. Aber was wir in unserer Arbeit, in unserer Beratungs- und Unterstützungsarbeit merken ist, dass die Reichweite von Rassismus und Antisemitismus stärker ist und dass wesentliche Tabus, die in dieser Gesellschaft seit Jahrzehnten gegolten haben, dass bestimmte moralische Brandmauern, die hochgezogen worden waren, einfach zu einem klaren rechtsextremen Denken, die sind gefallen und diese Mauern müssen hochgezogen werden. Es muss klar sein, dass es für Antisemitismus, dass es für Rechtsextremismus in diesem Land keinen Platz gibt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.