Als Reaktion auf den Putschversuch sei die Gesellschaft in der Türkei seit mehreren Jahren erstmals vereint gewesen, sagte Yeneroğlu, der dem Menschenrechtsausschuss des türkischen Parlaments vorsitzt. Millionen von Menschen seien auf die Straße gegangen und hätten sich gegen den Putsch gewendet. Die staatlichen Gegenmaßnahmen hätten viele Menschen vehement gefordert.
Seit dem gescheiterten Militärputsch hat die türkische Regierung mehr als 60.000 Soldaten, Polizisten, Richter, Staatsanwälte und Lehrer festgenommen oder suspendiert, die Anhänger des Predigers und Erdogan-Widersachers Fetullah Gülens sein sollen. Zum Ausreiseverbot für verbeamtete Akademiker sagte Yeneroğlu, die Türkei müsse sicherstellen, dass keine weiteren Gülen-Anhänger das Land verließen, die an dem Putsch beteiligt waren, und sich damit der Strafverfolgung entzögen.
Das Interview in voller Länge:
Ann-Kathrin Büüsker: Die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung sagt, dass es in der Türkei gerade nicht nach rechtsstaatlichen Maßstäben zugeht, darüber möchte ich nun sprechen mit Mustafa Yeneroğlu, Mitglied der AKP und Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses im türkischen Parlament. Guten Morgen, Herr Yeneroğlu!
Mustafa Yeneroğlu: Hallo, guten Morgen!
Büüsker: Herr Yeneroğlu. was erwidern Sie Frau Kofler, wie steht es in der Türkei um die Rechtsstaatlichkeit?
Yeneroğlu: Die Türkei hat in den letzten Jahren trotz seiner Situation in einer sehr, sehr schwierigen geografischen Lage, trotz zerfallener Staaten in der Umgebung über drei Millionen Menschen aufgenommen und sie nach wie vor ohne die Unterstützung aus Europa versorgt. Jetzt haben wir seit zwei Jahren eine gewisse Unterstützung aus Europa, und dass aus dem Zusammenhang eben solche Absolutierungen wie, es gebe in der Türkei keine Rechtsstaatlichkeit und ähnliche Kritik erfolgt, entspricht nicht den Tatsachen in der Türkei. Das weiß auch, glaube ich, die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung. Aber es ist leider inzwischen so, dass solche Äußerungen gehäuft fallen und man sich da nicht ernsthaft darüber Gedanken macht, ob diese noch sachlich und rational die Situation in der Türkei richtig darstellen.
"Die Türkei befand sich insgesamt in einer Notsituation"
Büüsker: Aber Herr Yeneroğlu, die Pressefreiheit in der Türkei ist eingeschränkt, die Regierung nimmt Einfluss auf die Judikative, indem sie Richter entlässt, zahlreiche Akademiker dürfen das Land nicht mehr verlassen, es herrscht de facto ein Ausreiseverbot – ist das rechtsstaatlich?
Yeneroğlu: Stellen Sie sich mal vor, dass der Deutsche Bundestag von Soldaten aus der Bundeswehr beschossen werden würde, bombardiert werden würde, wenn eben Menschen auf offener Straße von Kampfhubschraubern erschossen werden würden, Panzer auf der Straße Menschen überrollen würden. Die Türkei befindet sich insgesamt beziehungsweise befand sich insgesamt in einer Notsituation, und dass aus der Situation zur Existenzsicherung des Rechtsstaates, der Rechtsstaat natürlich mit allen seinen Möglichkeiten zurückschlägt und die Putschisten sowie ihre Helfer und Helfershelfer aus dem Amt jagt, ist wohl selbstverständlich. Ich glaube, jeder andere Staat in Europa würde mindestens genauso handeln und würde erst mal auch in Umkehrung des Ausnahme-Regel-Verhältnisses Menschen, von denen man ausgeht beziehungsweise die beschuldigt werden, den Putsch mit unterstützt zu haben, erst mal vom Dienst suspendieren und dann ernsthaft prüfen, ob diese Maßnahmen nach wie vor verhältnismäßig sind. Das wird in der Türkei geschehen, die Verhältnismäßigkeit wird geprüft. Und wie in den letzten Tagen wird es auch dann dazu führen, dass manche zurück zu ihrem Amt beordert werden und andere eben komplett entlassen werden müssen.
Büüsker: Aber Herr Yeneroğlu, mir erschließt sich immer noch nicht, Stichwort Ausreiseverbot für Akademiker, warum braucht es das?
Yeneroğlu: Das stimmt so in der Form nicht, es gibt kein umfassendes Ausreiseverbot für Akademiker.
Büüsker: Sondern?
Yeneroğlu: Grundsätzlich sind Akademiker, die zugleich Beamte sind, vom Ausreiseverbot insoweit betroffen, dass die Türkei sichern muss, dass keine weiteren Unterstützer des Gülen-Netzwerkes, die eben an diesem Putsch beteiligt gewesen sind, ins Ausland ausreisen und damit sich der Strafverfolgung entziehen können. Und das ist dann auch insoweit legitim, soweit bald auch dieses Ausreiseverbot auch sicherlich wieder beendet werden wird.
Büüsker: Aber das heißt, Sie brauchen nur sagen, jemand ist Anhänger der Gülen-Bewegung, und dann können Sie ihm alle Rechte wegnehmen?
Yeneroğlu: Nein, natürlich nicht, es muss sich schon um Führungskader der Gülen-Bewegung handeln, und dann wird das zutreffen. Ich meine, man muss das doch eben vor der Situation, in der die Türkei sich befindet, auch erörtern. Der Staat kann nur eben in einer Normalität Freiheit sichern, ansonsten kann der Rechtsstaat nicht seine Funktionen ausüben. Und wenn der Staat in dieser Form massiv angegriffen wird und seine Institution in der Form beschädigt wird, dann muss man eben Vorsorge treffen, damit die Menschenrechte, damit die Bürgerrechte im Land gewahrt werden können.
"Die Gesellschaft ist zum ersten Mal in dieser Form vereint gewesen"
Büüsker: Herr Yeneroğlu, Sie sagen, die Türkei braucht Normalität. Jetzt sind mehr als 10.000 Menschen in Haft, weitere Zehntausende sind entlassen oder suspendiert, wie kann das zu Normalität beitragen, spaltet das nicht eher die Gesellschaft?
Yeneroğlu: Die Gesellschaft wird es nicht spalten, im Gegenteil. Wir haben gegenwärtig in der Türkei eine Situation, wo die Türkei beziehungsweise die Gesellschaft in der Türkei wahrscheinlich seit mehreren Jahren zum ersten Mal in dieser Form vereint gewesen ist. Sämtliche Oppositionsparteien unterstützen die Linien der Regierung, und sämtliche Millionen von Menschen sind auf den Straßen und haben sich gegen den Militärputsch gewendet, und im Moment ist es so, dass viele Menschen diese Maßnahmen nicht nur nicht tragen, sondern sie auch vehement fordern.
Büüsker: Und trotzdem gibt es auch viele, die das kritisieren. Wie sichern Sie denn unter diesen Voraussetzungen, die derzeit im Land herrschen, den Schutz von Minderheiten?
Yeneroğlu: Es ist doch gut so, dass eben Menschen auch da sind, die kritisieren. Zum einen wird behauptet, dass in der Türkei die Opposition unmöglich gemacht wird, zum anderen heißt es eben, es gebe die Kritik. Natürlich gibt es die Kritiker, natürlich gibt es noch in der Türkei eine starke Opposition, und es ist auch gut so. Für eine freiheitliche Demokratie gehört Kritik dazu, gehört die offene Meinungsäußerung dazu, und das wird dann auch geäußert, und entsprechend gibt es auch sicherlich Maßnahmen, die kritikwürdig sind, die dann eben von der Regierung zurückgenommen beziehungsweise berichtigt werden müssen.
Büüsker: Amnesty International sagt an diesem Morgen, dass der Verbleib vieler Putschisten im Moment überhaupt nicht klar ist. Wie können Sie sicherstellen, dass alle Gefangenen – wir reden hier über mehr als 10.000 Menschen – tatsächlich angemessen behandelt werden?
Yeneroğlu: Zum einen, von diesen 10.000 Menschen sind wahrscheinlich über 80 Prozent Soldaten, die direkt auf Grundlage eines dringenden Tatverdachts meistens auf frischer Tat ertappt wurden und insoweit festgenommen gewesen sind. Amnesty International und viele andere Organisationen, denen ist es offensichtlich egal, dass in der Putschnacht eben Hunderte von Menschen gestorben sind, mehrere Tausend verletzt wurden und der Staat quasi in einer Notsituation sich befand und deswegen auch in aller Deutlichkeit, in aller Härte umfassend zurückschlagen musste …
"Viele Inhaftierte sind auch wieder freigelassen worden"
Büüsker: Herr Yeneroğlu, ich glaube, niemand wird infrage stellen, dass diese Menschen ein Verbrechen begangen haben, indem sie geputscht haben, aber die Frage war ja, wie stellen Sie sicher, dass diese Menschen angemessen behandelt werden?
Yeneroğlu: Insoweit, dass in der Türkei nach wie vor Rechtsstaatlichkeit gilt. Sie können sich gegen diese Maßnahmen wehren vor Gericht, und in letzter Zeit sind auch viele Inhaftierte wieder freigelassen worden, weil die Gerichte die Vorwürfe für nicht stichhaltig empfunden haben und deswegen die Menschen wieder auf freiem Fuß sind. Bei anderen ist das bestätigt worden, und das ist nach wie vor so wie in jedem anderen europäischen Land auch.
Büüsker: Nun wird aber der türkische Wirtschaftsminister mit den Worten zitiert: Sie werden sterben wie Kanalratten. Damit meint er die festgenommenen Soldaten. Machen Sie sich als Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses da nicht Sorgen?
Yeneroğlu: Ich kenne diese Äußerung nicht, kann das auch nicht bestätigen. Es wäre ein Skandal, wenn eine solche Äußerung zusammenhanglos gefallen wäre, und ich kann mir das irgendwie nicht vorstellen.
Büüsker: Sagt Mustafa Yeneroğlu, Abgeordneter der AKP und Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses im türkischen Parlament. Herr Yeneroğlu, vielen Dank für das Gespräch heute Morgen hier im Deutschlandfunk!
Yeneroğlu: Danke, tschüss, schönen Tag noch!
Büüsker: Ihnen auch, danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.