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Nach der Bundestagswahl
"Der Diskurs muss zivilisierter werden"

Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie fordert eine neue Debattenkultur in Deutschland - sowie mehr Beteiligung an politischen Diskussionen. Demokratie bestehe nicht darin, seinen Frust und sein Ressentiment irgendwo abzuladen und ansonsten Politiker tätig werden zu lassen, sagte er im Dlf.

Claus Leggewie im Gespräch mit Beatrix Novy |
    Der Essener Politikwissenschaftler Claus Leggewie am 25. Februar 2015
    Der Essener Politikwissenschaftler Claus Leggewie hält eine offenere Debattenkultur für sinnvoll. (dpa / picture alliance / Marcel Kusch)
    Der Diskurs ist Leggewie zufolge "verroht" und müsse zahmer und argumentierfreundlicher werden. Außerdem müsse mehr diskutiert werden - besonders im Vorfeld von Wahlen und Abstimmungen. "Die Erörterung der öffentlichen Angelegenheiten muss Kernbestandteil der Demokratie werden". Bevor Mehrheiten - wie etwa nach einer Wahl - Dinge bestimmten, müsse der vorherige Austausch in den Fokus rücken. Er könnte sich sogenannte "Zukunftsräte" vorstellen, die auf kommunaler Ebene zielorientiert und zivilisiert über Lösungen diskutieren.
    Gender-Problem bei der AfD?
    Leggewie kritisierte zudem die Berichterstattung über die AfD. Es werde überproportional über die Partei und ihre Themen gesprochen. Dabei gebe es wichtigere Themen als Flüchtlinge und den Islam, sagte Leggewie. Er kritisierte, dass im TV-Duell zwischen Angela Merkel und Martin Schulz "ununterbrochen AfD-Themen" besprochen wurden. Auch am gestrigen Wahlabend sei vor allem über die AfD gesprochen worden statt über mögliche Koalitionen.
    Über die Wähler der AfD sagte er: Viel mehr Männer als Frauen hätten für die AfD gestimmt und wahrscheinlich "die etwas weniger kluge Hälfte". Denn die AfD spreche einfache Lösungen an, in "vulgärer, simpler, vermeintlich volksnaher Sprache". Das komme bei den Menschen, die wütend über ihr Leben seien, gut an. Es gebe eine höhere Zahl von Männern, die mit dem Leben nicht zurechtkämen und ihre privaten Enttäuschungen aufs große Ganze projizierten, meint Leggewie.

    Das Interview in voller Länge:
    Beatrix Novy: Matthias Lilienthal, Intendant der Münchner Kammerspiele, will nach der Wahl das Programm seines Theaters noch einmal überdenken. Jetzt müssen Dialogangebote her, gerichtet an das besonders für Kulturschaffende rätselhafte Wesen, den AfD-Wähler. "Es hilft nichts anderes, als den Diskurs über die Unzufriedenheit zu suchen", sagt Lilienthal. Das Ziel: die AfD entlarven. Das heißt, der AfD viel Aufmerksamkeit widmen. Dabei kann die über Aufmerksamkeitsdefizit schon bisher nicht klagen. Das wiederum verärgert einen anderen heute befragten Kulturarbeiter, den Fotografen und Künstler Wolfgang Tilmanns. Der hat gesagt: "r hoffe, die Medien würden der AfD in Zukunft die 13 Prozent der Aufmerksamkeit geben, die sie sich geholt habe, und keine Minute mehr." Frage an den Politologen Claus Leggewie: Hat er recht?
    Claus Leggewie: Schwierig, weil wir ja auch gerade darüber reden und lieber über was anderes vielleicht reden würden. Aber er hat völlig recht: Es gibt ein Überangebot an AfD-Themen. Es gab eine Untersuchung zu Beginn des Jahres über die Themen von Talkshows und da war es in ganz überproportionalem Maße Flüchtlinge, Islam und AfD. Und in der Tat ist es nötig, darauf haben wir auch schon häufig hingewiesen, dass ein Themenwechsel jetzt erfolgt. Wir haben wahrlich wichtigere Themen, als Flüchtlinge oder den Islam zu bearbeiten, beziehungsweise die Themen, die hier sozusagen negativ, ex negativo an die Wand gemalt werden, wie zum Beispiel Knappheit von Wohnungen in großen Städten oder verödete Landschaften im Hinterland. Das sind natürlich Themen, mit denen man sich in der Tat beschäftigt, aber nicht nur, indem man einfach wie die SPD "Gerechtigkeit" an die Wände malt, sondern auch operative Schritte aufzeigt, wie man mehr Gerechtigkeit herstellen kann. Herr Tilmanns hat Recht, der Themenwechsel ist absolut erforderlich.
    AfD-Themen: "Eine Art medialer Selbstläufer"
    Novy: Aber auch wieder schwierig, wenn die Leute so günstig reagieren auf Themen wie Flüchtlinge und Sicherheit, Sicherheit, Sicherheit.
    Leggewie: Ich glaube, das ist eine Art medialer Selbstläufer geworden. Ich glaube, dass vor Jahresfrist das die Leute nicht besonders interessiert hat. Wenn Sie mal herumgefragt haben im Bekanntenkreis, haben die meisten mit Flüchtlingen überhaupt nichts zu tun gehabt und hatten das auch nicht als ihr Oberthema angesehen, sondern eher die Themen, die ich gerade angedeutet habe. Aber in der Tat ist dann zum Beispiel in dem Kanzlerduell ununterbrochen das AfD-Thema nach vorne gebracht worden - in der vermeintlich guten Absicht, dass man auf das, was die besorgten Bürger angeblich am meisten bedrückt, auch mal eingeht. Und dann ergibt sich so eine Art mediale Selbstinszenierung der AfD. Auch gestern Abend ist ja überwiegend über die AfD gesprochen worden und ganz wenig über die Art von Koalition, die jetzt ansteht und die eine problemlösungsorientierte Koalition sein muss.
    Novy: Wir müssen weiter bei der AfD bleiben. Sie ist nun mal heute das Thema. Die Urfeministin Alice Schwarzer hat auch ein Thema in dem Zusammenhang entdeckt, nämlich das Geschlecht der Wähler, nämlich der mehrheitlich männlichen Wähler für die AfD. Fast doppelt so häufig wie Frauen haben die Männer AfD gewählt. Also eine Macho-Partei beziehungsweise Machoisierung der Republik, um mit Alice Schwarzer zu reden?
    Leggewie: Ich gebe Frau Schwarzer wann immer ich kann recht. Es gibt ein "Gender Bias", wie wir das im Fach nennen. Das heißt, mehr Männer als Frauen wählen die rechtspopulistischen, rechtsradikalen Parteien. Hier gibt es allerdings leider Angleichungstendenzen. Das hat man schon in Frankreich und in den USA gesehen, wo vor allen Dingen in den USA die Mehrheit der weißen Frauen auch Donald Trump gewählt hat. Aber in der Tat bleibt hier ein Geschlechterunterschied und ich würde sagen, dass bei den Männern dann auch noch die etwas weniger kluge Hälfte überproportional AfD wählt.
    Novy: Warum?
    Leggewie: Die AfD spricht ganz einfache Lösungen an in einer sehr vulgären, scheinbar simplen volksnahen Sprache, und das ist ein Vokabular, was bei Menschen, die großes Ressentiment im Bauch spüren, die eine Wut haben, die Zorn haben, am ehesten ankommt. Da haben Sie in der Tat, wenn es darum geht, wie man in die Zukunft schaut, positive oder negative Zukunftserwartungen für sich oder für den Rest der Welt, da haben Sie in der Tat eine höhere Zahl von Männern, die mit dem Leben nicht zurechtkommen und diese privaten Frustrationen oder ihre persönlichen Enttäuschungen jetzt eine Möglichkeit haben, die auf das große Ganze zu projizieren.
    "Der Diskurs ist stark verroht"
    Novy: Jetzt noch eine Frage zu dem, was man tun kann. In Österreich hat ein Journalist seiner Regierung vorgeschlagen, der Leitung des Bildungsministeriums, doch mal Debattierclubs in allen Schulen einzurichten. Wäre das nicht auch ein Tipp für Deutschland?
    Leggewie: Großartige Idee. Das würde nämlich zu folgender Möglichkeit führen, dass sich der Diskurs, der hier sehr stark verroht ist und der sehr stark in Freund-Feind-Konstellationen sich heute bewegt, dass der etwas zahmer, etwas zivilisierter, etwas argumentierfreundlicher wird. Und insbesondere müssen wir lernen, dass eine Demokratie nicht darin besteht, seinen Frust, seine Wut, sein Ressentiment irgendwo abzuladen, das auch nicht darin besteht, Politiker für sich tätig werden zu lassen und ansonsten politisch sich nicht zu betätigen, sondern dass die Deliberation, wie es dann heißt, die Erörterung der öffentlichen Angelegenheiten ein Kernbestandteil unserer Demokratie ist. Das ist viel zu wenig gepflegt worden. Wir haben immer wieder mit dem Fallbeil der Mehrheit zu tun, sei es mit Wahlen oder mit Volksabstimmungen. Die Periode vorher, in der man sich unterhält über die Dinge, in der man Standpunkte austauscht, in der man vielleicht sogar dazu bewegt wird, seine Meinung zu ändern, das ist etwas, was tatsächlich insbesondere auf der kommunalen Ebene sehr viel stärker eingeführt werden sollte. Wir reden in dem Zusammenhang von Zukunftsräten, die sich konkrete Vorhaben oder Problemlagen oder Herausforderungen zum Beispiel einer Gemeinde, einer Stadt, eines Bezirks in einer Stadt vornehmen und hier tatsächlich zielorientiert und zivilisiert diskutieren.
    Novy: Nach angelsächsischem Vorbild womöglich?
    Leggewie: Ich denke schon, dass das in der angelsächsischen Kultur mal stärker ausgebildet war. Leider merkt man davon in dem Vereinigten Königreich und in den USA im Moment sehr wenig. Da ist im Gegenteil die alte Entspanntheit, der "bipartisan compromise", gewissermaßen die beide Parteien beanspruchende republikanische Kultur, die ist im Grunde genommen sehr stark aufgekündigt worden von rechts außen. Aber in der Tat kommt es aus der angelsächsischen Debattierkultur und davon könnten wir uns ein Stück abschneiden, wenn wir über Streitkultur reden.
    Novy:
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.