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Nach den Wahlen in Großbritannien
Watson: "Harter Brexit" wird unwahrscheinlicher

"Theresa May ist geschwächt in ihrer eigenen Partei", sagte der britische Liberaldemokrat Graham Watson im Dlf. Deshalb sei auch ungewiss, ob und wie lange sie sich im Amt halten könne. Da May im Unterhaus keine klare Mehrheit mehr habe, halte er es für wahrscheinlich, dass es keinen "harten Brexit" geben werde.

Graham Watson im Gespräch mit Mario Doboviesek |
    Graham Watson, Vorsitzender der Liberalen-Fraktion im Europäischen Parlament (ALDE)
    Graham Watson, Vorsitzender der Liberalen-Fraktion im Europäischen Parlament (ALDE) (imago stock & people)
    Mario Dobovisek: Sie hat gepokert und verloren, Großbritanniens Premierministerin Theresa May. Einen noch größeren Rückhalt wollte sie für die anstehenden Brexit-Verhandlungen und setzte deshalb Neuwahlen an. Doch an denen verlor sie so stark, dass sie noch nicht einmal mehr alleine regieren kann. Weiterregieren möchte sie trotzdem und sucht dafür einen Koalitionspartner, jemanden, der sie unterstütz. Mit den Liberaldemokraten haben die konservativen Torys schon einmal regiert, doch die winken ab. Einen von ihnen begrüße ich jetzt am Telefon, Graham Watson. Er war unter anderem Europaabgeordneter für die Liberaldemokraten. Guten Morgen, Herr Watson!
    Graham Watson: Schönen guten Morgen!
    Dobovisek: Keine Koalition, keine Deals. Warum lehnen die Liberaldemokraten eine Koalition mit den Torys so kategorisch ab?
    Watson: Das hat uns sehr, sehr viel gekostet letztes Mal, aber letztes Mal mindestens unter den Torys gab es ein Verständnis, dass Großbritannien Mitglied der Europäischen Union bleiben sollte. Diesmal wollen die Konservativen in ihrem Wahlprogramm, dass Großbritannien sich von der EU scheidet, und das akzeptieren wir nicht. Es wird aber, scheint es, eine Unterstützung für eine Minderheitsregierung der Torys von den Konservativen, der Rechtsflügelpartei in Nordirland geben, also es scheint, dass Theresa May eine Mehrheit im Unterhaus kriegen wird.
    Dobovisek: Also die Unterstützung durch die nordirisch-unionistische DUP. Hardliner sind das im Nordirlandkonflikt, erzkonservativ werden sie bezeichnet, eng verbunden mit der protestantischen Kirche, gegen die Homoehe, für den Brexit – passt das zu den Torys?
    "Geschwächt in der eigenen Partei"
    Watson: Ja, genau, und es scheint deshalb mindestens auf die große Sachen, das heißt auf dem Haushaltsvotum und sowas wird es von dieser Partei eine Unterstützung geben. Ich weiß nicht, ob diese Regierung fünf Jahre regieren kann. Theresa May ist geschwächt in ihrer eigenen Partei. Das ist vielleicht der Irrsinn unseres Wahlsystems: Der große Gewinner, die Gewinnerin der Wahl, Theresa May, findet sich in einer schwächeren Position, und der Verlierer Jeremy Corbyn findet sich irgendwie gestärkt innerhalb seiner eigenen Partei, da sein Ergebnis besser als das Ergebnis seiner Vorgänger war.
    Dobovisek: Müsste Theresa May genau deshalb zurücktreten?
    Menschen warten vor der Downing Street 10 auf Premierministerin Theresa May. Ein Mann hält eine Karrikatur von May in der Hand,  die das Thema Brexit thematisiert.
    Menschen warten vor der Downing Street 10 auf Premierministerin Theresa May. (dpa / picture alliance / Kupec Petr)
    Watson: Das ist etwas für sie und ihre Partei, aber es gibt viele, die sagen, Theresa May wird im September nicht mehr im Amt sein. Das müssen wir sehen. In Großbritannien bei einer Koalitionsbildung oder bei der Bildung einer neuen Regierung geht das immer sehr rasch. Das Parlament wird am Dienstag nächste Woche zurückgehen, also das heißt noch mal sitzen, und es wird, ich nehme an, heute während des Tages eine neue Regierung geben. Theresa May wird vielleicht einige Minister nicht behalten und einige neue Personen reinbringen, aber versucht immer noch, zu regieren, auch von seiner schwächeren Position.
    Dobovisek: Minderheitsregierungen sind in Großbritannien ja durchaus üblich. Kann es sich Premierministerin May erlauben, sich bei den schwierigen Brexit-Verhandlungen einzig auf die nordirischen Unionisten zu stützen? Ist das wackelig?
    Watson: Ich glaube, sie hat keine Wahl, aber ich muss sagen, es gibt viele innerhalb der Labour Party, die Theresa May auch in dieser Politik unterstützen werden. Ich finde das sehr, sehr merkwürdig, dass meine Landsleute scheinen zu sagen, ja, obwohl unsere Volksabstimmung über Europa nur konsultativ war, obwohl es eine sehr knappe Mehrheit gegeben hat, wir haben eine Entscheidung gemacht. Wir müssen jetzt uns von der Europäischen Union scheiden, aber es ist etwas Neues …
    Dobovisek: Das heißt, wenn ich Sie da richtig verstehe, Herr Watson, sehen Sie sich nicht gebunden an das Ergebnis des Brexit-Referendums.
    Watson: Gesetzgeberisch war das nur konsultativ. Meine Partei hat gesagt, wenn es dazu kommt, dann müsste es eine zweite Volksabstimmung geben, um den neuen Deal irgendwie im Gang zu testen.
    Dobovisek: Also nach den Verhandlungen.
    Watson: Genau. Aber was neu ist in dieser Lage, ist, da Theresa May jetzt keine klare Mehrheit hat im Unterhaus, ist weniger wahrscheinlich, dass es eine harte Brexit gibt. Es gibt vielleicht keine Mehrheit im Unterhaus für einen solchen harten Brexit. Also man könnte vielleicht sagen, ja, wir werden wie Norwegen nicht Mitglied der EU, aber immer noch Teilnehmer am Binnenmarkt, immer noch Teil der Zollunion und so weiter.
    "Brexit kann keine gute Sache sein"
    Dobovisek: Andere Beobachter sagen gerade mit den Konservativen, mit den konservativen Nordiren im Boot wird Theresa May noch härter verhandeln und damit möglicherweise am Ende noch mehr riskieren. Damit würde der harte Brexit noch wahrscheinlicher. Sehen Sie das anders?
    Watson: Ja, das ist zu sehen, aber wir wissen, dass innerhalb weniger Tagen, glaube ich, hier jetzt innerhalb von acht Tagen, fangen diese Verhandlungen an. Michel Barnier, auf der Seite der Europäischen Kommission, und unsere Verhandler werden sich zusammensetzen und versuchen, innerhalb ziemlich wenig Zeit ein Abkommen im Prinzip zu finden. Ich hoffe, das geht nicht so schlecht wie Großbritannien, aber ich befürchte, dass für unsere Wirtschaft und auch für die Rechte meiner Mitbürger kann das keine gute Sache sein.
    Dobovisek: Gehen Sie tatsächlich davon aus, dass in acht, neun Tagen mit den Verhandlungen begonnen werden kann?
    Watson: Ja. Ja, ja. Die Pläne werden fast genauso, wie es vor dieser Wahl gab, aber natürlich wissen wir nicht, ob Theresa May im Amt bleiben kann, bis diese Verhandlungen am Ende kommen.
    Dobovisek: Was würde das bedeuten für die Verhandlungen? Sie haben vorhin von September gesprochen. Sie wissen nicht, ob sie im September noch Ministerpräsidentin sei.
    Watson: Diese Sachen sind immer in der Tat auch vom Staat gemacht. Das hängt nicht alles an einer individuellen Person. Wenn Theresa May immer Premierminister ist, dann gibt es vielleicht eine politische Stellungnahme, die etwas klarer ist, aber wir müssen sehen. Es gibt auch andere, die regieren könnten innerhalb der konservativen Partei.
    Dobovisek: Das würde aber auch durchaus bedeuten, dass die ohnehin schon hochkomplizierten Verhandlungen noch komplizierter würden. Bis Ende März 2019 sollen sie ja abgeschlossen sein. Sie waren selber viele Jahre lang in der europäischen Politik unterwegs. Ist das überhaupt realistisch, ist das zu schaffen?
    Watson: Ob das schaffbar ist, wissen wir alle noch nicht, aber ich bin sicher, dass die Stelle, die in Brüssel im Moment redet darüber, eine gute Sache ist. Barnier hat gesagt, das sollen wir nur starten, wenn Großbritannien dafür bereit ist, und wir in Großbritannien müssen jetzt unsere Position erklären, und ich hoffe, dass das alles ziemlich schnell und reibungslos gemacht werden kann.
    Dobovisek: Der britische Liberaldemokrat Graham Watson, und weil Herr Watson gerade im Flugzeug sitzt, haben wir ihn vor 20 Minuten am Flughafen erreicht und das Interview aufgezeichnet. Also von hier aus noch mal sozusagen einen guten Flug!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.