Dem Endergebnis der Bundestagswahl zufolge sind mindestens fünf verschiedene Koalitionsvarianten möglich. SPD, Grüne und FDP verhandeln jetzt aber erstmal über eine Ampel-Koalition. Nach den Vorsondierungen haben sich Grüne und FDP für die Aufnahme dieser Dreier-Gespräche entschieden. Eine Jamaika-Koalition mit der Union erscheint für viele - etwa für die CSU - damit unwahrscheinlich. Offiziell vom Tisch ist sie aber nicht.
Koalitionsrechner - wer könnte mit wem koalieren?
Diese Idee hatte FDP-Parteichef Christian Lindner bereits am Wahlabend ins Spiel gebracht. Zwischen FDP und Grünen gebe es einerseits die größten inhaltlichen Unterschiede, andererseits hätten sich beide Parteien am stärksten gegen den Status Quo der bisherigen Großen Koalition gewandt, sagt Lindner am Tag nach der Wahl in Berlin. Es gelte daher zu prüfen, ob daraus ein fortschrittliches Zentrum einer neuen Koalition werden könne.
Ähnlich argumentierte Robert Habeck, Co-Vorsitzender der Grünen: Im Wahlkampf hätten die Parteien auf das Trennende geschaut, sagte Habeck im Dlf. Jetzt müsse man den Blick auf die Gemeinsamkeiten lenken. Er betonte, ein Dreier-Bündnis funktioniere nach eigenen Regeln und eigener Logik. Es müsse eine eigene Identität bekommen. Deshalb müsse man jetzt danach schauen, ob es Punkte gebe, die nur in dem jeweiligen Bündnis passieren könnten und vielleicht wegen der besonderen Konstellation erst möglich würden.
Habeck hat bereits Erfahrung mit der Situation: Nach der Landtagswahl in Schleswig-Holstein 2017 ging es dort ebenfalls um die Entscheidung zwischen einer Ampel- und einer Jamaika-Koalition. Damals einigten sich CDU, FDP und Grüne auf die Bildung einer Jamaika-Koalition. Mit Blick auf den Bund betonte der Grünen-Co-Chef, es spreche einiges dafür, dass es eher eine Ampelkoalition werde.
Damit loteten diesmal die dritt- und die viertplatzierte Partei zuerst aus, wie eine künftige Bundesregierung aussehen könnte – ein Novum in Deutschland. Eines für das der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich im Deutschlandfunk Verständnis zeigt. Vor vier Jahren seien bei den Koalitionsverhandlungen Wunden geschlagen worden. Grüne und FDP müssten Misstrauen abbauen.
Die Grünen wollen ihre Mitglieder über einen möglichen Koalitionsvertrag sowie ihre personelle Aufstellung in einer neuen Bundesregierung abstimmen lassen. Einen entsprechenden Antrag des Parteivorstands beschlossen die Delegierten eines kleinen Parteitags am Samstag (02.10.2021) in Berlin. Die Vorsitzende Baerbock hob in ihrer Rede hervor, dass die Grünen noch nicht auf eine bestimmte Koalition zur Bildung einer Bundesregierung festgelegt seien. Klarer Maßstab der Partei sei eine Erneuerung für Klimaschutz, eine liberale Gesellschaft und gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Am Dienstagabend (28.9.2021) nach der Wahl hatten sich die Spitzenpolitiker von FDP und Grünen zum ersten Mal zusammengesetzt. Die Öffentlichkeit hatten sie vorab nicht informiert – noch in der Nacht posteten Habeck, Lindner, Grünen-Co-Chefin Annalena Baerbock und FDP-Generalsekretär Volker Wissing aber ein "Selfie" des Treffens auf ihren Social-Media-Kanälen. Alle vier schrieben den gleichen Text dazu: "Auf der Suche nach einer gemeinsamen Regierung loten wir Gemeinsamkeiten und Brücken über Trennendes aus. Und finden sogar welche. Spannende Zeiten."
Eine Ampel-Koalition galt schon vor der Wahl als eine Option, die SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz anstreben würde, wenn es für Rot-Grün nicht reicht. Am Tag nach der Bundestagswahl sagte Wahlsieger Scholz in Berlin, Sozialdemokraten, Grüne und FDP seien von den Wählern gestärkt worden. Diese drei Parteien sollten auch die nächste Regierung führen. Aber wie stehen Grüne und FDP dazu?
Die Grünen haben eine ähnliche Tendenz. Nach der ersten Sondierungsrunde hieß es, die Grünen wollen ihre Gespräche in einer Dreierunde mit FDP und SPD fortsetzen. Das werde man der FDP vorschlagen, sagte die Parteivorsitzende Baerbock nach internen Beratungen am 6. Oktober in Berlin. Deutschland könne sich keine lange Hängepartie leisten. Es solle zügig losgehen.
Grünen-Co-Parteichef Habeck betonte, in einem Ampel-Bündnis seien die inhaltlichen Schnittmengen am größten. Zugleich machte er deutlich, dass es noch viele Differenzen mit beiden möglichen Koalitionspartnern gebe. Viele Dinge seien nicht ausdiskutiert. Habeck sagte, die Präferenz für eine Ampelkoalition sei keine Komplettabsage für ein Jamaika-Bündnis. Die Grünen gaben den Gesprächen mit SPD und FDP von vornherein den Vorrang vor Sondierungen mit Union und FDP.
Die Wahlprogramme
Beide Parteien, sowohl Grüne als auch FDP, würden sich gegenüber Olaf Scholz aber trotzdem teuer verkaufen,
ist sich Hauptstadtkorrespondent Frank Capellan sicher.
"Es sind nicht mehr die beiden Kleinen. Sie wollen sich nicht über den Tisch ziehen lassen. Es sind die Kellner, die sich den Koch aussuchen können. Beide eint auch, dass sie die Erstwähler und Jungwähler für sich gewinnen konnten." Das verpflichte sie, etwa in der Klimapolitik.
Das gute Wahlergebnis habe das Selbstbewusstsein der Grünen anwachsen lassen, so Capellan. Die Grünen würden ihn als "harten Hund" kennen: "Die Hamburger Grünen haben sich daran erinnert, wie er 2015 bei den Koalitionsverhandlungen mit ihnen umgesprungen ist - damals hat Scholz die Grünen als kleinen Anbau abgetan. Diese Überheblichkeit wollen die Grünen Scholz dieses Mal selbstbewusst ausreden." Sollte Scholz es übertreiben, könnten die Grünen doch eher auf eine Jamaika-Koalition umschwenken.
Die FDP will vor allem eigene Inhalte in der Wirtschafts- und Finanzpolitik umsetzen, Lindner selbst möchte Bundesfinanzminister werden. FDP-Generalsekretär Volker
Wissing sah im Deutschlandfunk-Interview am 28.08.2021
noch hohe Hürden für eine Koalition mit SPD und Grünen. Zwischen den Parteien gebe es viele inhaltliche Differenzen, erklärte er. Der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki
sagte am 13.09.2021 im Dlf-Interview
, rote Linien bei den Themen Steuererhöhungen und Schuldenbremse werde man nicht überschreiten. Der Ruf der SPD nach Steuererhöhungen, mit denen diese die Folgen der Coronakrise schultern will, gilt als eines der größten Hindernisse für ein Bündnis mit den Liberalen.
In einem Interview vor der Wahl hatte SPD-Kanzlerkandidat Scholz der FDP einen fairen Umgang bei möglichen Koalitionsverhandlungen versprochen. Die Jamaika-Gespräche 2017 auf Bundesebene seien auch daran gescheitert, dass sich Union und Grüne nicht viel Mühe gegeben hätten, ein echtes Dreierbündnis zustande zu bringen, sagte er der "Süddeutschen Zeitung". Sie hätten letztlich untereinander verhandelt und der FDP nur eine Nebenrolle zugedacht.
Die FDP sei sich damals vorgekommen wie das dritte Rad am Wagen, sagte auch der Politikchef und Leiter des Haupstadtbüro der Wochenzeitung "Die Zeit", Marc Brost, im Deutschlandfunk. Es dürfe diesmal nicht wieder die Situation entstehen, dass zwei Parteien verhandelten und die dritte glaube, sie habe nichts zu sagen. Grüne und FDP hätten sich im Wahlkampf eher voneinander entfernt. Wenn sie jetzt in Sondierungsgesprächen versuchten, sich anzunähern und Gemeinsamkeiten zu ergründen, könnten sie zusammen "eine ungeheure Wucht" entwickeln. Beide Parteien seien indirekt Gewinnerinnen dieser Bundestagswahl, weil sie in beiden realistischen Koalitionsoptionen dabei seien.
Anders als am Wahlabend erheben die Parteichefs von CDU und CSU, Armin Laschet und Markus Söder, doch keinen Anspruch auf die Regierungsbildung mehr. Die Union soll aber bereit stehen für andere Konstellationen, falls die SPD als Wahlsiegerin sich nicht mit Grünen und FDP auf eine Ampel-Koalition einigen kann.
Eine andere Konstellation könnte ein Jamaika-Bündnis mit Grünen und FDP unter Führung der Union sein. Dafür hatte sich FDP-Chef Christian Lindner am Wahlabend in der "Berliner Runde" von ARD und ZDF ausgesprochen. Schon vor der Wahl hatte Lindner immer wieder deutlich gemacht, dass er am liebsten mit der Union und Kanzlerkandidat Armin Laschet regieren würde. Die schwarz-gelbe Koalition in Nordrhein-Westfalen wurde als Vorbild für den Bund gepriesen. Anknüpfungspunkte im Bund gäbe es mit der Union vor allem in Steuer- und Wirtschaftsfragen.
Die FDP macht den Verzicht auf Steuererhöhungen zur Bedingung für eine Regierungsbeteiligung. Das habe man vor der Wahl versprochen und man werde von dieser Position nicht abrücken, sagte Generalsekretär Wissing am 4. Oktober im ZDF. Die FDP sei hier inhaltlich näher an CDU und CSU als an der SPD.
Die Wahlprogramme
Eine Ampel-Koalition schloss Parteichef Lindner aber nicht aus. Vielmehr war er es, der als Erster öffentlich Vorab-Klärungen seiner Partei mit den Grünen anregte. Danach sei er offen für Gespräche sowohl mit der Union als auch mit der SPD, sagte Lindner am Tag nach der Wahl.
Auch bei den Grünen gibt es einige Befürworter einer Jamaika-Koalition. Das Bündnis würde Brücken schlagen zwischen gesellschaftlichen Lagern, heißt es. Allerdings gibt es Differenzen in der Haushalts- und Finanzpolitik. Die Parteispitze der Grünen kann sich ein Jamaika-Bündnis möglicherweise noch eher vorstellen als die Parteibasis, die zum Teil bereits gegen eine mögliche Koalition mit der Union protestiert hat. Co-Partei-Chef Habeck wies aber mit Blick auf die Situation der Union darauf hin, dass die Parteien, mit denen man rede, überhaupt handlungs- und regierungsfähig sein müssten. Auch der Vorsitzende der NRW-Grünen, Felix Banaszak, stimmte dem zu. "Jamaika ist derzeit eine wenig wahrscheinliche Option", sagte der gewählte Bundestagsabgeordnete. Er favorisiert eine Koalition mit SPD und FDP - dafür hätte sich auch der Großteil der Grünen-Anhänger auch ausgesprochen.
Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte schätzte die Chancen einer Jamaika-Koalition
Dlf-Interview
als unwahrscheinlich ein, da die Partei zu sehr mit sich selbst beschäftigt sei. "Es kann sein, dass es durch die Eskalation innerhalb der Union dann doch nur auf eine Ampel hinauslaufen könnte, wenn die Union dokumentiert, dass ihr Chef nicht mehr der Verhandlungsführer sein soll und man dann in die Opposition rüberwechselt", sagte Korte.
Eine Zusammenarbeit mit der AfD lehnen die anderen im Bundestag vertretenen Parteien ab. Ein Mitte-Links-Bündnis aus SPD, Grünen und Linken hat keine Mehrheit im Bundestag. Als Koalitionsoptionen bleiben eine erneute "Große Koalition" aus SPD und Union sowie dieses Bündnis erweitert entweder um die Grünen oder um die FDP. Da die SPD aber schon vor der Wahl gesagt hat, dass sie nicht weiter mit der Union koalieren möchte, gelten alle drei Optionen als unwahrscheinlich. Und da ein Zweier-Bündnis aus SPD und Union eine eigene Mehrheit hat, ist es auch schwer vorstellbar, dass eine der beiden kleineren Parteien ein Dreier-Bündnis mit SPD und Union eingehen würde. SPD-Generalsekretär Klingbeil machte am 4. Oktober im ZDF noch einmal klar, dass er eine GroKo ablehne. "Da gibt es auch keinen Plan B."
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Dem vorläufigen Endergnis zufolge bleibt die Linke zwar im Bundestag vertreten, ein Dreierbündnis mit SPD und Grünen hat aber keine Mehrheit. Insbesondere die Linken hatten darauf gehofft.
In der Wirtschaft und und in der Finanzwelt dagegen gibt es ein erstes Aufatmen. Ein Mitte-Links-Bündnis galt als Schreckgespenst, ein wirtschaftspolitischer Linksschwenk scheint nun vom Tisch.
Ob ein Bündnis von SPD, Grünen und Linken zustande gekommen wäre, wäre allerdings auch bei einer rechnerischen Mehrheit fraglich gewesen. Die Außen- und Sicherheitspolitik gilt nach wie vor als Bruchlinie. SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz hatte eine Koalition mit der Linkspartei im ersten TV-Triell zwar nicht ausdrücklich abgelehnt, aber für eine von ihm geführte Koalition beispielsweise ein klares Bekenntnis zur NATO gefordert. Die Linke lehnt die NATO sowie Auslandseinsätze der Bundeswehr allerdings grundsätzlich ab.
Auch die Spitzenkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, hatte die Regierungsfähigkeit der Linken aufgrund der Außenpolitik der Linken offen infrage gestelt.
Die Fraktionschefin der Linken im Bundestag, Amira Mohamed Ali, wies im Deutschlandfunk die Vermutung zurück, dass ein Grund für das schlechte Abschneiden der Linken ihre außenpolitischen Positionen und die Ablehnung der NATO gewesen sein könnte. Das Wahlergebnis für ihre Partei bezeichnete sie als "sehr, sehr enttäuschend". Die Aufarbeitung werde sicherlich einige Wochen dauern, sagte sie im Dlf. Die Linke sei mit ihren Positionen nicht durchgedrungen.
Quellen: Ann-Kathrin Büüsker, Stephan Detjen, Frank Capellan, Klaus Remme, Günther Hetzke, Nina Voigt