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Nach dem Brexit
Sehnsucht nach der vermeintlich guten, alten Zeit

Die Entscheidung der Briten für den Brexit war auch ein Votum gegen politische Eliten und die Folgen der Globalisierung, vor allem fernab der boomenden Hauptstadt. Im Nordosten des Landes in Sunderland haben viele das Gefühl wirtschaftlich abgehängt und von der Regierung vergessen zu sein. Doch gerade hier könnte der Brexit bittere Folgen mit sich bringen.

Von Stephanie Pieper |
    Die Fahne Großbritanniens und eine "ausgefranste" Europa-Fahne wehen nebeneinander im Hafen von Dover (GB), aufgenommen am 28.05.2016
    In Sunderland votierten mehr als 61 Prozent der Bürger für einen Ausstieg aus der Europäischen Union. (picture alliance / dpa-Zentralbild / Andreas Engelhardt)
    Das 1984 eröffnete Nissan-Werk in Sunderland gilt als das modernste Europas und beschäftigt fast 7.000 Menschen. Die meisten Autos, die hier – im Nordosten Englands - vom Band rollen, exportiert der japanische Hersteller in die EU. Nissan profitiert von der britischen EU-Mitgliedschaft, Sunderland profitiert von Nissan – und doch haben die Menschen in dieser Stadt für den Brexit votiert: mit mehr als 61 Prozent. Auch Jackie.
    "In Sunderland geht‘s seit Jahrzehnten nur noch abwärts", klagt sie;. "Wir kommen damit nicht mehr klar, wir müssen was dagegen tun."
    Tatsächlich liegt die Arbeitslosigkeit über dem landesweiten Durchschnitt, das Pro-Kopf-Einkommen deutlich darunter. Auch Rentnerin Susan findet, der Nordosten sei wirtschaftlich seit Langem abgehängt, existiere praktisch nicht für die Regierung in London. Sie und ihr Mann wollten sich mit ihrer Stimme für den Brexit endlich Gehör verschaffen. Für die Politiker im fernen Westminster - gleich, ob Konservative oder Labour - sei doch Manchester der Norden, und alles nördlich davon schon Schottland, ärgert sich Sidney.
    In der Mitte und im Norden Englands
    Dem Crash von 2008 folgte ein Boom, doch der kam vor allem der Hauptstadt-Region zugute: Wer im Südosten Englands lebt und noch dazu Immobilien oder Wertpapiere besitzt, dessen Wohlstand stieg in den vergangenen Jahren kräftig. Anders in der Mitte und im Norden Englands: Gemessen an der Kaufkraft stagnieren Löhne und Gehälter hier seit mehr als einem Jahrzehnt. Im globalen Kosten-Wettbewerb konnten weder der Kohlebergbau noch der Schiffbau mithalten; diesen Niedergang der Region lasten viele auch der EU an – und den Zuwanderern, die nach der Osterweiterung kamen.
    Fischverkäufer Thomas aus Newcastle fragt sich, warum EU-Ausländer die Jobs bekämen, wo doch eine Million Briten arbeitslos seien. Für die "white working class", die weiße Arbeiterklasse, klangen die Versprechen der Brexit-Werber verlockend: Wenn erst weniger Zuwanderer kommen, wenn wir kein Geld mehr nach Brüssel überweisen müssen, dann wird es euch besser gehen. Auch Handwerker Derrick aus dem Nachbarort South Shields hofft, der Brexit werde viele Probleme lösen.
    Kein Druck mehr auf die Löhne, keine Wohnungsnot, kein Missbrauch von Sozialleistungen: Raus mit den "Schmarotzern", fordert Derrick wörtlich, endlich wieder Großbritannien sein. Viele Wähler hatten bei diesem EU-Referendum, vielleicht zum ersten Mal überhaupt, ein Gefühl der Macht: Jede Stimme zählt, auch meine. Das Land sei vor dem EU-Beitritt zurechtgekommen und werde auch nach dem Austritt zurechtkommen, gibt sich Jo zuversichtlich.
    Ausdruck einer Sehnsucht nach der vermeintlich guten, alten Zeit
    Der Zuspruch für den Brexit ist auch Ausdruck einer Sehnsucht nach der vermeintlich guten, alten Zeit: als Britannien ein Empire und in Europa das Sagen hatte, als die Arbeits- und Wirtschaftswelt geordneter, übersichtlicher erschien. Eine Nostalgie, die die Menschen in Sunderland indes noch bitter bereuen könnten: Der Nissan-Boss will die Zukunft des Werkes davon abhängig machen, welchen Handelsdeal London mit Brüssel erzielt. Willkommen in der Brexit-Realität.