Man müsse sich der Frage zuwenden, wieso man die Bedrohung von rechts bagatellisiert habe, sagte die Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Vorsitzende der Partei Die Linke Martina Renner. Versprechen vonseiten der Sicherheitsbehörden, den Rechtsterrorismus in den Fokus zu nehmen, habe es bereits nach den NSU-Morden gegeben - passiert sei aber nichts. Seitdem habe es 19 Tote durch rechtsextreme oder antisemitische Gewalt gegeben. "Die Szene ist bewaffnet wie nie", so die sicherheitspolitische Sprecherin der Linksfraktion. "Es gab noch nie so viele rechte Attentate unter Verwendung von Waffen und Sprengstoff". Das zeige, dass die Behörden trotz der "ganzen Bekenntnisse, dass man nicht mehr den Rechtsterror ignorieren kann", spätestens seit 2011 nicht reagiert hätten.
Zugleich müsse man stärker ins Netz schauen, wo sich auch der Täter von Halle radikalisiert hatte. Dazu brauche es aber keine Ausweitung von digitaler Überwachung. "Das ist jetzt schon möglich, da, wo entsprechende Voraussetzungen erfüllt sind". Diejenigen, die jetzt forderten, den Datenschutz einzuschränken, seien "sicherheitspolitische Trittbrettfahrer". Eine sichere und vertrauensvolle Kommunikation sei ein Grundrecht. "Wir wissen doch, wer die potenziellen Täter sind. Sie äußern sich in Foren, auf Portalen. Wir kennen sie". Ein mögliches "Netzwerk" hinter dem Täter sei heutzutage nicht mehr unbedingt eine rechte Kameradschaft, sondern könne auch eine Online-Community sein.
Sandra Schulz: Generalbundesanwalt Peter Frank hat gestern sehr klar formuliert: "Was wir erlebt haben, war Terror." Das waren die Worte Franks. – Nach Überzeugung der Ermittler handelte der Mann, der am Mittwoch versucht hat, in eine Synagoge in Halle an der Saale einzudringen, der später zwei Menschen getötet hat, aus antisemitischen und rechtsterroristischen Motiven.
Am Telefon ist Martina Renner, stellvertretende Vorsitzende der Partei Die Linke und für ihre Partei Mitglied im Bundestags-Innenausschuss. Schönen guten Morgen!
Martina Renner: Guten Morgen, Frau Schulz.
Schulz: Was muss aus Ihrer Sicht folgen auf die Tat von Halle?
Renner: Eben ist schon viel richtiges gesagt worden. Natürlich müssen wir Synagogen schützen und jüdische Einrichtungen. Mark Tschollek hat das im "Spiegel" ganz gut formuliert. Neben dieser Forderung kommt dann natürlich die Frage auf, was ist das überhaupt für ein Zustand, in welcher gesellschaftlichen Situation stehen wir derzeit, dass wir überhaupt über so etwas reden müssen und dass die Menschen in Halle, die dort an diesem hohen Feiertag zusammenkommen wollten, nur durch eine Holztür geschützt wurden.
Ich glaube, wir müssen den Blick ein bisschen weiten über diese ganz unmittelbaren sicherheitspolitischen Forderungen zu dem, was in den letzten Jahren und vielleicht sogar Jahrzehnten im Kampf gegen Rechtsterror durch Politik, aber auch Sicherheitsbehörden falsch gelaufen ist.
Wenn wir uns nicht dieser Frage zuwenden, warum man diese Gefahr immer wieder ausgeblendet hat, bagatellisiert hat, warum man immer wieder von Einzeltätern spricht und nicht von Netzwerken, dann werden wir, glaube ich, die Gefahr rechten Terrors, sei er antisemitisch oder rassistisch motiviert, nicht bannen.
"Die Szene ist bewaffnet wie nie"
Schulz: Das ist eine Kritik, die Sie natürlich schon häufig geäußert haben, auch nach dem Fall Walter Lübcke. Aber diesen Schwenk, den wir jetzt wirklich sehen, auch bei einem Horst Seehofer, beim Innenminister, der ja nun auch schon vor einigen Monaten den Rechtsterror als große Gefahr gekennzeichnet hat, bei einem Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz Haldenwang, der genauso formuliert – übersehen Sie nicht, dass sich da doch auch einiges getan hat?
Renner: Wir hatten dieses Versprechen auch nach dem NSU-Skandal und dennoch ist nichts passiert. Wir haben seit dieser Zeit jetzt 19 weitere Tote rechter, rassistischer, antisemitischer Gewalt in Deutschland zu verzeichnen.
Die Netzwerke sind reaktiviert aus den 1990er-Jahren – denken Sie an Combat 18. Die Szene ist bewaffnet wie nie. Es gab noch nie so viele rechte Attentate, Gewalttaten unter Verwendung von Waffen und Sprengstoff. Das heißt doch, die Behörden haben all die letzten Jahre, trotz dieser ganzen Bekenntnisse, dass man jetzt nicht mehr den Rechtsterror ignorieren kann, seit 2011 spätestens nicht reagiert.
Schulz: Frau Renner! Wenn wir auf diesen speziellen Fall schauen, dann sehen wir: Bei dem Verhafteten haben wir es mit einem Mann zu tun, anders als im Fall Walter Lübcke, der vorher bei den Sicherheitsbehörden überhaupt nicht in Erscheinung getreten ist. Ist das Argument nicht zumindest richtig, dass solche Leute wirklich schwer zu bekommen sind?
Renner: Ich erinnere mich noch an die ersten Stunden nach dem schrecklichen Mord an Walter Lübcke, wo auch davon die Rede war, dass der mutmaßliche Täter vollkommen vom Radar verschwunden sei, dass er alleine gehandelt habe, möglicherweise aus auch persönlichen Motiven.
Mittlerweile wissen wir, er hatte Unterstützer, er ist tief eingebettet in die neonazistische Szene, er war auf rechten Aufmärschen und Ähnliches mehr. Ich warte jetzt mal ab, was wir die nächste Zeit erfahren.
Die Frage bei diesem Täter ist ja jetzt nicht, ob er Mitglied einer bekannten neonazistischen Terrororganisation ist, sondern ob er im Vorfeld zum Beispiel mit Gleichgesinnten die Tat geplant und besprochen hat, ob man gemeinsam diesen Waffenbau geübt hat, ob er seine Anleitung verbreitet hat auf entsprechenden Plattformen und Foren der rassistischen Rechten. Das ist der Resonanzraum.
Wir müssen weg von diesem, in welcher Kameradschaft ist er, in welcher Gruppierung. Heute kann so eine Organisierung auch auf einem Image-Board stattfinden oder in einem Forum oder auf einem Portal. Deswegen ist vielleicht die Organisierungsform neu, aber der Begriff des Netzwerkes stimmt vielleicht dann dennoch auch.
"Die Ermittlungsbehörden, die Strafverfolgungsbehörden haben diese Befugnisse"
Schulz: Aber die Frage ist doch, wie man an diese Leute herankommt und wie die Politik, wie die Sicherheit, wie die Innenpolitik ist, sprechen wir dann relativ schnell über relativ konkrete Maßnahmen, über relativ konkrete Schritte. Da haben wir gestern Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk das Plädoyer gehört des CDU-Innenpolitikers Middelberg, der unserem Kollegen Jasper Barenberg hier folgende Vorschläge oder folgende Forderungen unterbreitet hat, sage ich jetzt mal.
O-Ton Mathias Middelberg: "Dann müssen wir auch ganz offen sprechen über, ich sage das mal, Eingriffe in den Datenschutz. Dann muss man darüber sprechen, dass wir Melde- und Auskunftspflichten haben, zum Beispiel bei strafbaren Hass-Postings auf Seiten der Plattformbetreiber. Dann müssen wir auch verschlüsselte Messenger-Dienste und anderes einsehen können. Dann müssen wir uns auch über Mindestspeicherfristen unterhalten, wenn es jetzt etwa darum geht, bei dem jetzt festgesetzten Täter sein Verbindungsnetzwerk aufzuklären."
Schulz: Er fordert auch ganz klar weitere Befugnisse für den Verfassungsschutz. – Wir haben jetzt die Beispiele, die wir sehen, alle in einem hoch sensiblen Bereich, nämlich auf den Rechnern. Aber wird es ohne diese Befugnisse gehen?
Renner: Erst einmal muss man klarmachen: Die Ermittlungsbehörden, die Strafverfolgungsbehörden haben diese Befugnisse. Sie haben die Befugnisse, Kommunikation, auch digitale Kommunikation zu überwachen, dort wo Straftaten geplant werden.
Die Frage ist, warum man in der Vergangenheit im Bereich der Organisierung der extrem militanten Rechten, dort nicht in dem Maße hingeschaut hat, wie man es zum Beispiel auch notwendigerweise im Bereich des Dschihadismus tut.
Es geht nicht um neue Befugnisse; es geht um Priorisierungen innerhalb der Sicherheitsbehörden. Und da sage ich ganz deutlich: Wenn ich mir anschaue, mit welcher Manpower, mit welcher Intensität man zum Beispiel seitens des Generalbundesanwalts oder des Bundeskriminalamts sich mit dem Thema Rechtsterror beschäftigt hat, dann war das zu wenig.
Das nächste: Ich glaube, man braucht auch nicht zu glauben, dass sich diese Personen alleine im digitalen Raum bewegen. Wir wissen von allen Täterbiografien, Tatvorbereitungen und Ausführungen, es gibt immer einen Zusammenhang zwischen den Vorbereitungen im echten Leben und dem darüber reden, das Planen im Internet.
Vielleicht ist die Inszenierung des Terrors neu. Vielleicht ist die Kommunikation zu dem Terror neu. Aber das Wesen des Terrors ist nicht neu. Die Behörden haben ausreichend Befugnisse. Sie müssen aber endlich anerkennen, mit was wir es hier zu tun haben: mit einer nicht neuen, sondern seit Jahren latenten Bedrohung von rechts.
Schulz: Aber noch mal dieses konkrete Beispiel mit den Kommunikationsformen. WhatsApp, wissen wir, ist Ende zu Ende verschlüsselt, und da sagen uns die Ermittler immer wieder, da müssen wir ran. Was ist denn daran falsch?
Renner: Daran ist falsch, dass natürlich erst mal es ein Grundrecht ist, dass wir als Bürger und Bürgerin sicher und auch, ich sage mal, vertraulich kommunizieren dürfen. Das ist durch die Verfassung geschützt. Wie das Briefgeheimnis gilt das auch im digitalen Raum.
Das zu knacken, ist jetzt schon möglich – da, wo die entsprechenden Befugnisse vorhanden sind und wo bestimmte Voraussetzungen da sind.
Was wir aber sehen seitens der Behörden ist: Solche Terroranschläge werden genutzt, um etwas anderes zu erreichen, als eigentlich jetzt die Gefahrenabwehr oder die Strafverfolgung. Es geht darum, natürlich eine grundsätzliche Überwachung dieser Kommunikationswege im digitalen Raum aller Bürger und Bürgerinnen zu erreichen. Das sind quasi sicherheitspolitische Trittbrettfahrer, die dann vom Geheimdienst und den Sicherheitsbehörden so was fordern.
Es geht an der konkreten Aufklärung dieser Tat und der Prävention in dem Bereich auch komplett vorbei. Wir wissen nämlich, wer die potenziellen Täter sind. Sie äußern sich nämlich. Sie interagieren. Sie treffen sich. Sie sind am Rande von AfD-Aufmärschen. Sie kommentieren im Netz. Sie verbreiten Hass. Wir kennen sie doch. Wir müssen sie doch nicht erst jetzt finden, indem wir Datenschutz löchern.
"Ein klassisches Dokument der Theorie des Rassenkrieges"
Schulz: Frau Renner, wobei nicht jeder, der im Netz kommentiert, auch automatisch bekannt ist. – Ich wollte gerne einen Fokusschwenk mit Ihnen noch machen.
Wir sprechen jetzt natürlich nach diesem Fall, nach diesem Anlass über Antisemitismus in Deutschland, wie jüdische Einrichtungen besser geschützt werden können. Wenn wir aber dieses Manifest des Täters von Halle lesen, ist dann diese Fokussierung, diese Zuspitzung auf jüdische Einrichtungen, auf Synagogen richtig, oder müssen wir das viel breiter sehen, müssen wir auch über Moscheen sprechen?
Renner: Dieses Manifest, finde ich, ist eigentlich ein klassisches Dokument der Theorie des Rassenkrieges, der immer die Verbindung gezogen hat von der Vernichtungsvorstellung gegen Migranten und Migrantinnen zu der Auslöschung der Juden als die, die vermeintlich in einer rechten Verschwörungstheorie verantwortlich sind für das, was man früher klassisch im Narzissmus gesagt hat, Vernichtung der vermeintlichen arischen Rasse, und heute unvollkommen nennt.
Das heißt, es gibt einen ganz engen Zusammenhang von Rassismus und Antisemitismus, und wenn man dieses Manifest sich anschaut, gibt es da natürlich noch weitere Elemente, die auch klassisch sind für den rechten Terror: Der Hass auf Frauen und auch der Hass auf Linke. Alle vier sind Elemente.
Deswegen: Ich glaube, es gibt eine besondere Verantwortung vor der deutschen Geschichte, dass wir im besonderen Maße über den Schutz jüdischen Lebens in Deutschland unverhandelbar nachdenken müssen und ihn auch gewährleisten. Ich sage auch bewusst gewährleisten.
Ich glaube, das muss unser Auftrag sein. Zum anderen müssen wir natürlich auch immer wieder klar im Kopf haben: Wir haben es bei Walter Lübcke gesehen, wir haben es bei anderen Anschlägen gesehen.
In den Fokus von Rechtsterror geraten alle, die sich für Demokratie, offene Gesellschaft einsetzen. Und ich würde auch nicht ausschließen, dass zum Beispiel der Hass auf die freie Presse oder der Hass auf Linke demnächst auch Tatmotivation irgendwie von rechtem Terror sein kann.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.