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Nach dem Tsunami
Der Trauer standhalten

Die Wirklichkeit ist das Fundament seines Schreibens. In seinem neuen Roman "Alles ist wahr" thematisiert Emmanuel Carrère die Trauer nach dem Tsunami vor zehn Jahren. Er selbst hat die Katastrophe auf Sri Lanka miterlebt.

Von Anja Hirsch |
    Menschen suchen am Strand von Hakkeduwa im Süden Sri Lankas nach dem Tsunami nach Überlebenden.
    Menschen suchen am Strand von Hakkeduwa im Süden Sri Lankas nach dem Tsunami im Dezember 2004 nach Überlebenden. (dpa/picture-alliance/epa Mike Nelson)
    "Ich weiß noch, dass Hélène und ich in der Nacht vor der Welle davon gesprochen haben, uns zu trennen."
    Die Welle - das ist der Tsunami, der 2004 in Sekundenschnelle Menschenleben wegfegte. Wie man eine Scheu vor Katastrophenfilmen hat, schreckt man vielleicht zunächst auch vor Emmanuel Carrères Buch zurück, denn: "Alles ist wahr", so heißt es zumindest. Aber ganz anders als bei Katastrophenfilmen mit ihrem großen technischen Aufwand und der Schockdramaturgie spürt man die Bürde der Verantwortung, wenn man vom Leid und Leben Anderer erzählt.
    Carrère selbst hatte Glück: Sein Hotel auf Sri Lanka lag auf einer Anhöhe - unerreichbar für die Wassermassen. Noch am Tag zuvor hatte er überlegt, in eine Unterkunft am Strand zu ziehen. Ein Zufall? Schicksal? Jedenfalls beherrscht ihn nun ein Gefühl der Erschütterung und der Dankbarkeit, davongekommen zu sein. Andere hatten dieses unfassbare Glück nicht. Eine französische Familie beispielsweise, die der Erzähler und seine Frau Hélène kurz zuvor kennengelernt hatten.
    "Alles war friedlich, es würde ein schöner Tag werden, Philippe überlegte, ob er nachmittags mit Jérome angeln gehen sollte. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass die Krähen verschwunden und keine Vogelstimmen mehr zu hören waren. In diesem Moment kam die Welle. Einen Augenblick zuvor war das Meer noch gleichmäßig flach, Sekunden später eine Mauer, hoch wie ein Wolkenkratzer, die auf ihn herabstürzte. Blitzartig schoss ihm durch den Kopf, dass er jetzt stirbt und keine Zeit haben wird zu leiden."
    Philippe überlebt, die vierjährige Enkeltochter nicht. Emmanuel Carrère hilft, die Leiche zu suchen, in Krankenhäusern, denen man sich wegen des Gestanks kaum nähern kann. Er schildert, wie Philippe immer und immer wieder von diesem einen Moment vor der Welle spricht, als Juliette noch bei ihm war. Carrère erzählt von diesen Menschen, die von jetzt auf gleich ihrer Zukunft beraubt wurden und die er gerade erst kennengelernt hat. Er berichtet, wovon sie leben, wie sie sich kennenlernten, was sie auszeichnet; und vor allem, wie sie auf je unterschiedliche Weise auf das Unglück reagieren. Emmanuel Carrère verschwindet dabei zeitweise ganz in der Rolle des filternden, kommentierenden Chronisten. Dann rückt er wieder in den Vordergrund, mit seinen Zweifeln, Fragen und Emotionen. Und wie bei der niederländischen Schriftstellerin Connie Palmen, die im vergangenen Jahr als Betroffene das bewegende "Logbuch eines unbarmherzigen Jahres", ein Text über den Tod ihres Lebensgefährten, vorlegte, wird auch bei Carrère das persönliche Erleben mit Fundstücken aus Literatur und Philosophie verbunden.
    "Mit mir selbst unzufrieden steckte ich die Nase noch einmal in 'Der Skorpionsfisch'. Zwischen zwei Insektenbeschreibungen lässt ein Satz mich innehalten: "An diesem Morgen hätte ich mir gewünscht, dass eine fremde Hand mir die Augenlider schließe. Doch ich war allein, ich schloss sie mir also selbst."
    Ein weiteres Ereignis kurz nach der Rückkehr aus Sri Lanka in Frankreich konfrontiert den Autor erneut mit dem Tod: Seine Schwägerin, die drei kleine Kinder hat, stirbt an Krebs. Auch hier sucht Emmanuel Carrère Kontakt mit Verwandten und Freunden. Gegen das Gefühl, dem Schmerz ausgeliefert zu sein, setzt er das Leben, wie es sich im Spiegel der Gespräche zeigt. Er erzählt dazu auch die abenteuerliche Lebensgeschichte eines mit der Schwägerin befreundeten Richters, gespickt mit juristischen Fachbegriffen. Beide arbeiteten gemeinsam an einem Fall bis in höchste Instanzen. In der Art ihres Austauschs darüber wird eine wunderbare Freundschaft greifbar. Zwar ist vor allem in diesem Teil die Besessenheit des sammelnden Autors spürbar, der seinen Text mit zu vielen Details anreichert. Aber gerade diese zweite Verlustgeschichte macht deutlich, worum es Carrère geht: Er sucht das Verbindende und konfrontiert es mit dem Tod, dem Trennenden. Dabei überwiegt der zugewandte, wertschätzende Blick, der einen schließlich für Emmanuel Carrères Buch einnimmt.
    "Jedes Mal, wenn einer redete, schaute der andere ihn zärtlich und besorgt an, weil er befürchtete, er könne zusammenbrechen. Dann sprudelten die Tränen, sie fassten sich wieder und entschuldigten sich: Das ist ihre Art, standzuhalten und sich zu lieben."
    Emmanuel Carrère ist seit je Grenzgänger zwischen Tatsachenbericht und Fiktion. Diesmal aber geht er einen entscheidenden Schritt weiter. Ausgehend von der Tsunami-Katastrophe, problematisiert er ein Schreiben, das der eigenen Betroffenheit angemessen ist. Darüber hinaus nimmt er sehr bewusst die Erzählhaltung eines Porträtisten ein, der es sich erlaubt, eigene Akzente zu setzen, in Absprache mit den hier Porträtierten, denen er seinen Text vor der Publikation zu lesen gibt. Diese Achtung des Betrachters, der an diesen verschiedenen Leben teilhaben darf, vermittelt sich in berührenden Szenen, die Emmanuel Carrère mit großer Wärme und fast ohne Pathos schildert. Da ist zum Beispiel Patrice, der Witwer, der abends mit der jüngsten Tochter, die am wenigsten Erinnerung an die Mutter hat, Dias schaut, weinend und lachend. Das sind starke Momente. Carrère lässt uns an dem langsamen Denk- und Veränderungsprozess teilhaben, den er selbst durchläuft. Am Anfang des Buches ist er ein Mann mit Trennungsgedanken; am Ende erkennt er, angesichts der Willkür des Lebens, wie wertvoll eine Beziehung ist. Zu Literatur wird sein auf Fakten basierendes Werk, weil Emmanuel Carrère die Schwierigkeiten des Schreibens im Schatten der Tode transparent macht. Vor allem aber verweist er den Tod durch sein Buch in die Mitte des Lebens. Er nimmt ihm damit nicht seinen Schrecken, aber lässt ihn auch nicht übermächtig werden.