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Nach dem Putschversuch in der Türkei
Debatte über Todesstrafe beunruhigt Europa

Nach dem gescheiterten Militärputsch und den darauffolgenden Festnahmen in der Türkei rufen zahlreiche EU-Politiker zur Mäßigung auf. Sorge bereitet auch die neue Diskussion über die Wiedereinführung der Todesstrafe. Nun wird der Status als EU-Beitrittskandidat infrage gestellt.

    Türkei-Flagge weht im Wind auf dem Taksim-Platz in Istanbul.
    Taksim-Platz in Istanbul am 17. Juli 2016 - zwei Tage nach dem gescheiterten Putschversuch. (dpa/picture alliance/Lehtikuva/Anni Reenpää)
    "Die EU-Türkei-Politik muss vollständig auf den Prüfstand," sagte CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer dem "Handelsblatt". CDU-Europaparlamentarier Elmar Brok mahnte: "Wenn Präsident Erdogan die Situation nutzt, um weitere Verfassungsrechte einzuschränken, dann werden die Beitrittsverhandlungen schwierig bis unmöglich". Gunther Krichbaum, Vorsitzender des Europa-Ausschusses im Bundestag, sagte: "Unrecht darf nicht mit Unrecht bekämpft werden". Eher gehe "ein Kamel durchs Nadelöhr", als dass ein undemokratischer Staat EU-Mitglied werde.
    Die SPD lehnt eine Beendigung der Verhandlungen ab: Der stellvertretende SPD-Fraktionschef Ralf Mützenich sagte dem "Kölner Stadt-Anzeiger", sie seien nach wie vor ein Instrument, um auf die Verhältnisse in der Türkei einzuwirken. Die EU hatte die Gespräche mit der Türkei im Juni ausgeweitet. Sie laufen seit Oktober 2005.
    Die türkische Regierung geht seit dem Putschversuch hart gegen mutmaßliche Putschisten in Militär und Justiz vor. Mehr als 2.700 Richter wurden abgesetzt. 6.000 Menschen wurden festgenommen. Bei dem gescheiterten Umsturz wurden nach Behördenangaben mehr als 294 Menschen getötet und mehr als 1.400 verletzt.
    WDR-Korrespondent Kai Küstner berichtete im DLF, der Putsch bringe die EU in eine verzwickte Lage. Insbesondere mit Blick auf den Flüchtlings-Deal könnte es im Oktober ungemütlich werden: Dann erwartet die Türkei die Abschaffung der Visums-Pflicht für Reisen in die EU. Die Europäische Union hat zur Bedingung gemacht, dass die Erdogan-Regierung dafür die Terror-Gesetzgebung ändert. Doch dass das passiere, sei nach dem vereitelten Putsch noch unwahrscheinlicher geworden.
    Ayrault: Kein Blankoscheck für Säuberungsaktionen
    Die Außenminister der EU-Staaten wollen heute bei ihrem Treffen in Brüssel darüber beraten, wie die Europäische Union auf die jüngsten Ereignisse in der Türkei reagieren kann. Der französische Außenminister Jean-Marc Ayrault warnte, der Umsturzversuch dürfe kein Blankoscheck für "Säuberungsaktionen" gegen Regierungsgegner werden. Auch der österreichische Außenminister Sebastian Kurz forderte, Erdogan Grenzen aufzuzeigen. "Klar ist für mich, dass der Putsch mit Todesopfern scharf zu verurteilen ist. Aber der Rechtsstaat ist zu wahren," sagte er. Die EU dürfe nicht akzeptieren, dass die türkische Regierung nach dem Putschversuch willkürlich politische Gegner verfolge. Die Wiedereinführung der Todesstrafe, die in der Türkei seit dem Putschversuch diskutiert wird, sei "abolut inakzeptabel", so Kurz in der österreichischen Zeitung "Kurier".
    Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier bezeichnete den Putschversuch als Weckruf für die türkische Demokratie. Er hoffe, dass die demokratische Einheit aller maßgeblichen zivilen und politischen Kräfte in der Türkei dazu beitragen könne, die tiefen Gräben in der Gesellschaft zu überwinden, erklärte Steinmeier über Twitter:
    Gleichzeitig verurteilte der Europarat die Debatte um die Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei. Kein Mitgliedsstaat dürfe die Todesstrafe anwenden, sagte Thorbjørn Jagland, Generalsekretär des Europarates, dem "Tagesspiegel". Das sei eine Verpflichtung unter dem Statut des Europarats. Die Türkei habe beide Protokolle ratifiziert, mit der die Todesstrafe unter allen Umständen abgelehnt werde. Präsident Erdogan hatte am Sonntagabend die Möglichkeit einer Wiedereinführung der Todesstrafe angedeutet. Die Regierung werde mit der Opposition darüber beraten und eine Entscheidung treffen, sagte er vor zahlreichen Anhängern in Istanbul, die laut die Todesstrafe forderten. In Demokratien würden Entscheidungen auf Grundlage dessen getroffen, "was das Volk sagt". Auch dr türkische Ministerpräsident Binali Yildirim stellte die Wiedereinführung in Aussicht: "Wir haben eure Botschaft erhalten," sagte er zu Demonstranten. Die Putschisten würden "in strengster Weise zur Rechenschaft gezogen."
    Regierung fordert zu Protesten auf
    Derweil gehen die Proteste gegen die Putschisten weiter. Zehntausende Menschen waren am Sonntag in türkischen Großstädten auf die Straßen gegangen und hatten die ganze Nacht hindurch demonstriert. Erdogan hatte wiederholt dazu aufgerufen, auf die Straße zu gehen. Er schrieb am Sonntagabend bei Twitter: "Aufhören gilt nicht, Weggehen gilt nicht. Wir lassen die Plätze nicht leer."
    Der türkische Verteidigungsminister Fikri Isik wiederholte in der Nacht auf Montag die Aufforderung: "Der Putsch wurde verhindert, doch wir können nicht sagen, dass die Gefahr vorbei ist", sagte Isik vor einer Menschenmenge, die sich vor Erdogans Wohnsitz im Istanbuler Stadtteil Üsküdar versammelt hatte. Er forderte die Menschen nach Angaben des Nachrichtensenders NTV auf, "jede Äußerung unseres Präsidenten aufmerksam zu verfolgen und solange draußen zu bleiben, bis er sagt: Es reicht, ihr könnt wieder nach Hause gehen."
    (cvo/fwa)