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Nach dem Anschlag von Berlin
"Falsch sind die vorgefertigten Urteile"

Für Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) ist eine entscheidene Frage nach dem Anschlag von Berlin, wie die Gesellschaft geschützt werden kann. Zu behaupten, die Gewalttat sei eine Folge der Flüchtlingspolitik der letzten Jahre sei verfrüht, sagte Palmer im DLF. Trotzdem müsse beim Thema Integration einiges getan werden - auch die Abschiebepolitik sei zu überdenken.

Boris Palmer im Gespräch mit Tobias Armbrüster |
    Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Bündnis 90/Die Grünen)
    "Es ist naiv zu glauben, dass der IS nur einen Weg kennen würde, um Attentäter einzuschleusen", sagte Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Bündnis 90/Die Grünen). (picture alliance / dpa / Silas Stein)
    "Wir haben noch viel vor uns bei der Integration, auch Integration ist ein Beitrag zur Sicherheit", sagte Palmer im DLF. Man müsse dabei auch überlegen, was mit abgelehnten Asylbewerbern passiere und wo Abschiebungen notwendig seien, um Sicherheit zu gewährleisten. "Es muss mehr Abschiebungen geben", betonte der Grünen-Politiker. Auch seine Partei müsse das Thema neu überdenken, auch wenn es für die Grünen eine "sehr schwere Diskussion" sei, die auch schwer auszuhalten sei. Entgegen früherer Forderungen der Grünen sei jetzt eine Verschärfung der Asylpolitik erforderlich, da sich die Flüchtlingszahlen deutlich erhöht hätten. Da könne man nicht mehr so "großzügig" sein wie in der Vergangenheit.
    "Wir wissen ja noch nichtmal, wer der Täter ist"
    Wichtig sei dabei, das Feld nicht der AfD zu überlassen, betonte Palmer. Man müsse anerkennen, dass der Staat seiner Grundaufgabe, nämlich für Sicherheit zu sorgen, im vergangenen Herbst nicht genügend nachgekommen sei. Jetzt einen Zusammenhang zwischen der Asylpolitk der vergangenen anderthalb Jahre und dem Anschlag in Berlin herzustellen, sei allerdings verfrüht, betonte Tübingens Oberbürgermeister: "Wir wissen ja noch nichtmal, wer der Täter ist." Auch dass tatsächlich der IS hinter der Gewalttat stehe, sei bisher noch nicht nachgewiesen, sagte Palmer und ergänzte: "Es ist ja ziemlich naiv zu glauben, dass der IS nur einen Weg kennen würde, um Attentäter nach Deutschland einzuschleusen, nämlich Asyl zu beantragen. Das wird auch dadurch offensichtlich, dass die viel zahlreicheren Anschläge in Frankreich stattgefunden haben, obwohl Frankreich die deutsche Asylpolitik nicht übernommen hat. Dorthin sind kaum Asylbewerber gelangt. Den Zusammenhang gibt es nicht."
    Vorgefertigte Urteile seien falsch, Palmer wünsche sich vielmehr eine nüchterne Debatte über die unterschiedlichen Meinungen und Haltungen zum Thema Flüchtlingspolitik, die nicht zwangsläufig rechts seien, auch wenn sie nicht allen gefielen, so der Grünen-Politiker.

    Das Interview in voller Länge:
    Tobias Armbrüster: Der Anschlag von Berlin, er hat so einiges in Gang gesetzt in der deutschen Politik: Trauer, Bestürzung, ja, aber unter der Oberfläche auch ein Nachdenken über die allgemeine Terrorgefahr in Deutschland. Wie groß ist die Gefahr weiterer Anschläge und zeigt sich hier möglicherweise, dass in den vergangenen eineinhalb Jahren zu viele Menschen zu uns nach Deutschland gekommen sind, die nicht genau genug überprüft wurden? Am Telefon jetzt Boris Palmer von den Grünen, der Oberbürgermeister von Tübingen und in seiner Partei sticht er etwas heraus, weil er immer wieder die deutsche Flüchtlingspolitik der letzten Jahre kritisiert hat. Schönen guten Morgen, Herr Palmer.
    Boris Palmer: Guten Morgen, Herr Armbrüster.
    Armbrüster: Herr Palmer, haben wir in den letzten eineinhalb Jahren zu wenig darauf geachtet, welche Menschen da in unser Land gekommen sind?
    Palmer: Das kann man eigentlich nicht bestreiten, denn es gab ja eine Phase, über mehrere Monate hinweg, in der es gar nicht möglich war, die Identität festzustellen, Papiere zu kontrollieren, geschweige denn eine Sicherheitsüberprüfung zu machen. Ich finde, dass das im letzten Herbst ein Fehler war, ist nicht bestreitbar. Ich sehe auch nicht, dass das irgendjemand behauptet, dass das gut gewesen ist. Es war halt eine Notlage, in der es kaum anders ging.
    Armbrüster: Das heißt, rechtfertigen kann man es schon?
    Palmer: Es war eine Notlage und entscheidend ist, dass die Kanzlerin gesagt hat, so was darf sich nicht wiederholen. Das können die Menschen erwarten, dass der Staat für Sicherheit sorgt. Das ist eine der Grundaufgaben, die er überhaupt hat, und der ist er im letzten Herbst nicht genügend nachgekommen. Dieses Thema darf man nicht der AfD überlassen, Fakten muss man ansprechen.
    "Zu frühe Schlussfolgerungen sind immer falsch"
    Armbrüster: Können wir denn heute Morgen auch schon sagen, dass dieser Anschlag am Montag, dass der eine Folge der deutschen Flüchtlingspolitik war?
    Palmer: Das können wir sicher nicht sagen. Zu frühe Schlussfolgerungen sind immer falsch. Voreilig das, was man immer schon für richtig hielt, in die Öffentlichkeit zu tragen, nützt nichts. Wir wissen ja noch nicht mal, wer der Täter war. Was sich erkennen lässt ist, dass es aussieht wie ein islamistischer Terroranschlag. Die Ähnlichkeiten mit Nizza und mit den Bauplänen, die der IS veröffentlicht hat, sind offenkundig. Aber man sollte jetzt wirklich erst mal abwarten, ob man nachweisen kann, dass es diesen Zusammenhang gibt. Bis heute wissen wir das nicht.
    Armbrüster: Dann lassen Sie uns den Blick vielleicht etwas weiten. Kann man denn sagen, dass die Gefahr weiterer terroristischer Anschläge, dass die durch die Flüchtlingspolitik gefördert wurde?
    Palmer: Das kann man eher nicht sagen, denn es ist ja ziemlich naiv zu glauben, dass der IS nur einen Weg kennen würde, um Attentäter nach Deutschland einzuschleusen, nämlich Asyl zu beantragen. Das wird auch dadurch offensichtlich, dass die viel zahlreicheren Anschläge in Frankreich stattgefunden haben, obwohl Frankreich die deutsche Asylpolitik nicht übernommen hat. Dorthin sind kaum Asylbewerber gelangt. Den Zusammenhang gibt es nicht. Es gibt aber einen anderen Zusammenhang, nämlich den, dass die Menschen fragen, wie viele unter denen, die Asyl bei uns begehren, die Zuflucht gesucht haben, führen Böses im Schilde und wie viele von denen werden kriminell. Und diesen Zusammenhang darf man, glaube ich, nicht vorab ausklammern, sondern man muss sich dieser schwierigen Frage stellen.
    Armbrüster: Was ist denn Ihre Antwort darauf?
    Palmer: Erst mal glaube ich, dass es zwei falsche Antworten gibt, nämlich die eine, die vorgefertigte, es spielt überhaupt keine Rolle, ob ein Flüchtling kriminell ist, oder ob das ein Mensch ist, der immer schon hier gelebt hat. Das mag für den einen so sein, aber andere fühlen da doch einen Unterschied, so wie die Kanzlerin jetzt gesagt hat, es wäre besonders widerwärtig, wenn jemand, der Schutz und Hilfe gesucht hat, so einen Anschlag begeht.
    "Falsch sind die vorgefertigten Urteile"
    Armbrüster: Ich glaube, bei diesem Satz, Herr Palmer, da haben viele Leute aufgehorcht, weil das würde ja heißen, dass wir von einem Flüchtling ein moralisch einwandfreieres Verhalten erwarten als von einem Deutschen, der seit Jahrzehnten hier lebt.
    Palmer: Ja, das muss man nicht, aber man darf es. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich erwarte schon, dass jemand, der meine Hilfe in Anspruch nimmt, dafür dankbar ist und nicht gegen unsere Gesetze verstößt oder mir dann die Hand abhackt. Das ist vielleicht moralisch diskutierbar, das muss man nicht so sehen, aber man darf es so sehen, man darf so fühlen, und ich finde schon, dass so eine Erwartung zulässig ist und in der Debatte eine Rolle spielen darf. Was ist falsch? Falsch sind die vorgefertigten Urteile, dies hat nichts mit Flüchtlingen zu tun oder wir wussten immer schon, die Flüchtlinge sind kriminell. So sollten wir die Debatte nicht führen. Richtig wäre es, ganz nüchtern zurückzutreten und festzustellen, darüber gibt es sehr unterschiedliche Meinungen und Haltungen in unserer Gesellschaft. Die sind nicht rechts, auch wenn sie einem selber nicht gefallen. Und was entscheidend ist, ist die Frage zu stellen, was können wir tun, um uns zu schützen. Das muss passieren, denn offensichtlich reicht der Schutz ja nicht aus.
    Armbrüster: Nun haben wir allerdings inzwischen an den deutschen Grenzen Kontrollen. Flüchtlinge werden registriert. Da kommt niemand mehr nach Deutschland rein, der nicht erfasst wird. Kann man dann nicht eigentlich das Ganze abhaken und sagen, gut, das war ein vorübergehender Mangel, der ist allerdings behoben, jetzt ist eigentlich alles gut?
    Palmer: Alles gut ist es nicht, aber es ist sehr viel besser geworden und das sollte man anerkennen und das müsste auch die AfD einsehen, dass das, was sie damals möglicherweise auch in Teilen zurecht kritisiert hat, sie sicher nicht alleine, auch andere haben das kritisiert, dass das heute gewährleistet ist und dass die Grenzen geschützt und kontrolliert werden. Das war unabdingbar. Aber natürlich heißt das nicht, dass alles getan ist. Wir haben noch längst nicht den Weg zur Integration geschaffen und wir wissen, dass die sozialen Lebensbedingungen die entscheidende Determinante für die Kriminalitätsneigung sind. Nicht die Herkunft, sondern der Status in einer Gesellschaft bestimmt im Wesentlichen Kriminalität. Da haben wir noch viel vor uns. Auch Integration ist ein Beitrag zur Sicherheit. Und natürlich müssen wir auch die Frage stellen, was geschieht mit denen, deren Asylantrag abgelehnt ist. Denn es ist noch sehr viel schwerer zu akzeptieren, wenn jemand, der gar kein Recht mehr hat, sich im Land zu befinden, gewalttätig wird oder gar einen Anschlag begeht. Deswegen glaube ich, dass auch zum Schutz des Asylrechts und der Akzeptanz des Asylrechts die Abschiebepolitik geklärt werden muss. Wir müssen uns die Frage auch als Grüne stellen, wo sind wir für Abschiebungen, und nicht nur, wo sind wir gegen Abschiebungen. Das fällt uns leicht. Aber wir müssen auch die schwierige Frage beantworten, wo sind Abschiebungen notwendig.
    "Es muss mehr Abschiebungen geben"
    Armbrüster: Das heißt aber in der Konsequenz, Herr Palmer, ganz klar: Sie wollen mehr Abschiebungen.
    Palmer: Es muss mehr Abschiebungen geben, denn die Zahl derjenigen, die ausreisepflichtig sind, steigt ja drastisch an. Für 60 Prozent der Asylbewerber wird derzeit Asyl gewährt. Diese Menschen dürfen bleiben, sie haben unseren Schutz verdient. Aber die anderen 40 Prozent, sagt unser Asylrecht, sind verpflichtet, das Land zu verlassen. Und wenn die Zahlen sehr stark steigen, dann muss es auch mehr Abschiebungen geben.
    Armbrüster: Haben Sie den Eindruck, das haben Ihre Parteikolleginnen und Parteikollegen bei den Grünen verstanden?
    Palmer: Ganz sicher! Es gibt ja viele grüne Landesregierungen und auch dort steigen die Abschiebezahlen. Aber für uns Grüne ist es eine sehr schwere Diskussion, schwer auszuhalten, dass wir jetzt entgegen dem, was wir seit vielen Jahren gefordert haben, nämlich Verbesserungen im Asylrecht, Verschärfungen im Asylrecht mittragen müssen. Und der Grund ist einfach, dass es einen Unterschied macht, ob 50.000 Menschen im Jahr Hilfe begehren - da kann man viel, viel großzügiger sein und wir waren in der Vergangenheit zu engherzig -, oder ob 800.000 in einem Jahr kommen. Dann müssen die Standards andere sein. Und diese Debatte, weil die Verhältnisse sich stark verändert haben, ist für uns sehr schwierig und für viele auch sehr emotional.
    Armbrüster: Wenn dann die Grünen nicht so richtig von dieser aktuellen politischen Verunsicherung profitieren können, welche politischen Kräfte werden es dann sein?
    Palmer: Zu befürchten ist, dass eher die Ränder profitieren, dass die AfD noch mal einen Aufschwung in den Umfragen nimmt, dass manche jetzt sich bestätigt fühlen werden. Deswegen, glaube ich, ist es gerade wichtig, das Feld nicht diesen Kräften zu überlassen, sondern zu zeigen, wir reagieren besonnen, wir geben unsere Freiheiten nicht auf, wir ordnen uns auch terroristischer Gefahr nicht unter, sondern wir suchen nach den Maßnahmen, die helfen, Sicherheit zu verstärken.
    "Ich sehe die AfD nicht als positives Korrektiv"
    Armbrüster: Herr Palmer, verzeihen Sie, wenn ich Sie da kurz unterbreche, weil wir haben nicht mehr so viel Zeit. Aber gerade in puncto AfD würde ich doch noch mal gerne nachfragen. Da hat sich die Partei, die AfD doch eigentlich als Korrektiv zumindest aus Ihrer Sicht erwiesen in den vergangenen Monaten und Jahren, weil sie immer wieder darauf gedrängt hat, nahezu als einzige politische Kraft, dass es so mit der Flüchtlingspolitik nicht weitergehen kann.
    Palmer: Der Fehler war sicher, dass diejenigen, die in den anderen Parteien skeptisch waren, die jetzt durchaus auch zu hören sind, für zwei, drei Monate kaum vorgekommen sind in der öffentlichen Debatte. Das hätte man nicht tun sollen, damit wurde der AfD ein Feld überlassen, das man ihr nicht überlassen darf. Ich sehe sie aber nicht als positives Korrektiv. Dazu ist sie zu sehr durchsetzt von Haltungen, die ausländerfeindlich, die fremdenfeindlich, die nationalistisch sind. Das kann man nicht als positives Korrektiv begreifen. Aber für viele Wählerinnen und Wähler haben sie diese Funktion erfüllt. Es war ein Ventil, es war eine Protestdemonstration, in der Wahlkabine AfD zu wählen, und es wäre schon wichtig, dass die Politik genau hinhört, was die Menschen damit ausdrücken wollen. Das heißt, nicht der AfD nachrennen; der muss man entschieden begegnen. Aber die Probleme, die Menschen umtreiben, die muss man aufgreifen. Sonst besteht die Gefahr, dass Radikale profitieren.
    Armbrüster: … sagt hier bei uns im Deutschlandfunk Boris Palmer von den Grünen, der Oberbürgermeister von Tübingen. Ich danke Ihnen vielmals, Herr Palmer, für Ihre Zeit heute Morgen.
    Palmer: Ich danke Ihnen! Schönen Tag.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.