Ein grauer Himmel hängt über dem Rathaus von Montreuil. „Frohes neues Jahr" steht in großen Lettern auf der Fassade und passt so gar nicht zu den Bildern darunter. Auf einem großen grauen Schild der Aufruf: "Zusammenstehen: für die Freiheit, die Demokratie, die Republik" – daneben auf einem weißen Transparent die Namen der Opfer des Attentates. Und eine Karikatur von Tignous – die Nase vorwitzig spitz – ein paar Striche als Haare auf dem Kopf - so hat er sich selbst gezeichnet. Ein Mann starrt mit finsterer Miene darauf: "Was bei uns passiert ist, ist nicht normal – es ist Horror. Diese Trauerfeier wird zumindest guttun."
Auf den Steinstufen hat jemand weiße Margeriten zwischen schwarz gefärbte Blumen gesteckt. "Je suis Charlie", schreiben sie. Ein paar Wartende, die zur Trauerfeier wollen, haben die gestrige Ausgabe von "Charlie Hebdo" in der Hand.
Naben dem Rathaus-Eingang hängen an Eisengittern Skizzen von Tignous – eine Ausstellung der Stadt. Er hat Jugendliche aus Montreuil gezeichnet, bei einem Workshop mit Schriftstellern, Filmemachern und Musikern. Tignous war engagiert in Montreuil, wo er wohnte. Eine Vorstadt von Paris – eine Arbeiter- und Einwanderstadt, wo ein Drittel der Appartements in den Blocks Sozialwohnungen sind. Tignous ging in die Schulen, hatte Projekte mit Jugendlichen, jungen Zeichnern oder in Gefängnissen. Die 31-jährige Julie, die hier aufgewachsen ist, und deren Vater "Charlie Hebdo" schon immer abonniert hatte, verbindet mit Tignous: "Die Vielfältigkeit dieser Stadt. Er bedeutet für mich die erhobene Faust gegenüber der Absurdität dieser Welt und gegenüber der Ungerechtigkeit – und natürlich ein fantastischer Zeichner um über die Absurditäten dieser Welt zu lachen."
"Dieser Slogan ärgert mich ein bisschen"
Der 29-jährige schwarzhaarige Midi zieht nervös an einer Zigarette, während er die Bilder betrachtet. Er kommt aus einer muslimischen Familie. Vor den Attentaten sei die zwar unterschwellig stigmatisiert worden, findet er, aber jetzt spüre er offene Abneigung. Mit "Je suis Charlie" hat er ein Problem:
"Dieser Slogan ärgert mich ein bisschen. Er fokussiert das Problem zu sehr auf "Charlie Hebdo". Das war ein Attentat auf die Meinungsfreiheit – das ist das Schockierende. Außerdem waren die Attentate nicht nur gegen "Charlie Hebdo" gerichtet. Wir haben gesehen, wie ein Polizist auf der Straße getötet wurde, es geht also um mehr. Der Slogan- wenn er auch die zentrale Idee zusammenfasst - trägt aber auch zu diesem Bruch bei. Es finden sich nicht alle Franzosen in der Welt von "Charlie Hebdo" wieder."
"Was passiert ist, verstehen wir nicht"
Unter den Menschen, die sich in Massen ins Rathaus schieben, sind Marcel und seine Frau. Der große grauhaarige Mann zeigt ein Foto von Tignous, als der etwa neun Jahre alt ist – im Urlaub mit seiner Familie. Das Ehepaar kennt Tignous' Eltern seit 50 Jahren - ihr Sohn ist mit dem Zeichner aufgewachsen. Auch auf Tignous' Hochzeit war er, erzählt Marcel und schüttelt hilflos den Kopf. "Was passiert ist, verstehen wir nicht, man kann es nicht verstehen. Es ist ein Albtraum. Ich bin vor allem wegen seiner Familie gekommen, wegen seiner Kinder. Ich will einfach nur, dass sie Frieden finden. Ich werde das niemals verstehen können – niemals!"
"Ein junger Mensch, der so viele Kinder hinterlässt", weint Marcels Frau, "diese kleinen Jungs – wie kann man das erklären?"
Vier Kinder und seine Ehefrau Chloé hinterlässt Tignous. Im Rathaus tritt die zierliche Frau mit kurzen rotbraunen Haaren vor die Trauergemeinde. Hinter ihr lächelt Tignous von einem riesigen Schwarz-Weiß-Foto auf die Anwesenden herab. Den Hemdkragen lässig aufgeknöpft – ein Glas Wein in der Hand.
"Ich hätte eigentlich eine Rede schreiben sollen", sagt Chloé. "Ich konnte sie nicht schreiben. Denn das Schreiben ist das, was bleibt. Das ist eine Abschiedsrede – und ich kann ihm nicht Adieu sagen." Sie war sehr jung, als sie Tignous traf, erzählt sie mit gebrochener Stimme:"Mein ganzes Leben als Frau - das ist er. Das ist meine schönste Liebesgeschichte. Es ist eine Liebesgeschichte, die für unsere Freunde ein bisschen ermüdend war. Wir haben Euch ermüdet mit unseren ständigen Hochs und Tiefs und unseren großen und denkwürdigen Streits. Aber es war so leidenschaftlich und voller Liebe. Danke, dass Ihr diese Liebe heute mit mir geteilt habt. Die Kinder und ich haben wunderbare Belege dafür bekommen."
"Wir können stolz sein"
Der einzige Trost scheint zu sein: Tignous ist nicht umsonst gestorben ist. Das sage sie oft. Auch wenn sie, so fügt Chloé hinzu, diesen Satz ein bisschen dumm findet. Die Zeichnerin Coco ist einer der Überlebenden der Redaktion von "Charlie Hebdo" - eine Freundin von Tignous.
"Wir können stolz darauf sein, jemanden wie Dich gekannt zu haben. Dich, den talentierten Zeichner, das Genie der Farben, den König des Blödsinns. Den wunderbaren Vater und den Typ, der nach 23.30 Uhr von einem Moment auf den anderen auf seinem Stuhl eingeschlafen ist – mitten im Satz."
Freunde haben Tignous Sarg, der neben dem Rednerpult steht, bemalt mit Karikaturen. Der Humorist Christophe Aléveque singt für Tignous. Nach der Trauerfeier stehen vor dem Rathaus zwei Männer in langen schwarzen Mänteln im Gespräch vertieft. Sie kennen Tignous von ihrem Magazin Marianne, weil er auch für dieses Journal gearbeitet hat. Die Beschreibungen von Tignous - der Mann mit Überzeugungen, der für die Meinungsfreiheit kämpfte -, Bella Ciao - das Protest- und Widerstandslied - das habe gepasst meinen sie - für alle bei dem Attentat getöteten Zeichner.
"Das sind nicht nur Zeichnungen. Tignous und die anderen waren auch Leitartikler, die manchmal in ihren Zeichnungen mehr ausgedrückt haben, als in Texten."