Ich kenne die Metrohaltestelle Oberkampf sehr gut. Nur wenige hundert Meter von hier entfernt habe ich nach dem Abitur ein Jahr gewohnt und einen Freiwilligendienst bei den Petits frères des Pauvres absolviert - einer NGO, die sich um alte Menschen kümmert.
Doch heute ist alles anders: Die Haltestelle ist erst an diesem Donnerstagvormittag wieder eröffnet worden. Nur ein paar Schritte vom Ausgang entfernt steht das Bataclan: Der Konzertsaal in dem 89 Menschen durch Kalaschnikows und Sprengstoff getötet worden sind. Nun erinnern Kerzen und Blumen rund um das Bataclan an die Opfer. Rund 150 Meter entfernt davon liegt das Café de la Folie.
"Das 11. Arrondissement ist fast wie ein Dorf: Jeder kennt jeden, vielleicht jetzt nicht persönlich aber zumindest vom sehen her. Einerseits ist das hier ein Arbeiterviertel aber es gibt auch viele Bobos, also alternativ-Bürgerliche. Ich mag das Viertel sehr gerne."
Jeff zählt die Freunde auf, die er verloren hat
Jeff arbeitet seit 15 Jahren im 11. Arrondissement hinter dem Tresen des Cafés. Er ist ein freundlicher Mann Ende 40.
"Ich habe zwei Freunde, die im Bataclan ums Leben gekommen sind. Der Besitzer des Cafés Les Cents Kilos am Ende dieser Straße hier, der hatte auch ein Café in der Rue de Charonne und wurde dort getötet. Und meine Nachbarin von gegenüber, die arbeitet im Lebensmittelgeschäft und kommt jeden Morgen hierher um ihren Kaffee zu trinken. Die wurde bei dem Anschlag in der Bar Le Carillon schwer verletzt. Am Samstagabend um 19 Uhr ist sie dann gestorben."
Viele der umliegenden Händler sind Stammgäste in Jeffs Café. Natürlich haben die jetzt nur ein Thema im Kopf, sagt Jeff. Aber Angst hätten sie nicht unbedingt. Das dürfe man auch nicht, denn dann hätten ja die Terroristen gewonnen.
Jeff stammt aus Algerien und hat dort zu Beginn der 90er Jahre seinen Militärdienst absolviert.
"In dieser Zeit habe ich erfahren, was Terrorismus bedeutet. In Algerien sind grausame Sachen passiert, krasser als jetzt hier bei uns in Paris. Ich habe schlimme Szenen erlebt. Es gab Massaker und jeden Tag Tote. Wir haben uns damals daran gewöhnt: Morgens aufzustehen und zu wissen, dass es wieder Leichen gibt. Und dieses Gefühl, was ich damals in Algerien hatte, das ist jetzt durch die Terroranschläge zurückgekommen zu mir, der ich nach Frankreich gezogen bin und Kinder bekommen habe."
Philippe hofft darauf, dass das Bataclan irgendwann wieder öffnet
Ich mache mich auf den Weg in die Küche. Nicht in Alains Küche, sondern in die von Philippe Imbert, meinem früheren Chef bei den Petits frères des Pauvres, der zum Mittagessen eingeladen hat.
Philippe lebt genau an der Grenze des 10. Und 11. Arrondissements. Gleich mehrere der Anschlagsorte kennt der feierfreudige 50-Jährige sehr gut, sei es das Petit Cambodge oder die Rue de la Fontaine au Roi, wo er jahrelang gelebt hat. In den Waschsalon, den die Attentäter angriffen, habe er immer seine Kleidung gebracht. Dort nun Blumen und Kerzen zu sehen sei bewegend. Aber weder er noch das 11. Arrondissement würden sich nach den Terroranschlägen ändern, sagt Philippe:
"Die Terroristen sind im Krieg. Anders als wir. Wir erleben hier gerade die Nebenwirkungen eines Krieges. Ein Krieg ist doch anders: Da fallen Bomben, da sind überall Tote, du kriegst nichts mehr zu essen und musst fliehen. Frankreich ist ein Nebenkriegsschauplatz von anderen Konflikten in der Welt. Weil die Terroristen keine Flugzeuge haben, um uns anzugreifen. Hätten sie die, dann würden sie uns attackieren."
Unwirklich sei die Vorstellung immer noch, dass sich hier überall quasi vor der Haustür der Terror abgespielt habe, sagt Philippe. Auch den Konzertsaal Bataclan kennt Philippe sehr gut. Ich bin da oft zum Tanzen gewesen, weil die auch Musik aus den 80er und 90ern spielen und mich dass an meine Jugend erinnert, erzählt mein früherer Chef. Er hofft darauf, dass das Bataclan irgendwann wieder seine Türen öffnet:
"Ich hoffe nicht, dass sie das Bataclan zum Denkmal der Opfer erklären werden. Das muss wieder geöffnet werden, damit man dort tanzen kann. Klar wird das ein schwieriger Schritt werden. Aber bitte kein Mausoleum!"
Aber dann räumt Philippe auch ein: Ich weiß nicht, ob ich dort wieder hingehen würde zum Tanzen. Andererseits: Vielleicht muss man dort hingehen. Aus Solidarität. So wie wir ja auch in die angegriffenen Restaurants und Bars gehen werden, wenn die wieder offen sind.