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Nach dem Urteil im NSU-Prozess
"Dringendste Fragen für Familie nicht beantwortet"

Das NSU-Urteil habe die Frage des Mitverschuldens von Verfassungsschutzorganen nicht geklärt, sagte der Anwalt der Nebenklage, Thomas Bliwier, im Dlf. Akten, die Aufklärung ermöglichten, seien nun für 120 Jahre unter Verschluss. Man werde alles daran setzen, diese Akten zu bekommen - auch Rechtsmittel seien denkbar.

Thomas Bliwier im Gespräch mit Christine Heuer |
    Angehörige der Opfer und Aktivisten protestieren am Tag der Urteilsverkündung im NSU-Prozess vor dem Münchner Oberlandesgericht.
    Angehörige der Opfer und Aktivisten protestieren am Tag der Urteilsverkündung im NSU-Prozess vor dem Münchner Oberlandesgericht. (imago stock&people)
    Christine Heuer: Wir haben gerade gehört: Ihr Mandant, der Vater von Halit Yozgat, hat im Gericht bitter geweint. War der Prozess für die Angehörigen im Wesentlichen umsonst?
    Thomas Bliwier: Nein, das glaube ich nicht. Er war nicht umsonst, weil wir natürlich in der Lage waren, den Angehörigen auch eine Stimme zu geben in dem Verfahren und die zentralen Fragen zu thematisieren. Die Enttäuschung ist groß, weil der Senat in der Urteilsbegründung sich mit keiner der Fragen beschäftigt hat, und die Fragen, warum wurde der Sohn ausgesucht als Mordopfer, was hatte der Verfassungsschützer T. am Tatort zu suchen, die sind nicht beantwortet worden, und das waren die dringendsten Fragen für die Familie.
    "Akten jetzt für 120 Jahre gesperrt"
    Heuer: Aber war es denn Aufgabe des Gerichts, diese Fragen zu beantworten, die nach dem Verfassungsschutz und möglichen Hintermännern?
    Bliwier: Nach unserer Auffassung ja, weil die Fragen haben sich aufgedrängt. Wir haben alleine 35 Verhandlungstage verhandelt für den Mord an Kalit Yozgat. Der Verfassungsschützer Temme war am Tatort. Er hat behauptet, nichts gesehen und nichts gehört zu haben. Das glauben wir nicht. Das Landesamt für Verfassungsschutz in Hessen hat die fraglichen Akten, die wir dringend benötigen, jetzt für 120 Jahre gesperrt. In diesen Akten liegen die Antworten auf die dringenden Fragen der Familie Yozgat. Und das gehört auch in diesen Strafprozess, weil es ist auch Aufgabe eines solchen Prozesses, Rechtsfrieden herzustellen, und Rechtsfrieden heißt, die dringenden Antworten auch der Nebenkläger zu beantworten.
    "Frage des Mitverschuldens von Verfassungsschutzorganen"
    Heuer: Nun hat der Richter im Prozess ja gesagt, darum, was Sie jetzt fordern, kann es nicht gehen, oder jedenfalls nicht so ausführlich gehen, denn geklärt werden sollte die Schuld von Beate Zschäpe und den Mitangeklagten.
    Bliwier: Das ist völlig richtig. Das ist natürlich auch vordringliche Aufgabe des Strafprozesses. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass wir in diesem Verfahren thematisiert haben in der Beweisaufnahme – die hat ja stattgefunden dazu -, etwaiges staatliches Mitverschulden, die Frage des Mitverschuldens von Verfassungsschutzorganen, Stichwort Finanzierung des Thüringer Heimatschutzes durch Spitzel des Verfassungsschutzes. Die Themen haben ja eine Rolle gespielt, die kann man nicht ausblenden. Und das ist eine Frage, wie man die Aufklärungspflicht des Gerichts definiert. Nach unserer Auffassung hätte das dringend in diesen Prozess hinein gehört und wäre auch Aufgabe dieses Prozesses gewesen. Darüber kann man trefflich streiten, das ist mir schon bewusst. Aber wir vertreten das Anliegen der Familie Yozgat, denen es nie darum gegangen war, eine bestimmte Strafe zu fordern, sondern denen es immer darum gegangen ist, den Sachverhalt aufzuklären, gerade diesen Sachverhalt.
    "Wir müssen dringend mit Rechtsmitteln dagegen vorgehen"
    Heuer: Kann man denn diesen Sachverhalt noch aufklären und kann ein Jurist, können Sie dabei behilflich sein?
    Bliwier: Ja, das ist eine gute Frage. Ich hoffe das. Die Sachverhaltsaufklärung ist ja damals schon erschwert worden, weil der damalige hessische Innenminister, jetzige Ministerpräsident den Quellenschutz über alles gestellt hat und eine Befragung der unmittelbaren Quellen verhindert hat, weswegen die Polizei, die in Hessen wirklich gute Arbeit gemacht hat – das muss man hier auch mal hervorheben -, nicht weitergekommen ist. Jetzt hat das hessische Landesamt die Akten, in denen die Protokolle, in denen Vermerke zur damaligen Beteiligung möglicherweise des Verfassungsschutzes enthalten sind, diese Akten für 120 Jahre gesperrt. Wir werden natürlich alles daran setzen, dass wir diese Akten kriegen, möglicherweise mit Auskunftsklagen, möglicherweise mit anderen rechtlichen Möglichkeiten, damit endlich diese Akten herausgegeben werden. Ich kann es ja auch mal umkehren: Wenn da nichts zu verbergen wäre, wäre es ein leichtes gewesen, diese Akten dem Gericht zur Verfügung zu stellen. Der Verfassungsschutz hat sich dazu anders entschieden. Wir müssen dringend mit Rechtsmitteln dagegen vorgehen.
    Heuer: Sie kündigen weitere Prozesse in der Sache an?
    Bliwier: Ich kündige an, dass wir uns jedenfalls intensiv darüber Gedanken machen, wie wir an diese Aktenbestände kommen und wie wir möglicherweise Verfahren in Gang setzen, damit der Verfassungsschutz die Akten herausgeben muss. Es kann nicht sein, dass eine Verfassungsschutzbehörde, die in der Weise verstrickt war in den Mord an Kalit Yozgat, einfach mal in eigenem Gutdünken die Akten für 120 Jahre sperrt. Auf gut Deutsch: Niemand, der jetzt lebt, soll jemals diese Akten zu sehen bekommen. Das kann rechtlich nicht richtig sein.
    "Signal an die rechte Szene"
    Heuer: Sind Sie, Herr Bliwier, als Anwalt der Nebenkläger heute zufrieden mit den Urteilen, die in München gesprochen worden sind?
    Bliwier: Das ist ganz schwierig. Ich denke, die Verurteilung von Frau Zschäpe als Mittäterin geht in Ordnung. Das hatte ich so erwartet. Die Frage des Strafmaßes für André E. mit zwei Jahren, sechs Monaten - Unterstützung - ist grotesk, wenn man sich überlegt, dass der ziemlich dicht dran war, auch nach Feststellung des Senats, an dem untergetauchten Trio, und über einen längeren Zeitraum auch psychische Unterstützung geleistet hat. Das ist ein Signal, was ich schwer akzeptieren kann. Das ist auch ein Signal an die rechte Szene, wenn man so will, die das heute mit Beifall quittiert haben, auch dann noch die Haftentlassung. Aber das Urteil gegen Frau Zschäpe geht rechtlich nach meiner Auffassung so in Ordnung. Ich hatte auch nie gegen Schluss der Beweisaufnahme etwas anderes erwartet, als dass Frau Zschäpe als Mittäterin verurteilt wird.
    "Eine Revision der Nebenklage wäre unzulässig"
    Heuer: Frau Zschäpe hat ja jetzt angekündigt, beziehungsweise ihr Anwalt hat angekündigt, in Revision gehen zu wollen. Da sprechen wir gleich noch drüber, Herr Bliwier. Aber wenn Sie über die von Ihnen und den Angehörigen als zu milde empfundenen Strafen für die anderen Angeklagten sprechen, wollen Sie da in Revision gehen?
    Bliwier: Frau Heuer, wir haben rechtlich keine Möglichkeiten. Dazu muss man wissen, dass die Revisionsmöglichkeiten der Nebenklage beschränkt sind. Eine Revision der Nebenklage, die nur das Ziel hat, eine höhere Strafe zu verlangen, ist unzulässig. Die würde als unzulässig zurückgewiesen werden müssen. Von daher haben wir rechtlich keine Möglichkeiten. Man kann über die Höhe der Bestrafung von Herrn Wohlleben denken wie man will; der ist aber bestraft worden, so wie er angeklagt worden ist. Eine Revision der Nebenklage wäre unzulässig dagegen. Da gibt es keine rechtlichen Möglichkeiten für uns.
    Heuer: Wie schätzen Sie die Chancen der angekündigten Revisionsklage von Beate Zschäpe ein?
    Bliwier: Das ist immer schwierig, weil natürlich wird die Verteidigung reflexartig eine Revision ankündigen und einlegen. Man muss auf die schriftlichen Urteilsgründe warten, die wir ja auch bekommen. Dass da Prozessualfehler gemacht worden sind, weiß ich nicht. Die strittige Frage ist ja eindeutig, ist Frau Zschäpe als Mittäterin hier zu behandeln oder nicht, und da hat der Senat heute, ich finde, auch anders als die Vertreter der Bundesanwaltschaft eine wirklich überzeugende Erklärung geliefert, warum man zur Mittäterschaft kommt, nämlich die Überzeugung, dass Frau Zschäpe eine bestimmte Rolle hatte, nämlich genau zuhause in der Wohnung zu warten, dass Böhnhardt und Mundlos zurückkommen, andernfalls das, was sie gemacht hat, die Beweise zu vernichten und die Bekennervideos loszuschicken, und das ist ein essenzieller Tatbeitrag, der Böhnhardt und Mundlos die Taten erst ermöglicht hat, in Abstimmung mit Frau Zschäpe. Das finde ich wirklich überzeugend und das anzugreifen mit einer Revision, scheint mir sehr schwierig zu sein.
    "Überzeugende Begründung des Senats"
    Heuer: Nun sagt ihr Anwalt heute, dass Sichern der Wohnung ist nicht gleichzusetzen mit dem Zeigefinger am Abzug. Ist da nicht was dran, juristisch betrachtet?
    Bliwier: Ja, das kann man so vertreten, was einem immer so einfällt. Nein, das ist eine Wertungsfrage. So wie der Senat das entschieden hat – natürlich ist das ein anderer Tatbeitrag, aber so, wie der Senat das entschieden hat, ist das ein wesentlicher Tatbeitrag, der nämlich darin besteht, dass Böhnhardt und Mundlos wissen, sie gehen los und verüben diese rassistischen Morde, und Frau Zschäpe hat genau die Aufgabe, das Bekennervideo loszuschicken, falls etwas schiefgeht, falls die beiden nicht zurückkommen, damit die Tatserie auch als solche erkannt wird. Das ist ein Aspekt, der mühelos nach meiner Auffassung ausreicht, um eine Mittäterschaft zu begründen. Das sage ich ausdrücklich auch als Strafverteidiger. Man muss ja immer ein bisschen vorsichtig damit sein, wie man dann die Beweiswürdigung bewertet, aber das scheint mir eine wirklich überzeugende Begründung des Senats gewesen zu sein.
    "Würde es jederzeit wieder machen"
    Heuer: Der NSU-Prozess, Herr Bliwier, hat fünf Jahre gedauert. Er dürfte auch Ihr Leben geprägt haben. Mit welchem Gefühl haben Sie heute das OLG München verlassen?
    Bliwier: Ja, zwiespältig. Das ist natürlich eine Erleichterung, weil man kann sich vielleicht vorstellen, dass über fünf Jahre ein solcher Prozess mit Gott sei Dank einem solchen Medieninteresse, mit so einer schwierigen Rolle wie der Nebenklage in so einem Prozess, Streit mit der Bundesanwaltschaft, möglicherweise auch Streit mit dem Gericht, immer wieder Anrennen mit Aufklärungsbemühungen hinsichtlich der Verstrickung von staatlichen Stellen, das ist unglaublich Zeit und Kraft raubend. Ich würde es jederzeit wieder machen. Das ist eine wichtige Aufgabe. Aber es bleibt natürlich auch eine Unbefriedigtheit zurück, wenn man dann diese Urteilsbegründung des Senats sich anhört, der ja die gesellschaftlichen Realitäten vollkommen ausblendet. Es wäre auch für die Angehörigen wichtig gewesen, die Urteilsbegründung nicht nur zu reduzieren relativ schlank auf das, was der Senat zur Schuld der Angeklagten festgestellt hat.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.