Gerd Breker: Anschläge in Paris, der Tod des Sicherheitsmannes vor der jüdischen Einrichtung in Dänemark, die Zunahme der Übergriffe auch bei uns hier in Deutschland - das jüdische Leben in Europa, es wird offenbar angegriffen. Der israelische Ministerpräsident Netanjahu fordert die Juden in Europa auf, nach Israel auszuwandern. Was wird aus dem jüdischen Leben in Europa, was kann, was soll daraus werden? Wir sind nun in Israel verbunden mit Rafael Seligmann, Schriftsteller und Journalist mit Wohnort Berlin. Guten Tag, Herr Seligmann!
Rafael Seligmann: Guten Tag!
Breker: Jüdisches Leben in Europa gerät mehr und mehr in Gefahr. Ist das Wirklichkeit oder ein falscher Eindruck?
Seligmann: Das ist Wirklichkeit, und das kann jeder an sich selbst ausprobieren, wenn er eine Kippa, eine jüdische Kopfbedeckung trägt und dann durch bestimmte Viertel in deutschen Städten geht, beispielsweise in München oder in Hamburg, gerade in Vierteln, in denen viele muslimische Jugendliche leben. Dann wird er angegriffen. Und das ist nicht nur in Deutschland so, das ist in Frankreich so, das ist in Großbritannien so, das ist in großen Teilen Europas so.
"Das sind doch Signale, die die Juden in Angst und Schrecken versetzen"
Breker: Ist in diesem Zusammenhang, Herr Seligmann, Netanjahus Aufforderung an die Juden, nach Israel auszuwandern, hilfreich?
Seligmann: Sie ist ein Signal. Sehen Sie, kaum ein Jude verlässt gerne seine Heimat, in der die Familien oft länger als tausend Jahre leben. Und der Zionismus, die Rückkehrbewegung der Juden nach Israel, ist ja aufgrund von Ereignissen in Frankreich entstanden, beim Dreyfus-Prozess, als Juden fälschlicherweise des Verrats beschuldigt wurden. Die Schoah war das auslösende Ereignis für die Auswanderung von über einer Million Juden nach Israel. Judenhass in den arabischen Ländern war es und ist es, und insofern ist die Einladung Netanjahus zu verstehen. Die französische Regierung spricht sich gegen den Antisemitismus aus, klar, aber andererseits, bei der Gedenkfeier für die ermordeten Juden und für die Journalisten von "Charlie Hebdo" wurde dem israelischen Ministerpräsidenten bedeutet, er sei in Paris unerwünscht. Er kam dann trotzdem. Stattdessen wurde eben der Palästinenserpräsident Abbas eingeladen. Das sind doch Signale, die einfach die Juden in Angst und Schrecken versetzen, weil einfach nichts oder fast nichts zu ihrem Schutz getan wird.
Breker: Was bedeutet das perspektivisch für das jüdische Leben in Europa? Wird es künftig ein Leben unter Polizeischutz sein müssen?
Seligmann: Es muss ja nicht gleich unter Polizeischutz sein, und Sie können nicht eineinhalb Millionen europäische Juden unter Polizeischutz stellen. Aber sehen, wenn Sie sehen, das zu Recht Kinderpornografie im Internet verboten ist und blockiert wird, andererseits Tausende von antisemitischen Hetzseiten im Internet existieren, ohne dass etwas geschieht; wenn in Berlins Straßen im Sommer geschrien wird, nicht Israelis, sondern Juden ins Gas - das waren Dutzende von Vorfällen, es gab keine einzige Anzeige. Es gab von deutscher Seite sehr wenig, also von den Parteien, keine Aufrufe zur Teilnahme an einer Gegendemonstration, da haben deutsche Politiker, an der Spitze die Kanzlerin und Herr Gabriel teilgenommen, aber ihre Parteien haben sich zurückgehalten.
Und ich kann nur warnen, Frankreich hin oder her, wenn wir nichts Dramatisches und Drastisches gegen diese Hetze tun, wenn wir nicht mehr für die Integration von muslimischen Jugendlichen in Europa tun, dann ist es wirklich nur eine Frage der Zeit, wann der nächste Anschlag in Deutschland gegen Juden stattfindet. Es sind Dutzende von Vorfällen passiert, in denen Juden angegriffen wurden. Da ist es wirklich nur eine Frage der Zeit, bis Schlimmeres passiert. Ich will nicht den Teufel an die Wand malen, aber jetzt ist es noch Zeit, und man kann nicht nur von Auschwitz sprechen, das ist leider geschehen. Wir müssen heute versuchen, die lebenden Juden zu schützen. Sie sind Teil, oder so glaube ich es, der europäischen Gesellschaft, Geschichte und Tradition. Und wenn man das zulässt, dann verwildert Europa.
"Selbstverständlich ist es ein soziales Problem"
Breker: Inwieweit, Herr Seligmann, ist das, was wir jetzt erleben, nicht auch ein soziales Problem, nicht nur ein antisemitisches, ein rassisches Problem, sondern ein soziales Problem?
Seligmann: Selbstverständlich ist es ein soziales Problem. Ich habe ja drauf hingewiesen: Wir müssen versuchen, Migranten, Kinder, vor allem Jugendliche besser zu integrieren. Wir müssen in den Schulen nicht nur was über die Schoah erzählen, sondern was es bedeutet, dass eine Religionsgemeinschaft - ich sehe die Juden nicht als Rasse -, sondern eine Religionsgemeinschaft, eine soziale Gemeinschaft, benachteiligt wird, dass ein Staat in dieser Region, im Nahen Osten, delegitimiert wird. Wenn heute 35 Prozent der Deutschen sagen, die Verbrechen Israels gleichen denen der Nazis, dann ist das wirklich eine Schande. Ich meine, in dem Nebenland, in Syrien, werden 200.000 Menschen umgebracht im Laufe der letzten drei Jahre, das interessiert in Deutschland kaum. Wenn in Israel Zwischenfälle passieren, und die sind zu verurteilen, dann steht man auf. Und das überträgt sich automatisch auf die jüdische Gemeinschaft. Die Juden sind sozusagen der sichtbare Teil der Sympathisanten Israels und die werden gefährdet. Und das sind keine abstrakten Gefährdungen, sondern das sind konkrete physische Gefährdungen, jetzt ist es noch Zeit, nicht nur konkrete Schutzmaßnahmen, physische Schutzmaßnahmen, sondern in Erziehung, im Internet, in der Gesellschaft, vonseiten der Verbände, vonseiten der Parteien - jeder kann etwas tun. Und wenn das nicht geschieht, gibt man sozusagen Juden zum Abschuss frei.
Breker: Im Deutschlandfunk war das der jüdische Schriftsteller und Publizist Rafael Seligmann. Herr Seligmann, ich bedanke mich für Ihre Einschätzungen!
Seligmann: Danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.