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Nach dem Referendum in der Türkei
"Es gibt viel Angst und Unsicherheit"

Tausende Professoren und Dozenten haben seit dem Putschversuch im Juli 2016 ihre Jobs verloren. Die Historikerin Nazan Maksudyan ist deshalb im November nach Deutschland gekommen. Das Ergebnis des Referendums könnte dazu führen, dass noch mehr Akademiker entlassen werden, sagte sie im DLF. Viele würden deshalb darüber nachdenken, ihr Leben anderswo weiterzuführen.

Nazan Maksudyan im Gespräch mit Manfred Götzke |
    Die Universität Istanbul ist mit ihrer 550 jährigen Geschichte die älteste und traditionsreichste Universität der Türkei.
    Viele Wissenschaftler in der Türkei haben nach dem Referendum Angst vor weiteren Repressionen. (dpa/picture alliance/ Jens Kalaene)
    Manfred Götzke: Spätestens seit dem Putschversuch im Sommer muss man schon Mut mitbringen – um in der Türkei unabhängig, kritisch, gar regierungskritisch zu forschen und zu lehren. Tausende Professoren und Dozenten haben seit Juli ihre Jobs verloren, ganze Hochschulen wurden dicht gemacht – mit dem Vorwurf: Terrorunterstützung.
    Nazan Maksudyan ist aus genau diesen Gründen im November nach Deutschland gekommen – die Historikerin arbeitet jetzt am Leibniz-Zentrum Moderner Orient in Berlin. Sie hat wie viele ihrer Forscherkollegen hier wie drüben gegen die Verfassungsreform gestimmt. Und ich hab sie vor der Sendung gefragt – was Erdogans knapper Sieg für sie bedeutet.
    Nazan Maksudyan: Die "Ja"-Kampagne wurde von der Regierung stark forciert. Und trotzdem lagen diejenigen, die für "Ja" gestimmt haben, nur bei 51 Prozent. Es ist daher auch wichtig zu fragen, wie überhaupt Menschen so mutig sein konnten, mit "Nein" zu stimmen. Dafür kann man auch Stolz empfinden. Und der Widerstand gegen und die Unterstützung für diese manipulierte Wahl geht in der Türkei noch weiter. Wir sollten unterstreichen, dass das Wahlergebnis nicht rechtmäßig ist. Und vielleicht bleibt es auch nicht das End-Ergebnis dieser Abstimmung.
    "Das hoffnungsvolle Szenario wäre, dass das noch korrigiert werden kann"
    Götzke: Nach dem versuchten Putschversucht im letzten Jahr haben 7.000 Wissenschaftler ihre Jobs verloren. 15 Hochschulen wurden dichtgemacht. Kann es jetzt, nach dem Referendum, überhaupt noch schlimmer kommen?
    Maksudyan: Ich denke, es gibt auch Anlass zur Hoffnung, denn die Menschen sehen das Referendum und das Ergebnis nicht als rechtmäßig an. Das hoffnungsvolle Szenario wäre, dass das noch korrigiert werden kann. Das schlimmste Szenario wäre, dass die Regierung noch autoritärer wird und andere Stimmen unterdrückt. Ich hoffe aber, dass die Menschen Widerstand gegen diese Abstimmung und das Ergebnis leisten werden, das nicht rechtmäßig ist.
    Götzke: Sie haben mir im Vorgespräch gesagt, im schlimmsten Fall könnte die Regierung weitere Hochschulen attackieren. Was meinen sie damit genau?
    Maksudyan: Gerüchten zufolge hat die Regierung auf das Referendum gewartet, um danach mehr Akademiker zu entlassen. Im März und im April gab es erst mal keine neuen Vorgaben, Menschen zu entlassen. Es könnte aber sein, das gegen Ende dieser Woche schlechte Nachrichten von der Regierung kommen, um weiter Kritikern die Stimme zu verbieten, die die Regierung kritisieren. Das können Universitäten sein, aber auch Ministerien, Schulen oder andere Stellen, wo es kritische Stimmen gibt. In diesem Sinne war es auch sehr mutig von allen, die bei dem Referendum mit "Nein" gestimmt haben.
    "Es gibt mehr Aktivismus"
    Götzke: Ist das Ergebnis des Referendums jetzt der finale Grund Ihrer Forscherkollegen in der Türkei, ihre Heimat jetzt zu verlassen?
    Maksudyan: Viele Menschen versuchen Wege zu finden, politisch Widerstand zu leisten. Es gibt mehr Aktivismus. Die Menschen gehen auf die Straße, um gehört zu werden. Andererseits gibt es aber auch viel Angst und Unsicherheit. Das ist das Problem für die meisten. Angst vor der Unsicherheit. Wir wissen nicht, wo es hingeht. Deswegen denken viele darüber nach, ihr Leben und ihre Arbeit anderswo weiterzuführen. Das wäre dann ein Brain Drain.
    Götzke: Eines Ihrer Forschungsthemen ist der Genozid an den Armeniern. Wäre es zurzeit überhaupt möglich, sich in der Türkei mit diesen Themen zu befassen?
    Maksudyan: Das Thema war in der Türkei immer ein Tabu. Es war noch nie einfach, darüber zu reden oder zu schreiben. Ich habe den Begriff "Genozid" trotzdem verwendet. Aber gerade nach dem Putschversuch wurde ich dazu aufgefordert, diesen Begriff in meinen Fachartikeln auszutauschen. Ich habe mich geweigert. Ich glaube also schon, dass es immer schwieriger wird, in der Türkei über diese Dinge zu diskutieren. Aber trotzdem gibt es auch immer noch wunderbare Fachzeitschriften, die gegen diese Zensur Widerstand leisten. Einerseits gibt es also mehr Druck und das Land wird autoritärer, andererseits gibt es aber auch mehr Widerstand und auch mehr Ventile, an denen man seine Kritik äußern kann. Es ist also eine sehr gespaltene Gesellschaft.
    "Es ist sogar verboten, die entlassenen Wissenschaftler wieder einzustellen"
    Götzke: Das heißt, Sie würden sagen, unabhängige, auch kritische Forschung ist zurzeit in der Türkei möglich?
    Maksudyan: Man kann forschen und Möglichkeiten finden, die Ergebnisse zu veröffentlichen, das schon. Aber seit letztem Sommer ist es für die Leute, die entlassen wurden, annähernd unmöglich, eine akademische Anstellung zu finden. Es ist den Hochschulen jetzt sogar verboten, die entlassenen Wissenschaftler wieder einzustellen.
    Götzke: Können Sie sich vorstellen, in nächster Zeit in die Türkei zurückzukehren?
    Maksudyan: In der nahen Zukunft nicht, nein. Wegen der Unsicherheit, wir wissen gar nicht, was als nächstes kommt, denn viele Institutionen wurden dicht gemacht. Hochschulen wurden geschlossen, öffentliche Schulen geschlossen. Orte um zu arbeiten, Orte, an die man seine Kinder schicken kann - gibt es eigentlich nicht mehr. Aber wie gesagt: Der Widerstand geht weiter – und alles könnte sich in kürzester Zeit noch ändern. Und dann würde ich natürlich gern zurück gehen – denn es ist nicht die beste Option, ein Ausländer in einem fremden Land zu sein.