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Nach dem britischen Referendum
Das Warten auf den richtigen Brexit

Vor knapp zwei Monaten stimmten die Briten für den Austritt aus der Europäischen Union. Noch immer herrscht Ungewissheit darüber, wann die Verhandlungen über den EU-Austritt genau starten sollen. Womöglich dauert es mit dem Brexit also länger als geplant.

Von Annette Riedel |
    Vor der halbverglasten Frontfassade wehen drei Flaggen mit den europäischen Sternen.
    Brüssel macht Sommerpause, es gibt nicht viel zu bereden. (dpa / Daniel Kalker)
    Brüssel macht Sommerpause. Es gibt nicht viel zu bereden. Die täglichen Presse-Briefings am Mittag über Aktivitäten und Stellungnahmen der EU-Kommission sind rekordverdächtig kurz.
    Was das Thema Austrittsverhandlungen mit Großbritannien angeht, so heißt es seit dem britischen Referendum am 23. Juni unisono von EU-Ratspräsident Tusk, in den Hauptstädten und vonseiten der EU-Kommission: Es gibt nichts zu verhandeln mit den Briten, bevor diese nicht, unter Inanspruchnahme von Artikel 50 des Lissabon-EU-Vertrags, offiziell ihren Austrittswunsch anmelden. So hört man es bei jeder Nachfrage, und so sagte es kurz nach dem Referendum Kommissionspräsident Juncker.
    EU-Ratspräsident Tusk hat einen erfahrenen Diplomaten an seiner Seite
    "Es kann nicht sein, dass man jetzt klammheimlich versucht in abgedunkelten Räumen so informelle Geheimverhandlungen zu beginnen. Das wird nicht passieren. Ich habe einen 'Mufti-Befehl' an alle Kommissare und an alle Generaldirektoren ausgesandt, dass keine geheimen Verhandlungen stattfinden."
    Was nicht heißt, dass es nicht – Sommerpause hin oder her – seit jenem 23. Juni Gespräche der Regierenden der übrigen 27 EU-Länder in allen möglichen Formaten und Konstellationen gibt und weiter geben wird. Dabei geht es zum einen um die Frage, wie man sich bei den anstehenden Verhandlungen mit London über Austritt und künftige Beziehungen positioniert. Aber es geht auch um das "Quo vadis", die Konsequenzen für die EU aus dem Austritts-Votum der Briten.
    Der umfassende "Reflexions-Prozess", von dem EU-Ratspräsident Tusk gesprochen hat, läuft. Er selbst ist mittendrin. Und er hat einen erfahrenen Diplomaten für die Brexit-Verhandlungen an seine Seite berufen: den belgischen Diplomaten Didier Seeuws.
    Didier Seeuws war Leiter des Mitarbeiterstabs von Tusks Vorgänger im Amt des Ratspräsidenten, Herman Van Rompuy. Seeuws wird auf der Seite des Rats alles koordinieren, was es an Verhandlungen rund um den Brexit und die Neu-Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU geben wird. Wenn – und eben erst dann – wenn London an einem offenbar noch nicht sehr nahen Tage X Artikel 50 aktiviert hat. Bis dahin gilt, was Seeuws Chef Tusk wiederholt betont hat:
    "Bis das Vereinigte Königreich formal die EU verlässt, gilt weiter EU-Recht für Großbritannien und innerhalb Großbritanniens. Mit sämtlichen Rechten und Pflichten."
    Gut möglich, dass es noch ein Jahr dauert, bis verhandelt wird
    Das heißt, dass sich konkret erst einmal nichts ändert. Absolut gar nichts. Mit Ausnahme der Tatsache, dass der neue britische EU-Kommissar Julian King, den London nach dem Rückzug von Finanzmarkt-Kommissar Jonathan Hill nach Brüssel schicken wird, eine andere Zuständigkeit bekommt als sein Vorgänger: Er wird sich des Themas "Sicherheitsunion" annehmen. Und Großbritannien wird nicht die halbjährige EU-Präsidentschaft im kommenden Sommer übernehmen, was turnusgemäß der Fall gewesen wäre.
    Die EU-Kommission hat ihrerseits einen "alten Bekannten" berufen, der ihr "Brexit-Beauftragter" sein wird. Michel Barnier, ehemaliger französischer EU-Kommissar. Er wird den Briten nichts schenken, was die künftigen Beziehungen zur EU angeht, wie er im französischen Fernsehen schon mal angekündigt hat.
    "Was auf keinen Fall akzeptabel wäre, ist, dass sich die Briten die Bedingungen für den ihnen so wichtigen Zugang zum EU-Binnenmarkt selbst auszusuchen können. Es wird keinen Binnenmarkt à la carte geben."
    Michel Barnier übernimmt seine Aufgaben am 1. Oktober. Gut möglich, dass er dann noch Monate, vielleicht noch mehr als ein Jahr wird warten müssen, bis konkret überhaupt etwas zu verhandeln ist. Es gibt augenblicklich keine Signale, dass London Artikel 50 schnell aktivieren wird. Und ob Barnier dann für die EU-Kommission bei den Verhandlungen viel zu sagen haben wird, ist noch nicht ausgemacht. Die EU-Staats- und Regierungschefs wollen die Angelegenheit keinesfalls aus der Hand geben, behalten sich vor, so Bundeskanzlerin Merkel, die Leitlinien dafür vorzugeben.
    "Weil die Kommission alle Beitrittsgespräche führt, hat sie das gesamte technische Wissen, und trotzdem ist es nicht umsonst, dass der Europäische Rat die Leitlinien beschließt."
    Nach denen dann die komplizierte Scheidung verhandelt werden kann. Dem Ergebnis muss am Ende das EU-Parlament zustimmen.