"Ich habe ihn während eines Konzerts gesehen. Er spielte mit seiner Band in Sotogrande. Mein damaliger Freund arbeitete dort als Tontechniker. Danny gefiel mir, ich schrieb ihn über Facebook an und sah ihn bei weiteren Auftritten. Eigentlich wollte ich ihn nur kennenlernen, an eine Beziehung dachte ich nicht; aber so fing alles an."
Die 23-jährige Malene Pérez-Jiménez sitzt auf der Terrasse eines Szenelokals irgendwo im Campo de Gibraltar, dem dünn besiedelten spanischen Vorland zur britischen Kronkolonie. Mit einem Glas Tinto de Verano in der Hand – ein erfrischendes Sommergetränk, bei dem Rotwein mit Limonade vermischt wird – erzählt sie von den Anfängen ihrer Beziehung zu Danny Ghio. Seit einigen Monaten wohnt die schlanke Spanierin mit dem großen, langhaarigen 28-Jährigen aus Gibraltar in einer gemeinsamen Mietwohnung. Ganz alltäglich sind ihre Sorgen aber doch nicht:
"Durch den Kursverfall zahlen wir jetzt 100 Pfund mehr Miete als früher. Das macht mir schon Sorgen, dass unser Einkommen jetzt so sehr an Wert verliert. Mal sehen, wie das weitergeht. Genau darum haben wir in Gibraltar ja zu 96 Prozent gegen den Brexit und für den Verbleib in der EU gestimmt."
Spanien könnte die Grenzkontrollen weiter verschärfen
Aber der Brexit, von dem Danny spricht, kündigt unruhige Zeiten an. Denn beide leben in Spanien, arbeiten aber in Gibraltar – Malene in einem Telefonladen, Danny als Informatiker in einem IT-Betrieb. Seit das britische Pfund nach dem Brexit-Referendum an Wert verliert, haben sie auch weniger Euro in der Tasche. Und die beiden befürchten noch Schlimmeres. Denn bei einem Ausscheiden des Vereinigten Königreichs und Gibraltars aus der Europäischen Union könnte Spanien die jetzt schon lästigen Grenzkontrollen weiter verschärfen:
Malene: "In der letzten Zeit hatten wir Glück, weil wir nicht zur Betriebsverkehrszeit fuhren. Ich stand aber auch schon eine Stunde lang in der Schlange."
Danny: "Als wir uns kennenlernten, fuhr ich regelmäßig nach Spanien und wartete manchmal eineinhalb Stunden, bis ich über die Grenze kam. Vor fünf Jahren war es aber noch schlimmer. Da saß man manchmal fünf, sechs Stunden lang im Auto. Die Warteschlange war so lang, dass sie den Felsen komplett umrundete."
Die 12.000 Pendler sind die Leidtragenden
So ist es bei Streitereien zwischen London und Madrid immer: Spanien kontrolliert an der Grenze intensiver – vorgeblich, um den Tabakschmuggel zu unterbinden – und die Leidtragenden sind die 12.000 Pendler, die in Spanien leben und in Gibraltar arbeiten. Das sind zum größten Teil Spanier wie Malene, aber eben auch Gibraltareños, denen es auf dem Felsen zu eng geworden ist und die auf die andere Seite gezogen sind.
Danny bestellt sich eine Pizza, die Sonne versinkt hinter den Bäumen auf dem weiten flachen Land des spanischen Campo de Gibraltar:
"Wenn Du den ganzen Tag in Gibraltar bist ... ich meine, das ist meine Heimat, ich bin dort groß geworden, mir gefällt es. Aber wenn Du mal aus der Wohnung raus willst, setzt Du Dich ins Auto, fährst zehn Minuten und hast den Felsen umrundet. Das war’s. Und wenn Du nach Spanien willst, stehst Du an der Grenze eine Stunde in der Schlange.
Seit wir hier auf der spanischen Seite leben, fällt mir das erst so richtig auf. Es ist Samstag, wir überlegen uns, nach Estepona an den Strand zu fahren und es ist überhaupt kein Problem. Das ist schon bequemer."
Gibraltar ist der größte Arbeitgeber der Region
Mit der Zugehörigkeit Großbritanniens und damit Gibraltars zur Europäischen Union haben sich die Verhältnisse für die Menschen halbwegs normalisiert. Es gibt viele gemischte Paare aus Spaniern und Gibraltareños, von denen viele sowieso längst in Spanien leben. Die Stadt ist der größte Arbeitgeber der gesamten Region. Hier am südlichsten Zipfel der iberischen Halbinsel haben sich beide Seiten mit dem Status quo ganz gut eingerichtet. Von der spanischen Fahne auf dem Felsen wollen auch die meisten Spanier nichts wissen:
Malene: "Auf keinen Fall, da soll mal schön der Union Jack bleiben. Wenn das spanisch wird, verliere ich meinen Job."
"Seit 50 Jahren lebe ich in Großbritannien, ich liebe Großbritannien." Ein Spanier am Nebentisch schaltet sich ein:
"Ich bin in La Linea geboren. Das Dorf an der Grenze zu Gibraltar ist meine Mutter, Großbritannien meine Frau, die Mutter meiner Kinder. Seit 50 Jahren bin ich längst kein Einwanderer mehr. Dieser Margallo sollte weniger über Gibraltar reden und dankbarer sein. In Großbritannien leben so viele Spanier. Das ist das beste Land der Welt. Meine vier Söhne sind dort geboren, einer lebt hier in Andalusien, ein anderer in Gibraltar und zwei weitere in England."
Spanien will die verlorene Souveränität über Gibraltar zurückgewinnen
Der spanische Rentner, der in Großbritannien lebt und in Spanien Urlaub macht, spricht von Spaniens Außenminister José Manuel García-Margallo, der im Brexit eine Chance für Spanien sieht und die 1713 im Friedensvertrag von Utrecht verlorene Souveränität über Gibraltar zurückgewinnen will.
Der Vertrag von Utrecht beendete den Spanischen Erbfolgekrieg – und sprach Gibraltar den Briten zu. Jetzt will Außenminister Margallo diesen Stachel aus dem spanischen Nationalbewusstsein endlich herausziehen:
"Nach unserer Ansicht gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder die Leute in Gibraltar sind Briten, dann sind sie außerhalb der Europäischen Union, oder sie haben die britische und die spanische Staatsbürgerschaft, dann könnten sie Teil der Europäischen Union bleiben. Wir wollen die Menschen in Gibraltar davon überzeugen, dass sie sich schnell entscheiden sollen, um Investitionsentscheidungen nicht weiter zu verzögern wie es bereits geschieht."
Der Utrechter Vertrag ist noch heute Grundlage von Gibraltars Status
Allerdings will der Minister die Gibraltareños auch nicht zu intensiv an dieser Entscheidung beteiligen:
"Wenn Großbritannien aus der EU austritt, tritt auch Gibraltar aus. Gibraltar wäre weiterhin ein nicht autonomes Gebiet, das es zu entkolonialisieren gilt. Die Verhandlungen dafür sind ausschließlich Angelegenheit des Vereinigten Königreichs und Spaniens. Gibraltar müsste dann wieder ins nationale Territorium Spaniens eingegliedert werden. Denn den UN-Resolutionen zufolge gilt für Gibraltar das Prinzip der Integrität des nationalen Territoriums, nicht das der Selbstbestimmung."
Also eine ganz andere Situation als die Schottlands, unterstreicht der spanische Minister. Sollte Schottland nach einem erneuten Unabhängigkeitsreferendum aus dem Vereinigten Königreich austreten, könne es seinen Beitritt zur Europäischen Union beantragen.
Sollte Gibraltar aber ebenfalls eine Loslösung von Großbritannien forcieren, dann hätte Spanien einen völkerrechtlichen Anspruch auf den Felsen. So steht es im Utrechter Vertrag, der auch für die Vereinten Nationen noch heute Grundlage des Status des Felsens ist. Margallo gibt sich versöhnlich:
"Ich denke, unser Lösungsvorschlag ist gut für das Vereinigte Königreich, für Spanien, für die Europäische Union – Gibraltar stört dann bei den Austrittsverhandlungen nicht mehr – und er ist gut für die Bevölkerung auf der einen und der anderen Seite des Grenzzauns."
Spanien fordert eine geteilte Souveränität über Gibraltar
"Das ist politische Erpressung. Eine geteilte Souveränität haben unsere Leute schon 2002 im Referendum zurückgewiesen", entgegnet darauf entrüstet Joseph García, Gibraltars Vize-Regierungschef:
"Wir haben hier eine europäische Debatte darüber, wie der Brexit gestaltet werden soll. Wir wollen Verhandlungen mit der EU darüber, wie wir drin bleiben können, keine Verhandlungen mit Spanien. Der spanische Außenminister ist in dieser Frage immer sehr aggressiv. Er hat ja schon vor dem Referendum gewarnt, Spanien könne die Grenze auch ganz schließen. Solche Drohungen passen nicht in eine moderne Gesellschaft. Er sagt, die geteilte Souveränität wäre der Preis, den wir zahlen müssten, wenn wir in der EU bleiben wollen. Diesen Preis sind wir aber nicht gewillt zu zahlen."
Zumal diese Co-Souveränität, also eine gemeinsame Verwaltung des Felsens durch Spanien und Großbritannien mit der spanischen Fahne neben dem Union Jack, für Margallo nicht für die Ewigkeit gedacht ist. Nach einem gewissen Zeitraum, so Margallo, würde Gibraltar dann vollständig zu Spanien gehören. Für die Regierung und die 30.000 Einwohner in Gibraltar ist das eine Horrorvorstellung. Aber eine echte Alternative hat auch Joseph García nicht:
"Als die Brexit-Befürworter das Referendum gewannen, hatte einfach niemand einen Plan. Der wird jetzt formuliert, und daran ist Gibraltar beteiligt. Wenn wir den haben, wissen wir, in welche Richtung das Vereinigte Königreich und auch Gibraltar gehen wollen. Uns ist klar, was uns wichtig ist. Freier Personenverkehr und Zugang zum gemeinsamen Markt. Das wird jetzt mit dem Vereinigten Königreich verhandelt und später mit der EU. Und dann müssen wir abwarten."
"Der freie Personenverkehr ist unser größtes Problem"
"Business as usual", erst mal so weitermachen wie bislang; diese Losung hört man derzeit oft in Gibraltar. Die Finanzdienstleistungen Gibraltars, der Versicherungsmarkt und auch das Online-Glücksspiel machten sowieso schon jetzt den meisten Umsatz direkt mit dem Vereinigten Königreich und mit Staaten außerhalb der EU, sagt der stellvertretende Regierungschef.
Doch ob Gibraltar ohne Weiteres auf die Europäische Union verzichten kann? Überzeugter klingt da schon der Appell an die spanische Regierung: Auch Spanien müsse ein Interesse daran haben, dass Gibraltar nicht aus der Union ausscheide:
"Unser größtes Problem ist der freie Personenverkehr. Wir haben rund 24.000 Arbeitsplätze. 12.000 Beschäftigte pendeln jeden Tag zwischen Gibraltar und Spanien. Die meisten davon sind EU-Bürger und Spanier. Und umgekehrt ist auch Spanien von uns abhängig. Wir tragen zum Bruttoinlandsprodukt in Andalusien 25 Prozent bei. Wir sind der zweitgrößte Arbeitgeber in Andalusien. Wenn Spanien den kleinen Grenzverkehr behindert, behindern sie ihre eigenen Landsleute und die wirtschaftliche Entwicklung der ganzen Region."
Gibraltar versucht, in der EU zu bleiben
Einen Weg finden, in der Union zu bleiben, auch wenn Großbritannien ausscheidet. Das scheint die Strategie Gibraltars zu sein. Und auch die Schottlands und Nordirlands. Joseph García erwähnt das so genannte "umgekehrte Grönland-Modell". Die Grönländer votierten 1982 für den Austritt aus der EU, Dänemark blieb hingegen drin. Es sei also möglich, dass ein Territorium desselben Staates Mitglied der Union sei, ein weiteres Gebiet hingegen nicht, sagt García:
"Die Politiker haben uns in die Irre geführt, wir haben uns geirrt. Wir sollten ein Teil Europas sein. Ich bin stolz darauf, Europäer zu sein! Ich darf aber kein Europäer sein. Das ist schon verrückt. Das ist ein großer Fehler."
Der Passant auf der langen Main-Street in Gibraltar schüttelt mit dem Kopf und geht schnell weiter. Eine Fußgängerzone wie in jeder beliebigen Kleinstadt in England. Touristen fotografieren die roten Telefonzellen und die Bobbys. Vor einem Friseursalon sitzen zwei Angestellte und warten auf Kundschaft:
"So ein Mist ist das. Ich bin Spanier. Der Kursverfall des Pfunds macht es mir sehr schwer. Ich tausche das Geld schon gar nicht mehr gegen Euro ein. Stattdessen kaufe ich hier in Gibraltar ein. So machen das viele. Früher war das umgekehrt, die Leute haben in Spanien eingekauft und die Sachen nach Gibraltar gebracht."
"Wir sind Briten. So steht es in meinem Pass: British Citizen. Aber ich bin aus Gibraltar. Ich mache mir Sorgen um meine kleine Tochter. Bislang waren die Kindergärten, Schulen und Hochschulen alle umsonst hier. Ob sich das jetzt vielleicht ändert? Aber was sollen wir machen, die Briten auf der Insel sind eben mehr als wir."
Spanien könnte den freien Personenverkehr so gut wie verhindern
Die Tochter rennt auf die Mutter zu, die plötzlich aus ihrem Spanisch mit andalusischem Akzent ins Englische wechselt. Dieser Sprachmix ist typisch für die Menschen in Gibraltar. Wie so viele junge Gibraltareños hat auch Brian Reyes in Großbritannien studiert und einige Jahre auch dort gearbeitet, bevor er zurück in seine Heimat kam. Heute ist er Chefredakteur des Gibraltar-Chronicle:
"Mein Nachname ist Spanisch. Ein Teil meiner Familie stammt aus Spanien, ein anderer aus Portugal. In Gibraltar leben Menschen mit Wurzeln in Spanien, Portugal, Malta, Italien, Großbritannien. Aber vor allem eint uns hier das Gefühl einer eigenen Identität und das Bewusstsein, dass wir die rechtmäßigen Besitzer dieses Ortes sind."
Der Chronicle ist die älteste Tageszeitung Gibraltars. Die Zeitung erscheint seit 1821. Die Redaktionsräume befinden sich in den Kasematten der alten Festung, die nutzlos geworden waren. Wenn die Gibraltareños das spanische Angebot der Co-Souveränität ablehnen, würde Spanien den Felsen sicher nicht wieder beschießen. Aber es würde wohl feindselig reagieren, befürchtet der Journalist:
"Ich glaube nicht, dass sie die Grenze schließen werden. Aber sie könnten Maßnahmen ergreifen, die den freien Personenverkehr so gut wie verhindern. Das hatten wir ja zuletzt 2013 während dieses Fischereistreits. Da verstärkte Spanien die Personenkontrollen und wir hatten Wartezeiten von bis zu sieben Stunden.
Gibraltar wird die Souveränität mit Spanien nicht akzeptieren
Großbritannien protestierte bei der EU, die darauf eine Kontrollkommission an die Grenze schickte. Das Ergebnis war: Spanien darf Kontrollen durchführen, aber sie müssen proportional sein. Außerhalb der Europäischen Union werden wir diese Unterstützung Brüssels nicht mehr haben. Darum ist die große Frage: Was wird mit der Grenze passieren?"
Eines gilt als sicher: Die Zeichen stehen auf Konfrontation. Die von Spanien vorgeschlagene Souveränität mit Spanien werden die Gibraltareños nicht akzeptieren. Und Spaniens Konservative haben schon 2011 nach ihrem damaligen Wahlsieg begonnen, viele der bis dahin aufgebauten Brücken zu Gibraltar abzureißen. Ein gemeinsames Dialogforum aus Spanien, Großbritannien und den Behörden Gibraltars haben sie aufgelöst. Das Forum sollte den Grundstein für eine gemeinsame Zukunft legen, erklärt Journalist Reyes:
"Wir haben in dieser Zeit viele Schritte nach vorne gemacht. Wir hatten vereinbart, den Flughafen gemeinsam zu nutzen. Aber als die Regierung Rajoy an die Macht kam, hat sie die Bauarbeiten für den spanischen Teil des Fluggasterminals abgebrochen. Warum nicht gemeinsam um Investoren kämpfen?
"Wir sind dazu verdammt, uns zu verstehen. Wir sind Nachbarn."
Die Spanier haben etwas, was wir hier nicht haben, sie haben Platz, Bauland, qualifizierte und unqualifizierte Beschäftigte. Und wir haben Dinge, die sie nicht haben: unternehmerisches Know-how. Warum sollen wir nicht zusammen arbeiten? Aber alles reduziert sich immer auf die Probleme der Souveränität, die Politik aus Madrid. So bleiben Chancen ungenutzt."
Aus dem Hafen des spanischen Grenzorts La Linea läuft unterdessen der 48-jährige Fischer Esteban mit seinem kleinen Boot Virgen del Carmen aus. Er steuert direkt auf den Felsen von Gibraltar zu, stets in etwa 1.500 Metern Entfernung zur Küste. Spanische und britische Patrouillenboote kommen sich immer wieder ins Gehege, angeblich, weil die Behörden von Gibraltar spanische Fischer behindern.
Gibraltar beansprucht eine Dreimeilenzone des Gewässers, Spanien erkennt dies nicht an. Der Fischer will keinen Grenzkonflikt heraufbeschwören, kurz vor den Bojen, die eine Sperrzone markieren, dreht er bei:
"Hier in diesem Bereich lassen sie uns in Ruhe. Auf der Westseite behindern sie uns hingegen, dort ist der Zugang zum Hafen. Da würden wir stören. Wir haben keine schwerwiegenden Konflikte. Manchmal kommt deren Küstenwache, manchmal nicht."
Fest hält Esteban das Ruder in der Hand - und winkt ab:
"Ja, das gab es, aber die Konflikte sind nie schwerwiegend. Wenn es irgendwelchen Ärger gibt, regeln wir das normalerweise unter uns. Aber wenn sich Madrid und London einmischen, dann gibt es ein echtes Problem. Darum versuchen wir, alles zwischen uns und der Regierung von Gibraltar zu lösen. Das funktioniert fast immer. Wir sind dazu verdammt, uns zu verstehen. Wir sind Nachbarn. Auch wenn das da ein anderes Land ist."