Der ARD-Korrespondent Reinhard Baumgarten verwies im DLF auf den geltenden Ausnahmezustand. Journalisten, die jahrelang kritisch über die Gülen-Bewegung berichtet hätten, bekämen seit dem Putschversuch vermehrt Druck von Regierungsseite. Vieles in der Berichterstattung werde über die Sachinformationen hinaus gedeutet – und das unter Umständen eben auch zu Ungunsten der Reporter. Das betreffe türkische Journalisten genauso wie ausländische Medienvertreter.
Nach Baumgartens Worten ist es derzeit zum Beispiel nicht ratsam, über die Korruptionsfälle aus dem Winter 2013 und die Querverbindungen zwischen AKP und Gülen-Bewegung zu berichten - auch wenn sich ein genauerer Blick lohnen würde. Das Gleiche gelte für die Kurdenpolitik der türkischen Regierung.
Das Interview in voller Länge:
Müller: Pressefreiheit in der Türkei, das ist unser nächstes Thema. Die Beschlagnahme eines Interviewbandes der Deutschen Welle – mit einem türkischen Minister. Hinterher wurde es einkassiert. Die deutsche Welle protestiert, will die Herausgabe der Aufnahme, unterstützt inzwischen von der Bundesregierung. Wir haben darüber auch hier im Deutschlandfunk ausführlich berichtet. Die Türkei, das ist nichts Neues, Repressionen gegen Journalisten, Repressionen gegen kritische Medien. Unser Korrespondent Reinhard Baumgarten ist seit vielen Jahren als Korrespondent in der Türkei tätig, wir erreichen ihn an diesem Morgen in Istanbul. Guten Morgen!
Baumgarten: Hallo, Guten Morgen.
"Als Journalist ein kleines bisschen vorsichtiger sein"
Müller: Herr Baumgarten, können wir beide frei reden?
Baumgarten: Wenn Sie mir keine inkriminierenden Fragen stellen und ich nicht übertreiben muss, ich nicht lügen muss und ich den Mund nicht zu weit aufreiße, ja. Ich sage das deswegen so vorsichtig: Wir haben ja Ausnahmezustand. Und vieles, was wir sagen, wird natürlich wahrgenommen, das ist ja auch richtig so, wir machen das ja auch öffentlich. Es kann aber auch gedeutet werden und das ist in Situationen, wie denen, in denen wir uns gerade befinden, in der Türkei, durchaus nicht immer einfach.
Es gibt Leute, die treten für einen Friedensprozess ein und werden dann als Journalisten aus ihren Uniämtern getrieben, beispielsweise. Es gibt Journalisten, die haben jahrelang versucht aufzudecken, was die Gülen-Bewegung alles macht, sie wurden deshalb verurteilt und kriegen jetzt von anderer Seite Druck, obwohl sie ja eigentlich immer schon gegen Gülen geschrieben haben. Also vieles ist einfach Interpretationssache, insofern muss man als Journalist in der Türkei, auch als ausländischer Journalist in der Türkei, im Moment einfach ein kleines bisschen vorsichtiger sein.
Müller: Ich möchte das noch einmal in die Praxis übertragen, ohne jetzt kokett zu sein, das heißt, unser Gespräch im Deutschlandfunk wird irgendwo in der Türkei jetzt auch gehört?
Baumgarten: Naja, ich meine, es gibt Apps, es gibt Internet-Livestreams, ich mache das ja auch, ich höre auch Deutschlandfunk, wenn ich Zeit habe und keine anderen Sender höre, das ist ja völlig normal und ist ja auch erwünscht. Es gibt sicherlich auch Leute in Deutschland, von türkischer Seite, die, sagen wir es mal so, der AKP sehr gewogen sind, die natürlich auch Deutschlandfunk hören. Nicht in der Absicht jetzt irgendwelche Fehler zu finden, sondern aus Interesse, aber es gibt auch Leute, die sagen – oh, das war aber jetzt ziemlich blöd und sich dann möglicherweise auch darüber aufregen und aufwerfen.
"Es gibt schon Leute, die sehr, sehr genau hinschauen"
Müller: Also, es war ja darauf bezogen, die Frage, ob es eben Beobachter, Hörer gibt, die systematisch eben genau auf diese vermeintlichen Fehler aus deren Sicht warten.
Baumgarten: Manchmal habe ich den Eindruck, Herr Müller, manchmal habe ich den Eindruck. Auch was Zuschriften angeht, weil ein Text bei Ihnen im Deutschlandfunk erscheint, von mir, oder auf tagesschau.de, dass es schon Leute gibt, die sehr, sehr genau hinschauen und bewusst auch darauf achten, ob in Anführungszeichen, die sogenannte "Lügenpresse" die Türkei madig macht.
Müller: Was sollte ich Sie, Herr Baumgarten, besser nicht fragen?
Baumgarten: Ja, ich glaube, es wäre jetzt im Moment nicht so günstig, über die Korruptionsfälle des Winters 2013 zu reden, die Querverbindungen, die es gegeben hat zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung. Da hat sich Herr Erdogan ja kürzlich öffentlich entschuldigt, hat gesagt 'Ich habe das auch zu spät erkannt.'.
Da könnte man natürlich schon auch noch ein bisschen genauer nachgucken, inwieweit die sich auch gegenseitig begünstigt oder geholfen haben. Oder inwieweit es tatsächlich auch nur eine gewisse, nennen wir es mal so, Betriebsblindheit gewesen ist, dass man bestimmte Vorgänge im Staate selber nicht erkannt hat. Um dann am 15. Juli – hoppla – überrascht zu werden.
"Die gesamte Kurdenproblematik ist ein heikles Thema"
Müller. Ein Beispiel. Kurdenpolitik? Auch eher gefährlich?
Baumgarten: Das ist im Moment sehr heikel. Gestern fand eine beeindruckende, bewegende Veranstaltung an der Kocaeli Universität statt. Da sind viele Leute rausgeschmissen worden, hochrangige Akademiker, weil sie eben diese Petition unterzeichnet haben, die ja über tausend Akademiker unterzeichnet haben, dass der türkische Staat sich doch bitte wieder um ein Friedensgespräch kümmern sollte. Die wurden rausgeschmissen. Gestern gab es also tränenreichen Abschied in der Kocaeli Universität, wir haben das auch aufgenommen. Wir haben auch das Schluchzen der Menschen, die betroffen sind.
Die gesamte Kurdenproblematik ist ein heikles Thema, denn es war ja Präsident Erdogan, der den Prozess sehr, sehr weit, weiter als jeder Präsident vor ihm, vorangetrieben hat und dann eben, aufgrund dieser Wahlschlappe im Juni 2015 den Kurs plötzlich wechselte. Das ist schon ein heikles Feld. Zumal wir jetzt auch die türkische Armee in Syrien haben und es dort mit den Kurden zu ernsthaften Konflikten kommt. Also es ist schon schwierig.
"Identitätsfindung über das, was trennt"
Müller: Unser letztes Gespräch zwischen uns beiden liegt ein paar Wochen zurück. Da ging es auch um Außenpolitik, Sicherheitspolitik, IS-Bekämpfung und so weiter. Da haben Sie in einem Nebensatz fallen lassen, naja, das erinnert mich so ein bisschen auch an die Situation im Iran, Teheran. Da sind Sie auch häufig hingereist, Sie sind ja auch für dieses Berichtsgebiet zuständig. Iranische Verhältnisse, rückt das alles ein bisschen näher für Sie? In der Praxis?
Baumgarten: Ich glaube, ich meinte damals den Kontext, dass es – im Iran nehme ich das sehr stark wahr – Staaten gibt, die sich in erster Linie über Feindseligkeiten und über Animositäten mehr oder weniger aufstellen und interpretieren. Und hier, vor allem nach dem Putsch, hat das auch sehr stark stattgefunden. Eine Interpretation und eine Identitätsfindung nicht über das Gemeinsame, jetzt mit Europa, sondern auch über das, was trennt, über die Wahrnehmung, über die Verletzung, die hier auch vorhanden ist.
Europa vernachlässigt die Türkei, kritisiert sie immer nur, kriegt nicht mir, wie stark wir betroffen sind. Und ich glaube, das habe ich gemeint, dass ich das hier feststelle, eine sehr starke Polarisierung der Gesellschaft eben hin, dass man mehr abgrenzt. Wir sind wir und die anderen sind anders und deswegen sind die falsch, liegen einfach daneben mit ihren Einschätzungen.
Müller: Danke nach Istanbul, Reinhard Baumgarten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.