"Dieb, Mörder, Erdogan!" war einer der Schlachtrufe der Demonstranten in Istanbul, wo sich am Abend die meisten Gegner der Verfassungsänderung versammelt hatten. Allein im Stadtteil Besiktas im Zentrum der Millionenmetropole versammelten sich nach Angaben der Deutschen Presse-Agentur rund 2.000 Demonstranten. Im Viertel Kadiköy auf der asiatischen Seite versammelten sich laut Augenzeugen ebenfalls mehrere Tausend Demonstranten. Auch in der Hauptstadt Ankara und der westtürkischen Stadt Izmir hatten Regierungskritiker zu Protesten aufgerufen.
US-Präsident Donald Trump gratulierte seinem türkischen Kollegen zum Ausgang des Verfassungsreferendums. Trump habe Erdogan die Glückwünsche telefonisch übermittelt, teilte das Weiße Haus in Washington mit. In anderen Ländern war die Zustimmung einer knappen Mehrheit der Türken zu einer deutlichen Ausweitung der Macht des Präsidenten mit Zurückhaltung oder gar Bedauern aufgenommen worden.
Entscheidung über Verlängerung des Ausnahmezustands
In Ankara soll das Parlament heute über die Verlängerung des Ausnahmezustands entscheiden. Die Regierung hatte am Abend eine Verlängerung um drei Monate beschlossen. Die Zustimmung des Parlaments gilt als Formalie. Der Ausnahmezustand würde dann mindestens bis zum 19. Juli gelten.
Erdogan hatte den Ausnahmezustand nach dem Putschversuch im Juli ausgerufen. Er wurde seitdem zwei Mal verlängert und wäre in der Nacht zu Mittwoch ausgelaufen. Er ermöglicht Erdogan, mit Dekreten zu regieren, die auch ohne Zustimmung des Parlaments in Kraft treten.
Die Opposition hatte Einschränkungen ihres Wahlkampfs vor dem Referendum wegen des Ausnahmezustands beklagt, der unter anderem die Versammlungsfreiheit einschränkt. Auch die internationalen Wahlbeobachter der OSZE und des Europarates hatten kritisiert, unter dem Ausnahmezustand seien Grundfreiheiten eingeschränkt gewesen, "die für einen demokratischen Prozess wesentlich sind".
Wahlbeobachter: "Weder freie noch faire Wahlen"
Die Opposition will am Nachmittag wegen Unregelmäßigkeiten eine Annullierung der Abstimmung beantragen. An vielen Orten hätten Wähler nicht geheim abstimmen können, kritisierte etwa die sozialdemokratische CHP. Zudem seien Stimmen im Verborgenen ausgezählt worden. Notfalls wolle man auch vor das Verfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen, so die CHP. Grünen-Chef Cem Özdemir sieht kaum Chancen, das Ergebnis erfolgreich anzufechten. Präsident Erdogan werde alles dafür tun, seine Macht zu zementieren, sagte er im Deutschlandfunk.
Auch Wahlbeobachter der OSZE und des Europarats äußerten sich kritisch: Das Votum habe nicht internationalen Standards entsprochen. Journalisten seien verhaftet und Medien geschlossen worden. Der rechtliche Rahmen sei nicht ausreichend gewesen. Es gebe zwar keine Hinweise auf Betrug. Die kurzfristige Entscheidung, auch ungestempelte Wahlzettel zu akzeptieren, widerspreche aber dem Gesetz. Der Abschlussbericht der Wahlbeobachter liegt noch nicht vor.
Nach Einschätzung des offiziellen deutschen Wahlbeobachters für den Europarat, Andrej Hunko, habe das Referendum in den kurdischen Gebieten des Landes in einer "Atmosphäre massiver Bedrohung" stattgefunden. Angesichts der massiven Einschränkungen des Nein-Lagers und angesichts der Bedingungen des Ausnahmezustands könne "weder von freien noch von fairen Wahlen" gesprochen werden.
Die Wahlkommission wies die Vorwürfe der Opposition und die Kritik der OSZE zurück. Sie erklärte, ungestempelte Zettel seien auch schon früher gezählt worden. Korrespondentin Sabine Adler berichtet, die Wahlkommission sei voll unter Erdogans Kontrolle. Nach dem Putschversuch im vergangenen Jahr seien nicht nur ihre Leitung, sondern auch zahlreiche Mitarbeiter ersetzt worden.
Auch die Regierung zeigte sich angesichts der Kritik unbeeindruckt. Die Türkei habe Berichte der OSZE weder gesehen, gehört oder anerkannt, sagte Erdogan. Das Außenministerium erklärte, die Kritik sei nicht akzeptabel. Der OSZE-Vorwurf am Wahlablauf zeuge von Voreingenommenheit und mangelnder Objektivität.
Kommt jetzt die Abstimmung über die Todesstrafe?
Auch aus Deutschland kam Kritik. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) sagte der Rheinischen Post, es müsse schnell geklärt werden, ob die Abstimmung "fair und sauber" abgelaufen sei, "soweit man unter den derzeitigen Umständen in der Türkei überhaupt davon sprechen kann."
In Europa wurden derweil Forderungen nach einem Ende der EU-Beitrittsverhandlungen laut. Wolfgang Bosbach (CDU) sagte, man könne "nicht ernsthaft davon ausgehen, dass diese Türkei Vollmitglied der EU werden kann." Der österreichische Außenminister Sebastian Kurz verlangte eine Einstellung der EU-Vorbeitrittshilfen. Es müsse sichergestellt werden, dass nicht noch mehr Geld für einen Beitritt fließe, der ohnehin nicht stattfinden werde.
Nach dem Referendum steht möglicherweise die nächste wegweisende Entscheidung an: Erdogan hatte angekündigt, nach dem Referendum im Parlament über die Todesstrafe abstimmen zu lassen. "Das wäre die letzte Entscheidung über eine Zuwendung oder Abkehr von Europa", so Korrespondentin Adler. Der Weg lasse sich so schnell nicht korrigieren.
Regierung bleibt vorerst im Amt
Nach dem vorläufigen Endergebnis stimmten am Sonntag 51,4 Prozent für die Verfassungsreform. Die Wahlbeteiligung lag nach Regierungsangaben bei mehr als 85 Prozent. Der knappe Sieg Erdogans wird angesichts des großen Wahlkampf-Aufwands und der Einschüchterung auch als Niederlage wahrgenommen, berichtet Sabine Adler. Vorerst bleiben der Ministerpräsident und die Regierung im Amt. Erst nach Wahlen, die 2019 geplant sind, wird der Präsident Staats- und Regierungschef.
(cvo/tgs)